Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2002. In der FAZ plädiert Hans Magnus Enzensberger für Bücher a la carte. Die FR entdeckt einen Generationenkonflikt. In der taz diagnostiziert Kurt Vonnegut die Kriegsleidenschaft der Amerikaner als Sucht. Die NZZ hört das Eis zwischen Japan und Südkorea brechen. In der SZ bewundert Ulrich Beck die Globalisierung der Globalisierungsgegner.

FAZ, 09.11.2002

Hans Magnus Enzensberger (mehr hier) hat nachgedacht und erkannt, wie man der Krise der Buchbranche abhelfen könne: Sie müsse sich einfach ein Vorbild an der Gastronomie nehmen. "Der Vergleich mag platonischen Gemütern missfallen, aber er lässt sich durchaus handfest, nämlich betriebswirtschaftlich, begründen. Vielleicht lässt er sogar ein paar vernünftige Schlüsse zu. Wie im Fall der Gastronomie haben es die literarischen Verleger mit einem gespaltenen Markt zu tun, nur dass sie diese Tatsache ignoriert haben, statt, wie die Wirte, mutig damit umzugehen. Die Buchproduktion ist, soweit ich sehen kann, die einzige Branche, bei der - um im Bild zu bleiben - ein Hamburger genauso viel kostet wie ein Tournedos und eine Portion Pommes frites soviel wie eine getrüffelte Pastete." Wir warten gespannt auf die neue Preisgestaltung der Anderen Bibliothek. (Die Autoren auch!)

Jürgen Kaube kommentiert einen Aufsatz Richard Rortys (homepage), der im neuen Merkur-Heft abgedruckt ist. Rorty beklagt darin den mangelnden Internationalismus der Bush-Regierung und wünscht sich "zur internationalen Durchsetzung normativ wünschbarer Zustände" eine internationale Polizeitruppe, einen 'weltweiten Kreuzzug für Gerechtigkeit und Freiheit" und zu diesem Zweck eine 'Weltregierung' mit Joschka Fischer an der Spitze. Doch neu ist für Kaube an der amerikanischen Außenpolitik nicht, "ein Rückzug aus der Weltpolitik, sondern, dass sie sich implizit von dem Mythos verabschiedet, die Vereinigten Staaten stünden allen Weltbewohnern als Modell einer besseren Gesellschaft vor Augen".

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier schreibt den Nachruf auf den "Jahrhundertregisseur" Rudolf Noelte ("Seine Spiele waren alle Endspiele. Das Licht immer von links, die Tragödie aber von rechts.") Siegfried Stadler freut sich über die Wiedereröffnung der Galerie Alte Meister in Dresden nach der Flut. Andreas Rosenfelder hat zugehört, als Thomas Gottschalk vor Geisteswissenschaftlern in der Heinrich-Heine-Universität aus Dieter Bohlens neuem Buch vorlas. Auf der Medienseite beschreibt Ingolf Kern Rudolf Augsteins Journalisten-WG in Hannover.

Besprochen werden der Film "Spurwechsel" mit Ben Affleck und Samuel L. Jackson, Bohuslav Martinus "Julietta" im Pariser Palais Garnier, auf der Schallplatten- und Phonoseite CDs mit Musik von Johnny Cash, Leonardo Leo, Hans Pfitzner und Rosenstolz. und Bücher, darunter drei Bände über chinesische Literatur (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Was von Bilder und Zeiten übrig blieb: Eleonore Bünig ging - im Kielwasser der Krise - auf Fahrt zu sieben deutschen Stadtteatern, die den "Fliegenden Holländer" inszenierten. Gefallen hat ihr vor allem eine Aufführung: "Mindens Senta war die einzige der sieben, die sich nicht erdolchte, umfiel, aufwendig von der Bühnenmaschinerie zerquetscht wurde, sitzen blieb oder aber die Bühne gutbürgerlich zu Fuß verließ - sondern schlicht Wagners Anweisung beherzigte."

Dietmar Dath porträtiert den Mathematiker Rene Thom (mehr hier und hier). Und in der Frankfurter Anthologie stellt Jürgen Busche ein Gedicht von Peter Huchel vor: "Späte Zeit"

"Still das Laub am Baum verklagt,
Einsam frieren Moos und Grund.
Über allen Jägern jagt
Hoch im Wind ein fremder Hund ..."

FR, 09.11.2002

In der FR ruft Peter Michalzik den Generationenkonflikt aus: Jetzt, da die Wirtschaft schwächelt, die Rente unsicherer ist denn je, jetzt erst werde vielen richtig bewusst, schreibt er, dass sie weniger haben werden als ihre Väter. Und "die Krise und die zu ihr gehörende Knappheit an Arbeitsplätzen macht unübersehbar, dass die Väter (oder Großväter) trotz großartiger Vorruhestandsangebote keinesfalls daran denken, jetzt endgültig die Söhne ranzulassen. Im Moment wird das noch kaum als gesellschaftlicher Konflikt ausgetragen. Dabei ist die Zeit dafür längst überfällig." (Dieser Konflikt erledigt sich garantiert von selbst)

Weitere Artikel: Karl Grobe berichtet ausgiebig von der deutsch-russischen Städtepartnerschaftskonferenz in Suhl, schließlich geht es "um die kulturelle Zusammenarbeit der beiden größten Völker Europas". Klaus Dermutz schreibt zum Tod des Theaterregisseurs Rudolf Noelte, ausführlich und versiert. Dazu gibt es einen Interviewschnipsel, in dem Botho Strauß über Noelte spricht. Ein Porträt widmet Marc Hairapetian dem 1984 verstorbenen Schauspieler Oskar Werner (mehr hier), der unter Ophüls und Truffaut gearbeitet hat und heute 80 Jahre alt geworden wäre. Ulrich Holbein erzählt in einer neuen Folge seiner Literaturszenen von seinem Kindheitstrauma namens Kurt Seelmann, welcher ihm den Glauben an die Liebe nahm. Sacha Verna gratuliert dem amerikanischen Schriftstellerpessimisten Kurt Vonnegut zum Achtzigsten, der bei seinen Kritikern als Apokalypsen-August verschrien ist. "elb" hat zum Tode des Berliner Malers Michel Majerus einen vorläufigen Nachruf verfasst, der ausführliche soll später folgen. Renee Zucker meditiert in der Zimt-Kolumne über die neue Bescheidenheit und geilen Geiz.

Auf der Medienseite wird kurz gemeldet, dass Thomas Bellut - bisher Chef der Innenpolitikressorts - zum Programmdirektor des ZDF gewählt worden ist .

Bespochen werden Urs Eggers geheimnisloser Film "Epsteins Nacht" und viele, viele Bücher, darunter das Design Lexikon USA, Victor Hugos Revolutionsjournal von 1848 und ein zweisprachiger Gedichtband des polnischen Schriftstellers Mariusz Grzebalski (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Das Magazin ist heute sinnigerweise den neuen Bundesländern gewidmet. Die selbsternannte Parade-Ossi Nina Hagen (ihre Homepage) plaudert ostalgisch über den Spaß damals: "Der ganze Tag war voll von Romantik. Natürlich wurde immer irgendjemand festgenommen oder ein Republikflüchtiger in den Knast gesperrt und meine Freundin Rita hat es auch nicht geschafft mit dem blöden LKW und ist dann dreieinhalb Jahre in Bautzen gesessen. Solche Sachen sind ständig passiert, aber trotzdem haben wir eine wahnsinnig tolle Zeit da gehabt."

Positives braucht das Land, dachte sich die FR und präsentiert eine Top Ten derjenigen aus der ehemaligen DDR, die es geschafft haben: Ja, Michael Ballack ist auch dabei. Rammstein sowieso. Außerdem: Susanne Leinemann denkt an die vergessenen Generation der heute 30-Jährigen, die damals die Wende herbeigeführt haben. Florian Hassel war unterwegs im einstmals öden chinesisch-russischen Grenzgebiet, dass sich zum Wirtschaftswunderland gemausert hat (dazu eine kurze Geschichte der Region). Andrea C. Hoffmann war bei den Zauberern von Catemaco, die auch Eheprobleme zuverlässig beheben. Und Fritz Eckenga serviert uns schließlich ein Gedicht zur hoffnungslosen Lage dieses unseres Landes.

TAZ, 09.11.2002

Es ist in etwa so wie die Sucht nach Alkohol oder nach dem Glücksspiel, bloß tödlicher. In den USA wimmelt es vor Menschen, die süchtig sind nach Kriegsvorbereitungen, beklagt sich der amerikanische Schriftsteller und Jubilar Kurt Vonnegut (mehr hier und hier), aber auf sehr amüsante Art und Weise. "Erzählen Sie so einem nur mal, dass Krieg droht und wir gerüstet sein müssen, und schon ist er lange Minuten glücklich wie ein Säufer nach dem Martini-Frühstück oder ein Spieler, der sein ganzes Gehalt auf den Sieger beim Super Bowl setzt. Wir müssen sehen lernen, wie krank diese Menschen sind. Und schnell reagieren, wenn ein politischer Führer oder nur ein Nachbar von einem neuen Waffensystem schwärmt, das gerade mal 29 Milliarden Dollar kostet."

Auf der Tagesthemenseite spricht der Attac-Aktivist Emiliano Brancaccio über die Gefahr, dass sich die Globalisierungsgegner in konkurrierende Gruppen aufspalten.

Besprochen werden der australische Spielfilm "Lantana" von Ray Lawrence, eine Ausstellung mit Fotografien Thomas Demands (mehr hier, Bilder hier), im Münchner Lenbachhaus und Bücher, die Vorlesungen des Kulturwissenschaftlers Friedrich Kittler und der erste Band der ausgewählten Schriften der Filmkritikerin Frieda Grafe.

Für das Magazin ist diesmal Kolja Mensing allein verantwortlich. Angesichts von Weihnachten verspürt er einen Drang nach Hause zu fahren, in die Provinz, und besucht die Orte seiner Jugend, die Neubausiedlung, die Bushaltestelle, das Kreativlädchen, die Fußgängerzone oder die Disko "Galaxy", die ihn wohl entscheidend geprägt hat.

Und schließlich TOM.

NZZ, 09.11.2002

Hoo Nam Seelmann vernimmt deutliche Signale dafür, dass das Eis zwischen Japan und Südkorea zu brechen beginnt. " Seelmann führt dies nicht allein auf die gemeinsam ausgetragene WM zurück, sondern auch durch die Öffnung des koreanisches Marktes für japanische Kulturprodukte seit 1998. "Bis dahin galt der allgemeine Bann, von dem nur wenige Ausnahmen im Bereich der sogenannten hohen Kunst zugelassen waren. Man konnte also bis 1998 in den koreanischen Massenmedien wie Radio oder Fernsehen weder einen japanischen Film sehen noch einen japanischen Schlager hören."

Der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder spricht mit Irene Binal über die Suche nach dem Sinn, den Werteverfall und das fehlende Engagement seiner Kollegen. "gü." betrachtet die Wirren bei Random House Deutschland, das seit Monaten Manager heuert und feuert. Nur vermeldet wird der Tod des Regisseurs Rudolf Noelte.

Besprochen werden eine Aufführung von Bohuslav Martins "Juliette" in der Pariser Oper, eine Ausstellung im Kunstmueseum Winterthur mit Radierungen von Muirhead Bone.

"Woran bemisst sich literarischer Erfolg?", fragt Wilhelm Genazino, dessen Vortrag an der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung die NZZ in ihrer Beilage Literatur und Kunst nachdruckt. Am Absatz der Bücher? An den guten Kritiken? Für unverdient erfolglos, meint Genazino, halten wir sonderbarerweise immer den Romancier. Musil, Sveso, etc. "Von einem Dramatiker oder einem Lyriker, ganz zu schweigen von einer Dramatikerin oder einer Lyrikerin, denken wir der Einfachheit halber das Scheitern der Anerkennung gleich mit."

Des weiteren erinnert Andreas Bürgi an Franz Ludwig Pfyffer von Wyher und seine Pioniertat, das "Relief der Urschweiz", das erste Großrelief überhaupt, und laut Bürgi ein originärer Beiträg der Schweiz zu den exakten Wissenschaften. Margrit Wyder erzählt vom kurzen Leben eines Schweizer Freiheitsdenkmals.

Außerdem werden jede Menge Bücher besprochen, darunter neue Übersetzungen, Essays und Handbücher zu Shakespeare, Gedichte von George Herbert (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 09.11.2002

Randvoll, die SZ heute, wo fängt man an? Im Zweifel beim Chefredakteur. Hans Werner Kilz erinnert sich an seine Zeit beim Spiegel unter dem Patriarchen Rudolf Augstein: "Er regierte mit Hausmitteilungen und Aktennotizen, meist nur ein paar Zeilen. Sie kamen, so lange er lesen und diktieren konnte, sehr oft, verteilten Lob und Tadel. Die Briefe blieben ohne Anrede, das hausübliche Ritual. Bei 'Lieber Werner' war schon Vorsicht geboten, 'Werte Herren' kam einer Abmahnung gleich." Augstein hatte offensichtlich aber auch seine großzügigen Momente. "Wer selbstbewusst und humorvoll reagierte, hatte bei ihm gewonnen. Für eine gelungene Pointe (oder Geschichte) gab der Journalist Augstein alles, notfalls auch mehr Geld." Man kann nur hoffen, dass Kilz sich das zu Herzen genommen hat.

Das Paradox, dass Globalisierungsgegner selbst eine der globalisiertesten Gruppen überhaupt darstellen, beschäftigt den Autor Ulrich Beck (mehr hier) in seinem Artikel zum gegenwärtigen Sozialforum in Florenz: "Anarchisten, Gewerkschaftler, Neonationale, Umweltschützer, Arbeitslose, Fremdenunterkünfteanzünder, Kleinunternehmer, Lehrer, Priester, katholische Bischöfe, den Papst, Kommunisten, Faschisten, Feministen, Ultraorthodoxe und islamische Fundamentalisten. Sie alle verfahren allerdings nach dem Motto: Globalisierung muss bekämpft werden mit - Globalisierung!"

Weitere Artikel: Mit einem weiteren, und zwar dem Schlussstrich-Paradox, setzt sich Salomon Korn anlässlich der Wannsee-Konferenz vor sechzig Jahren auseinander. Jeder Versuch, die Diskussion um Deutschlands Schuld zu beenden, lässt sie wieder aufleben. Joachim Kaiser schreibt zum Tod des Theaterregisseurs Rudolf Noelte, dem schwierigen Titan des Theaters. Peter Luthersson porträtiert in der Reihe Neue Führer den ehemaligen Vorstand der Sparkasse von Opplunda und heutigen schwedischen Ministerpräsidenten Göran PerssonKaspar Kremer, Präsident des Bundes deutscher Architekten, nennt im letzten Artikel der Reihe über die Zukunft der Architektur deren eigentliche Aufgabe: die Menschen zu beglücken. Thomas Thiemeyer stellt ein Projekt der TU-Darmstadt vor, die ab morgen Informationen von rund 2000 nach 1933 zerstörten Synagogen ins Internet stellt, darunter 14 dreidimensionale Rekonstruktionen. Ijoma Mangold weist auf die Verwandschaft von Wetter und Politik hin. "tth" hat einen Aufsatz von Walter Grasskamp, seines Zeichens Professor an der Akadamie der Bildenden Künste in München, gelesen, in dem dieser die deutsche Wirtschaft für ihren Kunstsinn lobt. Gemeldet wird noch, dass FPÖ-Kritikerin Gertraut Knoll mit dem Preis "Das unerschrockene Wort" ausgezeichnet wurde.

Auf der Medienseite untersucht Willi Winkler, wie die Medien auf den Tod Rudolf Augsteins reagierten, Günther Rohrbach ärgert sich über das "unsinnige Taktieren" der Politiker beim ZDF.

Besprochen werden eine Ausstellung im Pariser Centre Pompidou über die Zusammenhänge von Pop, Techno und Kunst, Urs Eggers wenig subtiler Film "Epsteins Nacht", Chantal Akermans Proust-Verfilmung "Die Gefangene", sowie Bücher, darunter Eva Königs bilderreicher Katalog zur Ausstellung "Indianer 1858-1928" im Hamburger Völkerkundemuseum und Anita Albus' Bildband zu Paradiesdarstellungen aus fünf Jahrhunderten (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende lesen wir Willi Winklers böse Vorahnungen beim Anblick der Kukident-Generation. "Wie das Böse ist der Rentner immer und überall: Überall kann er sich einmischen, überall dazwischennerven, überall dabei sein, und immer wird er ungeschoren davon kommen. Gerade ist die SPD, was sollte man von denen anderes erwarten, wieder einmal in die Knie gebrochen vor den zwölf Millionen Rentnern. Die Beiträge werden erneut erhöht, damit bei den nächsten Landtagswahlen nicht doch die anderen gewinnen. Sollen die Jungen erst mal zahlen, dann sehen wir schon weiter. Und wie wir sehen werden!"

Außerdem: Wolf Lepenies schaudert bei dem Gedanken, dass Lothar Matthäus Bundeskanzler werden könnte, in Amerika wäre ist so etwas gang und gäbe. Helmut Schödel stellt das "Orient" in Wien vor, ein Stundenhotel mit Tradition. Rebecca Casati analysiert noch einmal die schauspielerischen Leistungen von Winona Ryder während ihrers Ladendiebstahlprozesses. Jonathan Safran Foer versucht in seiner Kurzgeschichte zu verstehen, warum Menschen, die miteinander sprechen, sich so oft nicht verstehen.