Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.05.2001.

SZ, 21.05.2001

Kurt Oesterle schreibt den Nachruf auf Hans Mayer: "Sein 94. Geburtstag im März war ein verdeckter Abschied. Keine Bitterkeit, keine Trauer wurde laut. Das Sektglas in der Hand, sagte Hans Mayer mit ernster Stimme, was ihm wichtig war: 'Ich bin der letzte Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft.' Und mit einem Lächeln: 'Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Brecht."

Andreas Zielcke kommentiert die unterschiedlichen Positionen, die Bundespräsident Rau (kürzlich in seiner Berliner Rede) und Bundeskanzler Gerhard Schröder (heute im Spiegel-Interview) zur Biotechnologie einnehmen. Während Schröder "die Notwendigkeit der 'Biotechnologie' betont; 'ohne sie werden wir kaum den Wohlstand sichern, den unsere Kinder und Enkel vielleicht auch gern haben möchten'", warne Rau genau vor dieser utilitaristischen Logik. Zielcke wirft sich angenehmerweise nicht mit seiner Moral in die Debatte, sondern stellt einfach ein paar Fragen: "Kann man sich dabei durch Volksparteien, die keine Profilierung an derart substantiellen Unterschieden zulassen, vertreten lassen? Kann einen überhaupt jemand bei Fragen, wo es ums Ureigene geht, repräsentieren? Oder kann ausgerechnet hier die unmittelbare Demokratie, der Volksentscheid weiterführen ? dem man schon bei anderen dramatischen historischen Fragen wie der deutschen Einigung oder der Einführung des Euro nicht traute?"

Weitere Artikel: Tobias Kniebe bespricht die letzten Filme von Shohei Imamura, Hou Hsiao Hsien und Brian de Palma in Cannes, und Susan Vahabzadeh stellt Andreas Veiels Dokumentarfilm über Alfred Herrhausen und Wolfgang Grams, "Black Box BRD", vor: "Vor allem zu Beginn spürt man, wie unterschiedlich Veiel sich den beiden nähert: Herrhausen von außen, über die öffentliche Person, Grams dagegen mit einer Innenansicht". Doch während Herrhausen " in den Erinnerungen seiner Frau, in den zusammengetragenen Filmausschnitten immer differenzierter" werde, entziehe sich Grams "immer mehr der Bestimmbarkeit. Die Eltern haben sich, das merkt man ihren Rechtfertigungsversuchen an, viel Mühe gegeben, die Brüche in der Biografie ihres Sohnes zu verstehen, schaffen es dennoch nicht; über die isolierte Zeit im Untergrund wissen sie wenig. Und auch den Freunden, mit denen Veiel gesprochen hat, kommt mit der Zeit mehr und mehr das Verständnis abhanden."

Besprochen werden weiter eine "Woyzeck"-Aufführung in der Inszenierung von Johann Kresnik in Hannover, Klaus Michael Grübers Inszenierung von "Roberto Zucco" am Wiener Akademietheater, Aufführungen von Werken Luigi Nonos an der Stuttgarter Staatsoper und eine Thomas Rowlandson-Ausstellung im Wilhelm-Busch-Museum Hannover. Peter Richter schließlich macht ein paar spitze Anmerkungen zur Rammstein-Tournee: "Der Sänger von Feeling B ist vor kurzem in einem Bauwagen verreckt. Seine ehemaligen Kollegen machen jetzt gegen viel Geld viel theatralischen Lärm vor einem Publikum, das dazu schüttere Haare und Dauerwellen schüttelt. Zu alt für Tote Hosen und Böhse Onkelz, zu jung für Wolfgang Petry. Das ist die Liga, in der Rammstein nun spielen".

FR, 21.05.2001

Wolfram Schütte skizziert Hans Mayers ziemlich ungewöhnliches Leben: "Hans Mayer stand, als deutscher Jude, Homosexueller und Marxist, gleich dreifach auf den Vernichtungslisten seiner deutschen Zeitgenossenschaft. Und dass er, 1907 in Köln geboren, in großbürgerlichem Milieu aufgewachsen und doch politisch links orientiert, 'eigentlich nur' als Jurist promoviert wurde und seine Habilitation in allgemeiner Staats- und Gesellschaftslehre wegen der Machtübernahme der Nazis nicht mehr zustande kam, dass er sich seinen Ruhm dennoch als Literaturwissenschaftler erschrieben hat - auch das passt in keinen akademischen Konformitätsrahmen."

Besprochen wird im montäglichen Magerfeuilleton der "Roberto Zucco" in Wien.

FAZ, 21.05.2001

Gleich zwei Nachrufe auf Hans Mayer. Der Text von Marcel Reich-Ranicki fängt so an: "Was immer gegen Hans Mayer gesagt werden kann (wenig ist es leider nicht), und was immer zu seinen Gunsten gesagt werden muss (es ist viel, sehr viel) - er war ein erstaunliches Individuum, eine außergewöhnliche Persönlichkeit, ein unvergleichbarer Autor und Wissenschaftler." Dann das Lob: "Seine Arbeiten bedurften nie der Übersetzung aus dem Germanistischen ins Deutsche. Unermüdlich vergegenwärtigte er die Literatur seines Jahrhunderts. Wie ein Zauberkünstler, der zur Verblüffung des Publikums unzählige Gegenstände aus den Taschen seines Mantels hervorholt, wusste Mayer mit immer neuen Zitaten und Beispielen, Vergleichen und Argumenten aufzuwarten. Sie alle waren Mosaiksteine, aus denen er ein übersichtliches Bild zusammensetzen musste. Viele seiner Darlegungen waren Synthesen aus Analysen und Bekenntnis. Daher vor allem bezogen sie ihre Stärke: Seine Konfessionen und Argumente beglaubigten und steigerten sich gegenseitig."

Lorenz Jäger weist auf die letzte Neuerscheinung Mayers hin, "Erinnerungen an Willy Brandt", die in diesen Tagen erscheinen. "Denn sie beide", so erläutert Jäger, "der spätere Kanzler und der Gelehrte, hatten der aktivistischen 'Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands' angehört, die sich 1931 von der SPD abgespalten hatte. Die kleine Gruppe zog die besten jungen Köpfe an: Brandt trat ihr noch als Gymnasiast bei, Mayer, dessen Vater schon Sozialdemokrat gewesen war, wurde Vorsitzender in Köln."

Patrick Bahners kommentiert noch einmal jene Rede Raus zur Biopolitik, die die FAZ als "Rede vom 18. Mai" in die Geschichte eingehen lassen will, und er kritisiert die Position der CDU: "Wer soll denn den Beweis führen, dass die christliche Lehre vom Leben keine kirchliche Sondermoral ist, wenn nicht die Christlich-Demokratische Union?"

Zugleich dokumentiert die FAZ einen Beitrag Wolfgang Schäubles, dessen Argumentation Bahners in seinem Artikel schon gleich als "aberwitzige Ad-hoc-Konstruktion" anprangert. Schäuble sagt "Ja zur Embyonenforschung", denn für ihn ist "neben der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle auch noch die Verbindung zum Mutterleib notwendig", um aus dem Embryo einen Menschen zu machen - womit Experimente mit den Zellhäufchen außerhalb des Mutterleibs ethisch zu rechtfertigen wären.

Der Architekturhistoriker Tilman Buddensieg resümiert auf einer ganzen Seite noch einmal die Debatten zur Berliner Architektur nach der Wende und kritisiert besonders die 1 zu 1-Restauration vieler Nazibauten für die Bundesregierung: "Wie dankbar muss die Denkmalpflege gewesen sein, dass der Finanzminister bereit ist, beim täglichen Weg ins Büro dem Eingangsritual des Reichsministers zu folgen."

Wilfried Wiegand ist zufrieden mit Cannes: "Es war ein hervorragendes Festival, eine exemplarische Versammlung dessen, was Filmkunst heute zu leisten vermag."

Weitere Artikel: Dietmar Polaczek berichtet, dass Primo Levis Aussage gegen einen SS-Judenmörder von 1972 vor einem deutschen Gericht, jetzt veröffentlicht wurde. Mark Siemons hat eine Diskussion über das Recht auf Faluheit in der Berliner Volksbühne verfolgt. Werner Spies schreibt zum Tod des Druckers Piero Crommelynck, der mit Picasso zusammenarbeitete. Besprochen werden Grübers Wiener Inszenierung von Koltes' "Roberto Zucco" (Grüber "rettet nicht das Stück vor seinen Zumutungen. Er macht aus den Zumutungen des Stückes, die zum Teil die Zumutungen des Polizeiberichts sind, eine Mutprobe des Helden: Verbrechen nicht einfach zu begehen, sondern sie zuerst träumen, denken", schreibt Gerhard Stadelmaier), Konstantin Weckers Spektakel "Schwejk it easy" am Berliner Theater des Westens, Richard Meiers Bau für einen Hamburger Reeder, Johann Kresniks "Woyzeck"-Inszenierung in Hannover, der "Fidelio" unter Simon Rattle in Glyndebourne, eine Ausstellung des dänischen Malers Carl Larssons in Düsseldorf, Martin Crimps Stück "Auf dem Land" in Stuttgart, ein indisches Musikfestival in Bombay und die Ausstellung "Body as Byte" in Luzern.

TAZ, 21.05.2001

Volker Weidermann wartet im Reigen der Mayer-Nachrufe mit einer hübschen Anekdote auf: "Mit Brecht verband ihn seit 1948 ein enges Arbeitsverhältnis, und von Thomas Mann gab der 'geistvolle Leipziger Literaturhistoriker Hans Mayer' (Thomas Mann) die erste Werkausgabe in der DDR heraus. Als Bezahlung wünschte sich Mann, da der Transfer von Devisen nicht erlaubt war, einen Nerzmantel. 'Ziehen Sie sich warm an', lautete der schriftlich fixierte Geheimauftrag. Und Mayer überquerte in einem Frühsommer Anfang der 50er-Jahre mächtig schwitzend im edlen Nerz die innerdeutsche Grenze."

Das hohe Durchschnittsalter der meisten Regisseure in Cannes ist Kaja Nicodemus aufgefallen, dabei erscheinen ihr die Alten wie Godard (70), Rivette (73) und Oliveira (90) allerdings jünger als die Jungen: "Zumal die Söhne und Enkel im Vergleich den Trott der Frühvergreisten pflegen. Nanni Moretti betreibt in 'Das Zimmer des Sohnes' Trauerarbeit als klaviergetränktes Mittelstandskino, Jacques Doillon verplappert sich endgültig in der Liebe, die amerikanischen Independents zerschreddern sich in Pseudo-Nouvelle-Vague-Geschichten, und in Asien sorgen wackelnde Börsenkurse für Enid-Blyton-hafte Zivilisationskritik."

Außerdem bespricht Andreas Hartmann Jon Savages Buch "Englands Dreaming" - "eine fulminante Chronik der Punkjahre in England von 1975 und 1979". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

NZZ, 21.05.2001

"Dieser eigenwillige, geradezu gespenstisch belesene Zeitzeuge unseres Jahrhunderts war weniger ein Außenseiter als eine Ausnahmeerscheinung im deutschsprachigen Literaturbetrieb", schreibt Matthias Wegner in seinem Nachruf auf Hans Mayer.

Joachim Güntner kommentiert die Proteste der deutschen Verlage gegen die Novellierung des Urheberrechts und die fortwährenden Prozesse des Piper-Verlags gegen seine Übersetzerin Karin Krieger, die eine angemessene Vergütung für ihren Anteil am Erfolg der Bücher Alessandro Bariccos fordert. "Deutschlands Verleger indessen sollten im eigenen Interesse hoffen, dass Piper vor dem BGH unterliegt. Denn nur ein Sieg der Übersetzerin würde ihre Auffassung stützen, wonach das alte Urheberrecht so gut ist, dass es der vom Bundesjustizministerium gewünschten Stärkung der Urheber nicht bedarf."

Dokumentiert wird außerdem die Dankrede für den Johann-Heinrich-Voss-Preis des Eco-Übersetzers Burkhart Kroeber, der die Lage seines Berufs noch mal eindrücklich schildert: "Die öffentliche Wahrnehmung der Arbeit des literarischen Übersetzers ist eine Misere noire, wie sie schwärzer kaum sein könnte. Stichworte zur 'Lage der übersetzenden Klasse': Wie Dieter E. Zimmer vor Jahren schrieb, bewegt man sich als Übersetzer in einem weitgehend 'schalltoten Raum' - in der Regel keinerlei öffentliche Reaktion, kein Feedback, geschweige denn so etwas wie eine ästhetisch-kritische Auseinandersetzung mit den übersetzerischen Problemen."

Christoph Egger vertritt in seinem Cannes-Resümee eine andere Meinung als Wiegand in der FAZ: "War es ein 'großes' Jahr? Bestimmt nicht... Ein spannender Jahrgang? Auch nicht gerade. Die Auswahlkommission unter dem neuen Künstlerischen Direktor, Thierry Fremaux, hat zwar durchaus auch sperrigere Arbeiten berücksichtigt, vor denen der Erkenntnisgewinn jedoch klein blieb."

Besprochen werden der "Roberto Zucco" in Wien, eine "Don Quichotte"-Dramatisierung in Luzern und das 12. Schaffhauser Jazzfestival.