Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2005. Endlich passiert was! ruft Heinz Bude in der SZ. Die Dinge treiben auf eine Lösung zu! verkündet Frank Schirrmacher in der FAZ. Die taz findet die Dramatisierung des politischen Lebens überflüssig. Die FR tröstet rot-grüne Wähler: Es gibt ja immer noch die EU. Der Tagesspiegel kritisiert die faulen Intellektuellen für ihre unterlassene Kritik an der Regierung. Außerdem: In der Welt erhebt der irakische Schriftsteller Hussain Al-Mozany schwere Vorwürfe gegen den syrischen Dichter Adonis. Die NZZ staunt über die romanische Kunst unter den Kapetingern.

SZ, 24.05.2005

Der Soziologe Heinz Bude ist total aus dem Häuschen über Schröders machiavellistischen Überraschungscoup. "Dieses eine Mal war die Politik allen Kommentatoren voraus, kraft ihrer Einsicht in die eigene Lage. Es war zu studieren, wie ein Schachzug aus politischer Leidenschaft das gesamte eingespielte Kalkül der Berücksichtigung politischer Interessen aus den Angeln hebt. Nicht der politische Unternehmer, der wie alle anderen nur an sich und seinen Vorteil denkt, sondern der politische Virtuose, der sich an Fortuna misst, war der Sieger des Abends - und zwar ein politischer Virtuose, der an einem noch so unwahrscheinlichen Ausweg aus einer hoffnungslosen Lage mehr interessiert war als an einem Erfolg für seine Partei." Aber auch politisch findet Bude das ganze höchst spannend. "Was also steht zur Entscheidung? Was links und was rechts zu wählen ist, müsste sich einer neuen und nachhaltigen Prüfung unterziehen. Aber was auch immer zur Wahl steht und wie auch immer die Entscheidung am Ende ausgeht, bereits die Vorziehung des Wahltermins wird im Lande einen Knoten lösen und eine Bresche schlagen. Schon dafür wird das Wahlvolk Schröder dankbar sein. Endlich passiert was, endlich wird was aufs Spiel gesetzt, endlich dauert nicht mehr alles."

Andrian Kreye beschreibt am Beispiel New Yorks den amerikanischen Immobilienboom, "der bei den Investoren und Spekulanten inzwischen zu ähnlich hysterischen Zuständen führt, wie die Dotcom-Aktien der neunziger Jahre". Wenn die Blase eines Tages platzt, wird New York davon vermutlich kaum etwas spüren. Dort leben nämlich 1931 Milliardäre. Und "als Millionär gilt in New York längst niemand mehr, der über ein sieben- bis achtstelliges Privatvermögen verfügt. Nein, wer hier noch zum Geldadel zählen will, der muss diese Summe schon pro Jahr verdienen. Die europäische Unsitte des Sozialneides ist den New Yorkern dabei prinzipiell fremd. Die Nähe zu so viel Geld wird keineswegs als Ungerechtigkeit empfunden. Im Gegenteil - je mehr Geld im Umlauf ist, desto eher bekommt man etwas davon ab. Da muss man gar nicht von den Millionen an der Wall Street träumen. In welcher Stadt kann ein Kellner, Portier oder Chauffeur sonst 120 000 Dollar pro Jahr verdienen? Wo sonst auf der Welt gibt es Schuhputzer und Tellerwäscher, die bis zu 60 000 Dollar im Jahr kassieren? Es ist ja auch nicht so, dass New Yorks Superreiche ihr Geld nicht teilen. Das Spendenaufkommen der Stadt wird auf zweistellige Milliardensummen geschätzt."

Weitere Artikel: In einem Interview spricht der Leiter der nächsten Documenta Roger M. Bürgel über die Aufgabe der Kunst, neue Werte für die Gesellschaft zu erarbeiten. Arnd Wesemann berichtet vom zweitägigen Performancemarathon "Gifted Generation" in Berlin mit der "Großmutter der Performance-Kunst" Marina Abramovic. Christina Jostmann resümiert eine Münchner Tagung über Jenseitsvorstellungen der Neuzeit. Der Tübinger Lyriker und Leiter des Studios Literatur und Theater Uwe Kolbe beschreibt uns seinen perfekten Tag. In der Kolumne Zwischenzeit räsoniert Claus Heinrich Meyer über die verdächtige Flut farbigen Bildmaterials aus der Nazizeit. Und in einer Randspalte philosophiert jby über die literarische Anmutung einer Hohlspiegel-Meldung.

Besprochen werden Calixto Bieitos Inszenierung von Verdis "Macbeth" in Frankfurt als "banales B-Movie im Heuschreckenmilieu", Louis Leterroiers Film "Unleashed" mit Jet Li, Morgan Freeman und Bob Hoskins sowie Bücher, darunter "Race" von Vincen Sarich und Frank Mile, in dem die Autoren einen genetischbedingten IQ-Unterschied der Rassen behaupten (Burkhard Müller hat eine höchst lesenswerte Rezension dazu geschrieben), und Anna Hahns DDR-Roman "Dreizehn Sommer" (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 24.05.2005

"Die Dinge treiben auf eine Lösung zu", meint Frank Schirrmacher in seinem Kommentar zu den von Rot-Grün anvisierten Neuwahlen. Schröders Ankündigung setzt einen Nullpunkt, von dem aus Deutschland alles neu und alles besser machen kann. Die Stimmungsdemokratie der Vergangenheit hat ein Ende. "Unsere Lage ist dadurch gekennzeichnet, dass jetzt jeder einzelne Kassensturz machen wird, und zwar an erster Stelle gerade jene kapitalismusfeindlichen bürgerlichen Schichten, die über Jahrzehnte bei guter materieller Grundversorgung ideologisch oder ästhetisch, am Ende wohl nur noch ästhetisch wählten. Der lange Lauf der Wähler zu sich selbst endet jetzt bei ihren eigenen materiellen Interessen. Sie werden bewaffnet mit Papier und Bleistift buchstäblich ausrechnen, welche Regierung sie sich leisten können."

Patrick Bahners ist sich da nicht ganz so sicher. "Kann man das mittragen?", fragt er und erörtert mit Carl Schmitt und Roman Herzog die in seinen Augen zweifelhafte Legitimität und Legalität des Schröderschen Coups. Schließlich aber gibt er auf. "Sicher, sicher, es ist alles ganz legal." Und Michael Hanfeld beschreibt, wie besonders das öffentlich-rechtliche Fernsehen mit der überraschenden Ankündigung zu kämpfen hatte.

Faszinierend an der französischen Debatte zur europäischen Verfassung findet Joseph Hanimann nicht die Sachentscheidung, denn Europa kommt, so oder so. Mit Baudrillard gesagt sei das mögliche Nein nämlich kein Nein zu Europa, sondern ein Protest gegen die herablassende Selbstverständlichkeit der Europapolitiker. Auf der Medienseite sekundiert Jürg Altwegg mit der Beobachtung, wie gehässig die großen französischen Blätter und Sender auf die Neinsager losgehen. Allerdings seien die Franzosen nun auch so informiert wie niemand sonst.

Weitere Artikel: Andreas Rossmann schreibt den Nachruf auf den Architekten Paul Schneider-Esleben, der unter anderem das Mannesmann-Hochhaus in Düsseldorf entworfen hat. "Kurz ist die Lehre, lang der Genuss." Oliver Jungen hält die vermehrte Einrichtung von befristeten Gastprofessuren für notwendig und produktiv. Durch die "Mobilmachung der Propheten" kommt mehr Bewegung in den Universitätsalltag.

Auf der letzten Seite stellt Andreas Rosenfelder eine wahre Jugendbewegung vor. Die Parkour-Anhänger turnen sich durch die Stadtlandschaften. Daniela Gregori berichtet, dass der Leiter des Kunsthistorischen Museums Wien die mittlerweile auch vom Rechnungshof bestätigte Kritik an der Finanzpolitik seines Hauses unbeschadet überstehen wird. Und Joseph Hanimann hat Milan Kunderas neuen Essayband "Le rideau", der im August auf Deutsch erscheinen wird, schon gelesen und für "substanziell" befunden.

Besprochen werden Calixto Bieitos "von gelblichem Höllenfeuer illuminierte" Version von Verdis "Macbeth" an der Oper Frankfurt, Riccardo Chaillys letzter Auftritt mit seinem Orchestra Sinfonica di Milano in der Frankfurter Alten Oper, eine Ausstellung über die Karikatur in der DDR im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig, die Ausstellung "Frauen mit Visionen" mit Fotografien von Bettinas Flitner, eine Schau zur Bodendenkmalpflege im Römisch-Germanischen Museum in Köln, Choreografien von Hans van Manen und Martin Schläpfer in Mainz und ein Buch, nämlich Gernot Wolframs Roman "Samuels Reise".

TAZ, 24.05.2005

Die Neuwahlen sind das Thema in der taz. Auf den Tagesthemenseiten geht es um die Programmsuche der SPD (hier), den Solo-Wahlgang der Grünen (hier), die offenen Inhalte der CDU (hier), Verfassungsfragen (hier) und das Alles-oder-Nichts für die Linke (hier). In tazzwei erklärt Christian Schneider Schröders "Vorwärtsverteidigung" als eine Form der Rationalität, um "alle Mittel zur Sicherung der eigenen Macht und des eigenen Projekts auszuschöpfen".

Im Kulturteil analysiert Ralph Bollmann die Kanzlerstrategie als Überdruss an der Ermattungsstrategie und neuerliche Suche nach der Entscheidung - diese "Dramatisierung der Politik" schaffe sich ihre "Enttäuschungen" freilich selbst. "Kein Kanzler hat in der Geschichte der Bundesrepublik so sehr auf die Niederwerfungsstrategie gesetzt wie Schröder, keiner hat so oft die Entscheidungsschlacht gesucht wie er, keiner hat das politische Leben der Demokratie derart dramatisiert. Wenn von Schröders ablaufender Kanzlerschaft ein Bild in Erinnerung bleibt, dann ist es der Regierungschef vor der grauen Wand im Presseraum des pompösen Kanzleramts, wie er in dramatischen Stunden wagemutige Entscheidungen verkündet."

Dirk Knipphals denkt derweil darüber nach, was sich nach einem Regierungswechsel wohl kulturpolitisch ändern könnte und vermutet, dass dies die mögliche schwarz-gelbe Koalition selber noch nicht weiß. Außerdem beantworten unter anderem Christoph Schlingensief, Friedrich Küppersbusch und Klaus Harpprecht die Frage: Wo waren Sie, als Rot-Grün unterging?

Weiteres: David Denk diagnostiziert auf der Musikmesse Leipzig Pop Up, dass Indie zur Attitüde verkommen ist. Besprochen werden heute ausschließlich Bücher, darunter der neue Roman von Peter Schneider "Skylla", eine Studie zur Qualität deutschsprachiger Literatur von Thomas Kraft und eine Neuauflage von Joel Sternfelds Fotoband-Klassiker "American Prospects". (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

FR, 24.05.2005

Die Neuwahlen sind auch dem dem FR-Feuilleton zwei Einlassungen wert. In einem klugen Essay erklärt Ina Hartwig, warum das nordrhein-westfälische Wahlergebnis "die rot-grüne Mentalität gar nicht so dramatisch in Frage stellt". Schließlich habe Europa "etliche Richtlinien übernommen, die der rot-grünen (resp. links-liberalen) Mentalität entstammen, wie beispielsweise Gleichstellung, Umweltschutz, Antidiskriminierung. Was also auf nationaler und Bundesland-Ebene wegzubrechen scheint, das Vertrauen in ein rot-grünes Projekt, ist zu großen Teilen im neuen Europa aufgegangen. Auch aus diesem Grund kommt kein wirklich dramatisches Sentiment auf, wenn sich im eigenen Land die Mehrheitsverhältnisse verschieben. Ebenfalls konservative Regierungen sind gezwungen, die EU-Richtlinien zu respektieren. Eine CDU-Regierung in Berlin hätte beispielsweise die Antidiskriminierungsvorgaben aus Brüssel genauso in deutsches Gesetz überführen müssen wie eine rot-grüne Regierung, die dafür schwer kritisiert wurde." Hartwigs Folgerung: "So konservativ, wie die Konservativen sich im eigenen Land gerieren, können sie auf europäischer Ebene gar nicht handeln."

Im zweiten Text zum Thema analysiert Harry Nutt den Wähler als "wechselkompetenten Souverän", der Mandate nicht mehr "für lange Zeit" gewähre.

Weiteres: Christian Schlüter berichtet über eine Bielefelder Tagung zum prekären Verhältnis von Urheberschaft und Kunst. Und in der Kolumne Times mager resümiert Markus Göres die Leipziger Musikmesse PopUp.

Besprochen werden eine "routinierte" Inszenierung von Verdis "Macbeth" durch Calixto Bieito und Paolo Carignani in der Oper Frankfurt, Jorinde Dröses Inszenierung von "Effi Briest" am Hamburger Thalia Theater, die Ausstellung "Die neuen Hebräer - 100 Jahre Kunst in Israel" im Berliner Martin-Gropius-Bau, Robert Luketics Generationenkomödie "Das Schwiegermonster" mit Jane Fonda und Jennifer Lopez, die Europapremiere der Choreografie "Connect Transfer" von Shen Weis beim Festival Movimentos in Wolfsburg und Bücher zu einem neuen Trendthema: die religiöse mund sexuelle Repression junger Muslimas (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Tagesspiegel, 24.05.2005

Rüdiger Schaper sieht einen Grund in der Misere der Regierung auch im Schweigen der Intellektuellen. "Kultur in diesem Land ist in erster Linie auf Sicherung und Versorgung aus. Daran haben die rot-grünen Jahre nichts geändert, im Gegenteil. Geradezu beschwörend appellierte Bundespräsident Horst Köhler am Wochenende bei der Eröffnung der Berliner Akademie an die Künstler und Schriftsteller, sie mögen sich doch einmischen, kritisch sein. Das spricht Bände. Man war es bei den Kreativen lange Zeit zufrieden, das rot-grüne Projekt. Bis die Erkenntnis dämmerte, dass Schröder und Fischer weder den Irak-Krieg noch die Globalisierung aufhalten können. Nun stehen sie ganz unten, und die Steine rollen ins Tal."

Welt, 24.05.2005

Der irakische Schriftsteller Hussain Al-Mozany erhebt schwere Vorwürfe gegen den syrischen Dichter Adonis, dem er vor allem seine abschätzigen Bemerkungen über die Iraker übelnimmt - und eine unangenehme Nähe zur syrischen, aber auch saudischen Herrscherclique. "In all seinen Auseinandersetzungen mit den Irakern drückt sich Adonis geschickt um die Tatsache herum, dass eigentlich das alawitisches Baath-Regime neben einer Reihe anderer Nachbarn für die blutigen Anschläge mitverantwortlich ist. Nicht nur die Amerikaner, sondern auch die irakische Regierung beschuldigt Syrien, Selbstmordattentäter in den Irak einzuschleusen. Zahlreiche Attentäter gaben öffentlich zu, dass sie direkt vom syrischen Geheimdienst trainiert wurden, mit dem Ziel, den Irak dermaßen zu destabilisieren, dass die Amerikaner keine Atempause bekämen, um Syrien anzugreifen. Der namhafte Dichter erwähnt die Aktivitäten seines Landes mit keinem Wort, die sektiererische Herrschaft von Baschar el-Assad wird weitgehend geschont."

Reinhard Wengierek schimpft noch einmal über die krasse Fehlentscheidung auf dem Berliner Theatertreffen, Volker Löschs "Weber"-Inszenierung aus Dresden nicht einzuladen. Dass Andrea Breth ihren "Don Carlos" nicht aushäusig spielen wollte, kreidet er indirekt auch den Veranstaltern an: "Doch offenbart dieser Skandal aus Ignoranz wieder einmal, was heftigst abgestritten wird: dass nämlich doch insgeheim ein gewisser Lobbyismus bezüglich sowohl der einzuladenden Theater (was deren Intendanten stärkt) als auch der einzuladenden Regisseure (was deren Marktwert hebt) das Auswahlgremium inspiriert. Deshalb auch die notorische Konzentration auf den nahezu immergleichen Blütenkranz metropolitaner Bühnen zwischen Hamburg, Berlin, München, Zürich, Wien."

Und auf den Forumsseiten verübelt Tobias Dürr Rot-Grün, die Chance verpasst zu haben, eine Regierung der liberalen Mitte zu werden.

NZZ, 24.05.2005

Vielleicht eine Spur zu nüchtern eingerichtet, aber dennoch ganz hervorragend findet Peter Kropmanns eine Ausstellung zur romanischen Kunst unter den Kapetingern im Pariser Louvre. "Zu sehen sind vor allem Kapitelle, Reliefs und Skulpturen, liturgische Geräte und Reliquiare, Buch- und Glasmalerei. Dazu gehören Werke, deren Grad an Archaik und Schwere, Naivität und Schematisierung frappiert, vor allem, wenn man sich dabei den verfeinerten Geschmack, die formale Strenge und die filigrane Eleganz der Gotik in Erinnerung ruft, zu denen sie führen. Der romanische Erfindungsreichtum wird nur von wenigen Grundprinzipien gebremst. Maß bei der Behandlung von Perspektive und Proportion spielt keine Rolle; gestischer Ausdruck wird favorisiert."

Patricia Benecke besucht den scheidenden Intendanten des Londoner Globe Theatre Mark Rylance, der aus der "wackeligen Operation" wieder ein florierendes Unternehmen gemacht hat. Besprochen werden außerdem eine Ausstellung zum Benediktinischen Mönchtum im Kloster St. Gallen, Karin Kerstens Roman "Die Aufgeregten", Christoph Dieckmanns Band "Rückwärts immer" und die Neuedition von Jakob Schaffners Roman "Johannes" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).