Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2003. Die SZ befasst sich mit der Sprachlosigkeit des deutschen Pazifismus. Die taz will der Friedensbewegung eine Frischzellenkur verpassen. Die FR interviewt Peter Arnett zum Patriotismus in den amerikanischen Medien. Die NZZ untersucht das kulturelle Klima in Saudi-Arabien. In der Welt erklärt Herfried Münkler, warum die Amerikaner Krieg gegen den Irak führen wollen: wegen Saudi-Arabien.

SZ, 20.01.2003

Mit der Sprachlosigkeit des Pazifismus von Günter Grass bis Martin Walser beschäftigt sich Gustav Seibt gewohnt sprachmächtig. Das Problem dabei sei gerade die Übereinstimmung aller, keinen Krieg zu wollen. "Auch wenn es an diesem Wochenende große Kundgebungen gab: Es ist nicht nötig, gegen Krieg zu demonstrieren, weil die überwältigende Mehrheit schon gegen ihn ist. Deutschland ist, wie Helmut Kohl es mit seiner Europa-Politik projektierte, 'nur noch von Freunden umgeben'. Anders als 1991, beim ersten amerikanischen Golfkrieg, liegt mittlerweile auch der Kalte Krieg lange genug zurück, um jeden habituellen Bellizismus ersterben zu lassen." Seibt denkt in diesem Zusammenhang auch an den Erfolg von Jörg Friedrichs Buch "Der Brand" nach: "Friedrichs Buch hat an die mentalitätsgeschichtliche Quelle des deutschen Mainstream-Pazifismus gerührt: an die Wehrlosigkeitserfahrung gegenüber englischen und amerikanischen Bomberangriffen. Diese haben den westlichen Universalismus hierzulande vielleicht nachhaltiger diskreditiert als bisher bewusst war. "

Weiteres: Lothar Müller berichtet von den Reaktionen auf die Androhung Volker Neumanns, seines Zeichens Geschäftsführer der Frankfurter Buchmesse, nach München umzuziehen. John Malkovich plaudert über Pazifismus, faszinierende Fieslinge und seinen ersten selbstgemachten Film "Der Obrist und die Tänzerin" (heute besprochen). "holi" stellt klar, dass mit Friedrich Christian Flicks "Bedauern" über die Zwangsarbeit im Familienunternehmen die heikle Frage für Berlin noch lange nicht vom Tisch sei. H.G. Pflaum lässt die Verleihung der Bayerischen Filmpreise Revue passieren und bemerkt, dass für erbitterte Kontroversen einfach die Anlässe gefehlt haben. Siggi Weidemann erinnert mit Bewunderung an die Holländer, die nach der großen Watersnood von 1953 ihr Land von Grund auf umkrempelten. Reinhard J. Brembeck ist skeptisch, ob die Münchner Philharmoniker auch ohne Intendanten auskommen, wie das angeblich Kulturreferentin Lydia Hartl und der künftige Chefdirigent Christian Thielemann planen. Sonja Zekri war auf einem Symposium zum geplanten Münchner NS-Dokumentationszentrum und hofft auf eine baldige Tilgung des blinden Flecks der deutschen Erinnerungslandschaft. Susan Vahabzadeh verabschiedet den Schauspieler Richard Crenna. Eine Meldung besagt, dass der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste in Berlin erhält.

Besprochen werden Sebastian Hartmanns Inszenierung von Anton Tschechows Jugendwerk "Platonow" am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Joachim Schlömers Version von Hugo von Hofmannsthals "Elektra" im Kasino des Wiener Burgtheaters, eine Ausstellung über Auguste Macke und die Rheinischen Expressionisten in der Kunsthalle Tübingen, ein Konzertabend der Viva Musica mit einem grandios aufgelegten Michael Gielen in München, und Bücher, darunter Klaus Brieglebs Studie "Missachtung und Tabu" zum Antisemitismus der Gruppe 47, Con Coughlins Porträt von "Saddam Hussein" und Rabah Belamris großer schmaler Algerienroman "Verletzter Blick" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 20.01.2003

Mona Naggar sucht nach den kulturellen Oasen im saudi-arabischen Wüstenreich, das sein Kulturleben ebenso streng reglementiert wie das Leben seiner Frauen. "Umso überraschender ist es, dass in diesem frauenfeindlichen Klima sich trotzdem Frauen in Kunst und Literatur einen Namen gemacht haben, auch über die Grenzen Saudiarabiens hinaus. Eine davon ist die Dichterin Fauzia Abu Khalid. Sie ist 1956 in der Hauptstadt Riad geboren, studierte in ihrer Heimat und in den USA Soziologie und lehrt heute an der Frauenuniversität Ibn Saud. Sie empfindet das Schreiben im Königreich als ständige Herausforderung: 'Das kreative Schreiben benötigt ein Höchstmass an Freiheit. Man muss die Fesseln in sich selber überwinden. Aber es gibt noch weitere, äußere Fesseln. Nicht nur die politische Macht, sondern auch die gesellschaftliche Kontrolle, die mächtiger sein kann als die Politik. Die Menschen wachen eisern über ihre Traditionen.'" Weil die Dichterin keine Eingriffe in ihre Lyrik mag, muss sie ihre Gedichte allerdings außerhalb des Königreiches."

Corinne Holtz hat mit György Ligeti (mehr hier) über seine Musik, seine Arbeit und den neuen Trend zur Oper geplaudert. Dabei erklärt sich Ligeti zum Anhänger der Tradition: "Ich glaube nicht, dass die Musik vom Nullpunkt anfangen, neu erfunden werden muss. Es gibt eine Kontinuität der Geschichte. Ich bin nicht insofern traditionell, dass ich zurück zur funktionalen Tonalität gehen würde. Viele machen das, die ganze amerikanische neotonale Richtung, in Russland auch, überall gibt es diesen neotonalen Kitsch."

Weitere Artikel: Gut steht es nicht um den Deutschen Musikrat, die Schulden sind doppelt so hoch wie angenommen, der neue Generalsekretär vom Insolvenzverwalter fristlos entlassen, das empörte Präsidium zurückgetreten - Joachim Güntner sieht dennoch Hoffnung in all dem Chaos, immerhin der Bestand gesichert. Micha Brumlik erinnert zum hundertsten Geburtstag an den jüdischen gelehrten Yeshayahu Leibowitz.

Besprochen werden die neue Gesamtaufnahme zu György Ligeti, Phillip Noyce Film "Rabbit-Proof Fence" über das Schicksal dreier australischer Aborigines-Mädchen, "Peer Gynt" als Ballett von Richard Wherlock in Basel sowie ein Konzert des London Philharmonic Orchestra mit Nello Santi in Zürich.

FR, 20.01.2003

Aufschlussreich, das Gespräch mit CNN-Starreporter Peter Arnett (noch ein Interview) über den Patriotismus der US-Medien, Krieg als Geschäft und die Frage, ob man nicht Saudi-Arabien auch angreifen müsse. "Sie denken zu logisch. Wir haben das doch alles berichtet. Was sollen wir denn noch tun: Eine beschissene Flagge vor das Weiße Haus schleppen? Die Medien haben keine Gewehre. Wir haben Stifte und Kameras - das war's. Alles was wir tun können, ist Informationen zu verbreiten. Aber wenn es die Leute nicht interessiert, ist das Pech. So funktioniert Demokratie."

Ein kleines "Kinowunder" nennt Rüdiger Suchsland Anne Wilds Debütfilm, der jetzt mit dem Max-Ophüls-Preis für Nachwuchsregisseure ausgezeichnet wurde und den ahnungsvollen Titel "Mein erstes Wunder" trägt. Suchskland lobt die ruhige, sensible Art zu erzählen, in dichter Atmosphäre, ohne verquast und verkopft zu wirken. Hier geht es um das eigentliche Kino, schwärmt Suchsland: "Um Tagtraum und ein bisschen Weltflucht, Parallelwelten, darum, gegen alle Zwänge des Lebens an seinen Träumen festzuhalten. Ein hervorragender Film mit einfachsten Mitteln."

Weiteres: Dirk Fuhrig berichtet von den Plänen Nike Wagners für das Weimarer Kunstfest (hier die Website von 2002), das im nächsten Jahr auf jeden Fall schon einmal anders heißen soll: "Pelerinages". Marc Bovenschulte bricht eine Lanze für die vielgescholtene Copy- und Paste-Mentalität der Gegenwart, berge doch das Erstellen zusammengeflickter Texte aus diversen Internetquellen ungeahntes Evolutionspotenzial. H.K.J. schreibt zum Tode des international renommierten Musikwissenschaftlers Georg Knepler, der das Fach in der DDR maßgeblich mitbestimmte. Frohe Botschaft am Schluss: Helmut Newton will sein Archiv nun doch nach Berlin geben.

Besprochen wird Sebastian Hartmanns Inszenierung von Anton Tschechows "Platonow" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und Bücher, etwa Birgit Rommelspachers Plädoyer für einen kritischen Multikulturalismus und Jan Stages Reportagensammlung über die "Niemandsländer".

TAZ, 20.01.2003

Die Friedensbewegung ist am Ende, konstatiert Robert Misik, rollt die Geschichte ihrers Niedergangs noch einmal auf und versucht schließlich, den Patienten mit einer Frischzellenkur wiederzubeleben. Es gehe darum, einen modernisierten Pazifismus, oder, "wie das der Berliner Politikwissenschaftler Michael Wachholz nannte, das Programm eines 'bedingten Pazifismus' zu entwerfen. Dessen Ziel müsste es sein, die militärische zugunsten einer polizeilichen Rationalität zurückzudrängen. Nur muss schon anerkannt werden, dass es Situationen geben kann, in denen die Beendigung einer menschlichen Tragödie bloß mit Gewalteinsatz möglich ist."

Der ivoirische Schriftsteller Ahmadou Kourouma (zur Person, und noch ein Interview) spricht auf der Tagesthemenseite über den für ihn unerwarteten Krieg an der Elfenbeinküste und den Rassismus seiner Landsleute. "Was sehr viel Hass geschaffen hat, ist das Gerede von der 'Ivoirite', von Ivoirern, die angeblich nicht 'pur' seien." Und warum er auf Französisch schreibt: "Bücher auf Französisch haben mehr Einfluss. In meiner Sprache gibt es kaum Verlage. Und nur sehr wenige Leser. Alle lernen Französisch. Und ich habe nicht gelernt, in meiner Sprache zu schreiben. In der Schule hat man mich gezwungen, Französisch zu schreiben. Aber ich schreibe mit allen Afrikanern. Ich mache ihre Probleme zu meinen Themen. Schreibe das, was sie denken. Und sie sollen es auch lesen. Das Problem: Bücher sind sehr teuer."

Zudem ist Dirk Knipphals ganz begeistert vom öffentlichen Bekenntnis des gepiercten Handballers Stefan Kretzschmar, ein Spießer zu sein.

Auf der Medienseite freut sich Rainer Braun, dass der Zusammenschluss von ORB und SFB zum Rundfunk Berlin-Brandenburg nun endlich in die Gänge gekommen sei.

Eine einsame Besprechung widmet sich Klaus Brieglebs Studie "Missachtung und Tabu" über den Antisemitismus in der Gruppe 47.

Und schließlich Tom.

FAZ, 20.01.2003

Jürgen Kaube nimmt die Schulpolitik des niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel (www.sigmar.de) unter die Lupe und findet vor allem seine Förderstufe in der fünften und sechsten Klasse "völlig unsinnig". Heinrich Wefing meldet, dass Ann Godoff, die Verlegerin der Random House Trade Group, die für die anspruchsvolleren Bücher in den USA zuständig war, vom Chef des Hauses, Peter Olson, wegen mangelnder Rendite ihrer Abteilung gefeuert wurde (und die Literaturabteilung des Verlags wird jetzt mit der Schmonzettenabteilung fusioniert, hier der Artikel der New York Times zum Thema, hier die Washington Post). Tilman Spreckelsen resümiert das 24. Saarbrücker Max-Ophüls-Festival. Heinrich Wefing schildert die Atmosphäre bei einer Demonstration von Kriegsgegnern in San Francisco. Walter Haubrich meldet, dass die deutsche Görres-Bibliothek in Madrid, welche vor 75 von der Görres-Gesellschaft gegründet wurde, nun in den Besitz der Theologischen Fakultät des Erzbistums Madrid übergegangen sei.

Auf der letzten Seite schildert Georg Imdahl, wie in New York (und dem Rest der USA) das gesellschaftliche Engagement von Angestellten durch ihre Firmen unterstützt wird. Edo Reents meldet den Fund einer Single, die Mick Jagger 1974 zusammen mit John Lennon als Produzenten aufnahm, aber nie veröffentlichte (hier die BBC zum Thema). Jürg Altwegg porträtiert den französischen Autor Max Gallo, der mit Bestsellern über Napoleon und andere Größen der französischen Geschichte sein Leben fristet. Auf der Medienseite schildert Kerstin Holm, wie die russische Intelligenz ins Fernsehen einzieht und offensichtlich recht erfolgreiche Talkshows moderiert. Heike Hupertz erzählt, wie sich die amerikanischen Sender auf den Krieg vorbereiten. Und Daniel Deckers macht uns mit der Krise der Kirchenblätter vertraut.

Besprochen werden Rossinis "Il viaggio a Reims", inszeniert von Dario Fo in Helsinki, Tschechows "Platonow" im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, eine Ausstellung des Malers Roman Opalka im Altenburger Lindenau-Museum, John Malkovichs Regiedebüt "Der Obrist und die Tänzerin" (mehr hier), "Peer Gynt" als Ballett in Basel und einige Sachbücher, darunter ein "Lexikon der untergegangenen Sprachen" und ein prächtiger Bildband über die "Architektur der Nacht".

Und da nicht alle die FAZ am Sonntag lesen, sei hier auf das Gespräch hingewiesen, das Nils Minkmar und Volker Weidermann mit Judith Hermann führten, auf deren zweites Buch wir seit vier Jahren warten. Sie erzählt, was sie in der Zeit so getrieben hat: "Ich war bis Herbst 1999 auf Lesereise, und dann hab' ich damit von einem Tag auf den anderen aufgehört, weil ich völlig erledigt war. Ich bin in ein Aufenthaltsstipendium nach Süddeutschland gegangen, habe versucht, das zweite Buch anzufangen, und nach zwei Wochen festgestellt, dass ich schwanger bin. Daraufhin hab' ich das Stipendium abgebrochen und bin zurückgegangen nach Berlin. Da habe ich aufgehört zu rauchen und demzufolge auch aufgehört zu schreiben. Im Sommer 2000 kam mein Kind auf die Welt, das habe ich sieben Monate gestillt und im März 2001 wieder angefangen zu schreiben. Im Oktober 2002 habe ich abgegeben." Wie's halt so zugeht im Leben einer Schriftstellerin.

In der Frankfurter Sonntagszeitung wurde außerdem ein weiteres Mal vielstimmig betont, wie ungeheuer unsinnig ein Umzug der Frankfurter Buchmesse nach München wäre.

Weitere Medien, 20.01.2003

In der Welt finden wir eine Meldung zu den deutsch-französischen Beziehungen, die pünktlich zum 40. Jahrestag des Elysee-Vertrags wirklich niemanden mehr interessieren (zumindest nicht in unseren Feuilletons). Einer sagt's: Andre Glucksmann.

Außerdem heute in der Welt: ein sehr interessantes Gespräch mit dem Politilogen Herfried Münkler, der glaubt, dass es den USA mit dem Krieg gegen Irak auch darum geht, "nicht mehr so sehr auf Saudi-Arabien angewiesen zu sein. Es ist ein sehr unsicherer Kandidat, ein Land mit einer heißen Gesellschaft, das heißt: 50 Prozent der Bevölkerung sind unter 18 Jahren. Bislang konnte die Stabilität gesichert werden, indem die jungen Leute in den aufgeblähten Staatsapparat integriert wurden, aber viele sind auch als freiwillige Kämpfer nach Afghanistan gegangen und haben sich dort Osama bin Laden angeschlossen. All das wird nicht mehr lange funktionieren, die saudi-arabische Gesellschaft wird die nächsten zehn Jahre in dieser Form kaum überstehen. Daher ist eine Weltmacht, die in dieser Region nicht ständig mit größtem Militäraufgebot präsent sein will, sondern robuste Partner mit ähnlichen Interessen braucht, schlecht beraten, wenn sie ausschließlich auf Saudi-Arabien setzen würde."