Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2005. Im Tagesspiegel kommentiert Viktor Jerofejew den Prozess gegen Michail Chodorkowski als Schlacht um Stalingrad. In der FAZ ruft der Historiker Wolfgang Burgdorf die türkische Regierung auf, den Völkermord an den Armeniern durch eine Historikerkommission untersuchen zu lassen. Die SZ hat Marc Bolan auf DVD wiedergesehen und fragt entsetzt: So sah Glamour aus? Außerdem obwalten in den Feuilletons ein allgemeines Philosophieren über die neuestes "Star Wars"-Episode und ein Zweifel an der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Presse.

Tagesspiegel, 18.05.2005

Viktor Jerofejew (mehr hier) kommentiert die traurige Moskauer Gerichtsfarce gegen Michail Chodorkowski: "Der Gerichtsprozess um unseren Helden ist kein politisches Theater, wie es unsere Intelligenzija glaubt. Es ist die Schlacht um Stalingrad. Keinen Schritt zurück! Man hat uns über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg so verkrümmt, dass jemand, der aufrecht geht, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen, uns wie eine Missgeburt vorkommt, wenn nicht gar wie ein Krimineller. Darin liegt vermutlich die traurige Moral der Geschichte des Michail Chodorkowski."

Zwei Tage bevor sie eröffnet wird, bespricht Peter von Becker die Ausstellung "Die neuen Hebräer- 100 Jahre Kunst in Israel" im Martin Gropius-Bau: "ein pointierter Titel. Tatsächlich geht es, wie schon die Leihgabe der Tempelrolle andeutet, um viel mehr als 100 Jahre. Und um mehr als nur israelische Kunst. Der Bogen dieser mit 700 Exponaten bestückten Schau ist von den kulturellen und religiösen Wurzeln der biblischen Israeliten (oder: Hebräer) in die spannungsvolle Gegenwart geschlagen. Er führt, von Dokumenten und Kunstwerken gleichermaßen grundiert, zur politischen-kulturellen Geschichte der heutigen Israelis und zur Neugeburt des Hebräischen als Schrift und Umgangssprache."

TAZ, 18.05.2005

Jan Distelmeyer hat nachgerechnet: In der "Star Wars"-Saga geht es jetzt schon länger um die Entstehung des Bösen als um seine Niederwerfung: "Wer hätte gedacht, dass es im Krieg der Sterne um Darth Vader geht, dass Lord Helmchen der eigentliche Star ist? Bei aller Kritik, die zu Recht und gerade von Fans an den neuen Episoden I und II geübt worden ist: Das Science-Fiction-Gesamtwerk mit einem dreiteiligen Bildungsroman abzurunden, der die vorgegebene Setzung von Gut und Böse nachhaltig in Frage stellt, gibt 'Star Wars' eine eigene Größe jenseits von Kassenrekorden und Merchandise."

Nina Apin schwärmt vom neuen BMW-Werk in Leipzig, dem die Architektin Zaha Hadid "futuristischen Glamour" verpasst habe. "Das Zentralgebäude des neuen BMW-Werks ist geronnene Coolness, ein elegant-geschwungenes Gebilde aus Sichtbeton, Stahl und Glas. Von außen erinnert der Bau mit der seitwärts geneigten Silhouette an einen Weltraumgleiter. Im Innern fügen sich vielfältige Raumebenen aufs Verblüffendste zu einer harmonisch-fließenden Gesamtheit."

Weiteres: Dirk Knipphals erzählt, wie Großdenker Giorgio Agamben bei seinem Auftritt in Berlin den Diskurs verweigerte. In Cannes hat Cristina Nord zwei Film über Vaterschaft gesehen: "L'enfant" von den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne und "Broken Flowers" von Jim Jarmusch.

Und Tom.

FAZ, 18.05.2005

Der Historiker Wolfgang Burgdorf ruft die türkische Regierung auf, den Völkermord an den Armeniern durch türkische und armenische Historiker gemeinsam untersuchen zu lassen - und offensichtlich gibt es von türkischer Seite einige Ansätze, diesem Aufruf zu folgen: "Die Türkei sollte die Defensive verlassen und die Initiative ergreifen. Sie sollte Armenien und die armenische Diaspora einladen, die Ereignisse von 1915 bis 1917 durch eine gemeinsam berufene Historikerkommission aufzuklären. Ministerpräsident Erdogan hat sich jüngst diesen Vorschlag zu eigen gemacht und dafür prompt das Lob Bundeskanzler Schröders geerntet. Die Kommission solle 'die Vorgänge, die seinerzeit stattgefunden haben, fair aufarbeiten, so wie sie der historischen Wirklichkeit entsprechen'. Langfristig könnte auch eine gemeinsame Schulbuchkommission nach dem Vorbild der polnisch-deutschen und französisch-deutschen Kommissionen angestrebt werden."

Weitere Artikel: Christian Geyer kommentiert die seit einigen Tagen in den Zeitungen zirkulierende Geschichte eines unbekannten Mannes, der sich jüngst am Strand Großbritanniens einfand und der "keinen Laut herausbringt, sich an nichts erinnert, auf ein Stück Papier nur die schwedische Flagge und ein Klavier malte - und Stunden lang Tschaikowsky spielt, auf Weltniveau" (hier ein Foto und der jüngste Stand bei der BBC). Gina Thomas schreibt in der Leitglosse über die zweifelhafte Entscheidung der Queen, sich von einem in Britannien fernsehbekannten Malerparodisten porträtieren zu lassen. Verena Lueken hat in Jim Jarmuschs neuem Film "Broken Flowers" die "trockensten Dialogsätze" des bisherigen Festivals von Cannes gehört. Andreas Eckert gratuliert dem Historiker Christopher Bayly zum Sechzigsten. Alexandra Kemmerer besucht die Historischen Archive der Europäischen Union in Florenz.

Auf der Medienseite kommentiert Matthias Rüb den Rückzug der Geschichte von der Koran-Schändung durch Newsweek. Für Rüb hat das die Glaubwürdigkeit amerikanischer Medien weiter geschwächt. Rainer Hermann berichtet, dass sich arabische Medien von der Frage, ob der Bericht in Newsweek nun echt oder falsch war, nicht in ihrer Meinung beeinflussen lassen. Florentine Fritzen berichtet über neue Auseinandersetzungen zwischen dem monegassischen Fürstenhaus und der Bunten.

Auf der letzten Seite liest Arnold Esch, einstiger Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, das Tagebuch wieder, das er als Neunjähriger in den letzten Kriegstagen schrieb. Christoph Schwägerl verfolgte in Berlin eine Diskussion zwischen Personalmanagern und der Familienministerin Renate Schmidt, die dazu aufrief, auch mal erfahrene Arbeitnehmer und Mütter von Kindern einzustellen. Und Erwin Seitz porträtiert die Sommeliere Romana Echensperger, die im Brandenburger Hof in Berlin ausschließlich deutsche Weine kredenzt.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Italienbildern der Goethe-Zeit in München, Doris Dörries "Madame Butterfly"-Inszenierung in München, Ruedi Häusermanns "Verneigung vor Valentin" im Theater Basel, neue Ballette in Covent Garden, David O. Russells Komödie "I Heart Huckabees", eine Ausstellung mit Beutekunst im Moskauer Puschkin-Museum, ein Auftritt der belgischen Rockgruppe Zita Swoon in Berlin und eine von Anton Henning im "Frankfurter Salon" ausgerichtete neue Sammlungspräsentation des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt.

FR, 18.05.2005

Nur noch mit mildem Spott kann Daniel Kothenschulte die neue "Star Wars"- Episode quittieren, in der Anakin Skywalker nun endlich zum "Phantom der Weltraumoper" wird: "Wie in beiden vorangegangenen Filmen hält sich Lucas dabei an jene Vorlagen aus der Malerei, wie sie sein Seelenverwandter Andrew Lloyd Webber in seinem englischen Landschloss sammelt: Waterhouse und die Präraffaeliten, gesteigert freilich durch die irrwitzige Bonbonfarbigkeit des Amerikaners Maxfied Parrish. Wenn Natalie Portman, deren mädchenhaft-unschuldige Sexyness ohnehin eher in die Zeit des frühen amerikanischen Stummfilms gehört, nach der Geburt ihrer Zwillinge Luke und Leia zu Grabe getragen wird, so im offenen Schneewittchensarg: Eine schönere Ophelia im abendlichen Blumenmeer hat es noch nie gegeben. Ein amerikanischer Kritiker hat für den Look der Star-Wars-Filme bereits den Begriff des 'Barocken Nerdismus' vorgeschlagen."

Weiteres: Christian Schlüter berichtet ehrfurchtsvoll vom Auftritt des Starphilosophen Giorgio Agamben in der Berliner Volksbühne. Hans-Jürgen Linke feiert Danile und Claudio Abbados großartige und noch besser besetzte Inszenierung der "Zauberflöte" in Baden-Baden. In Times mager enttarnt Matthias Dell den neuen Guerilla-Store von Comme des Garcons auf der Berliner Karl-Marx-Allee.

Besprochen werden jede Menge Bücher, darunter Kerstin Hensels Roman "Falscher Hase", Niklas Franks Abrechnung mit seiner Mutter (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 18.05.2005

Martin Walder zieht Zwischenbilanz in Cannes. Was ist geblieben nach der "Star Wars"-Hysterie? Eine "Blutspur der Gewalt, die das Kino so magisch anzieht". Auffällig findet Walder auch, "wie viele Filme an diesem Festival seit dem Eröffnungsfilm von Heimsuchungen erzählen, die einen Einzelnen, eine Familie oder eine Gemeinschaft provozieren, in eine extreme Situation bringen und zu reagieren zwingen. Das klassische Muster des amerikanischen Westerns eigentlich; Schuld und Vergeltung stehen konkret zur Debatte, wo die Verhältnisse längst undurchschaubar geworden sind."

Stefana Sabin freut sich über den von Idith Zertal herausgegebenen Band "Hannah Arendt: Ein halbes Jahrhundert Polemik": "In hebräischer Sprache ist es der erste Band überhaupt über Hannah Arendt, und er behandelt ein Werk, das es in dieser Sprache nicht gibt."

Weitere Artikel: Joachim Güntner beklagt das bevorstehende Ableben der vom Goethe-Institut herausgegebenen Kulturzeitschrift Kafka. Gemeldet wird, dass der diesjährige Förderpreis für junge Dramatik im Rahmen des 42. Berliner Theatertreffens an Oliver Schmaering für dessen Werk "Seefahrerstück" geht. Ferner erfahren wir von Alfred Zimmerlin, dass er auf den 11. Ittinger Pfingstkonzerten "Tonkunst auf höchstem Niveau" genossen habe.

Besprochen wird die dem Werk des baskischen Bildhauers Jorge Oteiza gewidmete Retrospektive "mito y modernidad" im Madrider Centro de Arte Reina Sofia, der erstmals 1939 erschienene Reisebericht "Wüsten, Minarette und Moscheen" der deutschen Journalistin Margret Boveri nebst einer von Heike B. Görtemaker vorlegten Biografie derselben, Arturo Bareas autobiografische Erzählung "Spanientrilogie", Kiran Nagarkars Roman "Ravan & Eddie" sowie die CD "Kif", wobei es sich um "Phantasmen des Haschischessers" Friedrich Glauser handelt, 1937 fürs Radio geschrieben und als ungeschnittenes Studioband überliefert, jetzt von Heike Mundt redigiert und von "czz" als "akustische Preziose" bejubelt (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 18.05.2005

Karl Bruckmaier, der in den Siebzigern jung gewesen sein muss, erlitt einen leichten Schock, als er Marc Bolan auf DVD wiedersah: "Das war Glam? Eine rote Schlaghose und Kettchen um den Hals? Ein Kinder-Tamburin? Hatte das strenge Rock-Lexikon von Barry Graves doch Recht, als es von 'Eisdielen-Bisexualität' schrieb?" Natürlich nicht, aber das müssen Sie selbst lesen.

In Cannes hat Tobias Kniebe sein Herz an Jim Jarmuschs Film "Broken Flowers" verloren. Es geht um einen älteren Mann der von einer anonymen Briefeschreiberin erfährt, dass er wahrscheinlich einen Sohn hat. Nun macht er sich auf, die Frauen zu besuchen, die als Mutter in Frage kommen. Bill Murray, "Schutzheiliger des gepflegten Weltschmerzes", spielt die Hauptrolle. "Dazu kommen dann viele unglaublich lustige, zärtliche, unvergessliche Begegnungen mit den Frauen - Sharon Stone, Jessica Lange, Tilda Swinton, Frances Conroy, Julie Delpy. Falls es für das Genre der Komödie überhaupt eine Gerechtigkeit gibt, haben wir hier die Goldene Palme gesehen."

Weitere Artikel: Andrian Kreye erklärt den Feuilletonisten anlässlich der Newsweek-Debatte die Grundlagen der Recherche. Detlef Esslinger berichtet, wie die reichen Gemeinden um Frankfurt herum gezwungen werden sollen, sich an den Kosten für die auch von ihnen gern genutzten Kultureinrichtungen der Stadt zu beteiligen. Thomas Steinfeld erinnert kurz an das Ende der Union zwischen Schweden und Norwegen vor fast hundert Jahren: die Trennung führte nur deshalb nicht zum Krieg, wie neue Forschungen jetzt belegen, weil die Schweden das damals zu teuer fanden. Sonja Asal hat zugehört, als Daniel Cohn-Bendit und die Sartre-Biografin Annie Cohen-Solal im Münchner Literaturhaus über ihre "Erfahrungen mit Sartre" diskutierten. Gottfried Knapp freut sich, dass dem "wohl bedeutendsten Holzbildhauer der Gegenwart", Rudolf Wachter, im oberschwäbischen Kißlegg ein eigenes Museum eingerichtet wurde. Roswitha Buddeus-Budde fragt sich anlässlich des 50. Geburtstags des Jugendliteraturpreises, welche Funktion dieser Preis heute eigentlich noch hat.

Besprochen werden eine Ausstellung von Jeff Wall im Schaulager Basel, Florian Gallenbergs Film "Schatten der Zeit", ein Konzert mit dem Pianisten Konstantin Lifschitz in München und Bücher, darunter eine Grass-Biografie von Peter Ohrgaard und ein Band mit Essays von Susan Sontag (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).