Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.05.2001.

TAZ, 22.05.2001

Katrin Bettina Müller berichtet von dem Projekt Novalog, in dem sich Künstler aus Tel Aviv und Berlin austauschen sollen: "Mit DJs, Videokünstlern, Pop-Archivaren, Fotografen, Clubperformern und Website-Designern auf beiden Seiten sollte das Lebensgefühl der Gegenwart bearbeitet werden. Doch dabei blieb es nicht, stattdessen drängte sich der Konflikt zwischen Israel und Palästinensern den Künstlern während der einjährigen Vorbereitungszeit immer mehr als unumgehbares Thema auf. Geschichten von Besetzung und Landgewinnung, Metaphern von Grenzkontrollen und Ghettos breiten sich aus. Das zeigen auch andere Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in Israel."

Weitere Artikel: Helmut Höge sieht Timothy McVeigh zum Märtyrer im rechtsextremen Lager der USA werden. Besprochen werden Bücher, darunter Paula Fox' Roman "Kalifornische Jahre". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).
Hinzuweisen ist auch Henrike Thomsens Porträt des documenta-Chefs Okwui Enwezor: "Vielleicht ist Okwui Enwezor ein machtloser Narr, vielleicht aber auch ein großer Visionär. In jedem Fall hält der gebürtige Nigerianer den Glauben an die politische Bedeutung von Kunst hoch - und das in einer Zeit, in der sich die Museumsinstitutionen und der Kunstmarkt in gut geöltem Funktionieren genügen."

Schließlich Tom.

FAZ, 22.05.2001

Zehn Seiten Feuilleton heute in der FAZ. Gibt es da nicht auch ethische Grenzen?

Es liegt natürlich vor allem am doppelseitigen Gespräch mit Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die sich mit der FAZ-Redaktion bestens versteht ("Ich teile Ihre Grundauffassung ausdrücklich" "Hier berühren Sie gleich mehrere wichtige Punkte") und noch mal ihren Standpunkt darlegt: "Ich gehe davon aus, dass mit der Verschmelzung von Samen und Ei die Anlagen für einen individuellen Menschen vorliegen und deshalb die Schutzpflicht beginnt." Die FAZ hat das Gespräch im Internet nicht freigeschaltet.

Auch Frank Schirrmacher stellt im Aufmacher noch mal klar: "Nicht diejenigen, die die befruchtete Eizelle zum menschlichen Mitgeschöpf erklären, sind Fundamentalisten, sondern diejenigen, die durch das Mittel der Selektion bereits den Embryo individualisieren. Die Diktatur des Individuums als eine Diktatur über die Biologie - diese Variante des Marxismus hätte sich noch vor zehn Jahren niemand träumen lassen."

Schließlich fragt Katja Gelinsky ob Präsident Bush den Rechtsstatus des Ungeborenen ändern wird: "Mit Präsident Bush haben Abtreibungsgegner nach acht Jahren wieder einen Verbündeten im Weißen Haus."
Informationen zur Bioethik widmen wir heute auch unseren Link des Tages.
Wilfried Wiegand resümiert Cannes und sieht die Dritte Welt als Verlierer des "Palmares": "Nur David Lynchs Traumspiel 'Mulholland Drive', diese Wagner-Oper des Auges, konnte es an narkotisierender Bildgewalt mit Mohsen Makhmalbafs 'Kandahar' aufnehmen, und allenfalls die melodiöse Collagekunst Jean-Luc Godards konnte den ausgeflippten, alle Alltagslogik hinter sich lassenden Filmerzählungen aus Japan und Taiwan Paroli bieten. Die Jury aber wusste es besser und hat die Avantgarde der dritten Welt mit dem unattraktiven Preis für Filmtechnik abgespeist. Das ist die Handschrift der Jurypräsidenten Liv Ullmann, die es liebt, als Kämpferin für Europas Kino aufzutreten."

Florian Rötzer macht deutlich, warum eine neue Konvention gegen Biowaffen Sinn haben könnte: "Noch ist sicherlich die Gefahr, die etwa von gentechnisch veränderten Erregern ausgeht, nicht sehr groß. Doch werden immer mehr Genome von Viren und Bakterien sequenziert und die Möglichkeiten der Schöpfung von transgenen Organismen verfeinert, die die gefährlichen Eigenschaften verschiedener Erreger miteinander verbinden. Die Waffenentwickler brauchten sich nicht einmal auf die Kombination bestehender Gene beschränken."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru erzählt, dass die Palästinenser bei der Begehung ihres an die Vertreibung erinnernden Gedenktages Gedenkmuster der Israelis kopieren - sie lassen die Sirenen heulen und die Arbeit für zwei Minuten ruhen. Eduard Beaucamp stellt anhand der Basler Böcklin-Retro fest, dass sich das Verhältnis zu diesem Künstler, der mal als Vorläufer der Nazis galt, entspannt hat. Klaus Englert bringt Folge 2 einer Reihe über neue Architektur in Amsterdam. Im Medienforum lesen wir eine große Vorauskritik des "Vera Bühne"-Films, der am Donnerstag und Freitag in Sat 1 läuft und ein Porträt Martin Hoffmanns, der bei Sat 1 für einen "gewissen Anspruch" zuständig ist.

Besprochen werden Polleschs "www-slums 8,9,10" im Hamburger Schauspielhaus, eine Lesung Durs Grünbeins und Aris Fioretos' in Hamburg, Stücke von David Mamet in Köln, die letzte Produktion Richard Wherlocks als Ballettdirektor an der Komischen Oper Berlin (ein "Bolero"), ein Konzert des Jerusalem Symphony Orchestras, Alfredo Jaars "Ruanda-Projekt" im Badischen Kusntverein, der Film "Blumen aus einer anderen Welt" und ein Konzert von Ruby Turner (das Ulrich Olshausen zur Frage veranlasst, ob Ruby Turner die neue Aretha Franklin ist).

SZ, 22.05.2001

Um 20 vor neun stand noch die Ausgabe von gestern im Netz. Wir können also keine Links auf die Artikel setzen. Vielleicht hat man später mehr Glück!

Michael Althen kann der Entscheidung für die Filme von Nanni Moretti und Michael Haneke in Cannes durchaus etwas abgewinnen: "Die Verunsicherung, Verwirrung, Verstörung, die der Palmen-Gewinner 'Das Zimmer meines Sohnes' von Nanni Moretti und Michael Hanekes Jelinek-Verfilmung 'Die Klavierspielerin'... hinterlassen haben, zeichnen sie doch vor allen anderen Wettbewerbsbeiträgen aus - auch vor den formal gewagteren, inhaltlich gewichtigeren, insgesamt womöglich gelungeneren."

Tobias Kniebe porträtiert Isabelle Huppert, deren schauspielerische Leistung in Hanekes Jelinek-Verfilmung ihm besser gefallen hat als Hanekes "pädagogischer Wahnsinn": "Isabelle Huppert, 48, scheint all die Jahre unaufhörlichen Arbeitens - in fast siebzig Filmen hat sie seit 1971 gespielt - auf die bestmögliche Weise genutzt zu haben. Sie ist auf einer Stufe der Erkenntnis und Selbsterkenntnis angelangt, wo sie beinahe allein ist und doch nicht ausruhen kann oder will. Die Kälte und Unnahbarkeit, das erste, was jedem zu ihr einfällt - das ist ganz sicher nur ein Schutzmechanismus: gegen die Dummheit der Welt, der Filmjournalisten, des ganzen aufgeblasenen Geschäfts. Keine Geduld mit Idioten, auch das sagt dieser Blick."

Willi Winkler macht eine wahre Flut an Weltkrieg-Zwei-Erinnerungen in den USA aus. Der Film "Pearl Harbour" sei da nur der Vorbote: "Weitere Bücher von Nachgeborenen drängen auf den Markt und sind für eine Verfilmung vorgesehen: 'Flags of Our Fathers', 'Ghost Soldiers', 'In Harm's Way'. Längst gibt es in Washington das Vietnamdenkmal, aber jetzt soll dort auch eins für die Helden des Zweiten Weltkriegs errichtet werden. Die lauteste Trommel dafür hat der Schauspieler Tom Hanks gerührt, der durch seine Hauptrolle in Spielbergs 'Saving Private Ryan' unversehens zum WWII-Experten promoviert wurde."

Weitere Artikel: Gottfried Knapp stellt die neue Kunsthalle des Sammlers Würth in Schwäbisch Hall vor. Henning Klüver berichtet von der Turiner Buchmesse. Der Autor Georg M. Oswald antwortet im Interview auf Fragen zur Dramatik des Bundesligafinales. Besprochen werden die "world wide web slums" am Schauspielhaus Hamburg.

FR, 22.05.2001

In einem Interview erklärt der ungarische Schriftsteller György Konrad, dem übermorgen der Karlspreis verliehen wird, warum er diesen auch als eine späte Auszeichnung des Samizdat empfindet: "Ich hatte noch vor dem Fall der Mauer mehrmals Gelegenheit, einige Zeit in Berlin zu verbringen, und muss sagen, dass man die Spaltung Europas so akzeptiert hatte. Man hielt die Staatschefs Osteuropas für die legitimen Vertreter. Die kleine politische Gruppe der Dissidenten haben sie nicht ernst genommen. Aber dieser 'Realismus' hat sich als falsch erwiesen. Die Mauer ist nämlich nicht dank des Geldes gefallen, dass man in die Waffen gesteckt hat. Die Wörter waren viel effizienter. Deswegen sollten die Menschen, die mit Wörtern arbeiten, die Journalisten eingeschlossen, ihre eigene Macht ernster nehmen."

Helmut Höge berichtet über den Kongress "Recht auf Faulheit", der am Wochenende in Berlin stattfand, und Peter Körte resümiert die Filmfestspiele von Cannes mit den bösen Worten: "Der einzige Film, dem man in diesem Jahr die Goldene Palme bedenkenlos verliehen hätte, war 22 Jahre alt und hat sie längst bekommen. Angesichts der verspannten kleinen Apokalypsen, der beliebigen existentiellen Verfinsterungen und der allgegenwärtigen Mattigkeit war Francis Ford Coppolas erweiterte Version von Apocalypse Now so kraftvoll und großartig wie kein Film des Jahrgangs 2001 - Napalm statt Palmen."

Besprochen werden Dennie Gordons Film "Joe Dreck", das Leipziger Theaterspektakel "www heimat le", die "Braunschweig Classix" und die neue CD von Blumfeld: "Testament der Angst, der Titelsong, ist ein einziges Gejammer: Angst vor Morgen, Angst vor Heute, Angst vor Gestern, Angst vor sich selbst, Angst vor'm Alleinsein, dazu dräut der Bass, hämmert das Schlagzeug, und wenn Distelmeyer die Stimme so ein bisschen überschnappen lässt, erinnert das nicht auch verdammt an den Style von Ideal?" Das kann nur eine kluge Frau geschrieben haben.

NZZ, 22.05.2001

Heribert Seifert hat einem ersten Werkstattgespräch zugehört, in dem vier Mitarbeiter der überarbeiteten Wehrmachtsausstellung über ihren Neuansatz sprachen. "Ihre Hinweise darauf, dass in der neuen Ausstellung auch die 'situative Dynamik' des Kriegsgeschehens eine grössere Rolle spielen wird, lösten die Sorge aus, damit könne sich der Schwerpunkt verschieben: Die Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht könnten ihre 'Singularität' verlieren, wenn sie in den Kontext des brutalisierenden Handlungssystems Krieg eingeordnet würden. Die Verwendung des Begriffs der 'Kriegsnotwendigkeit', mit dessen Hilfe man in Hamburg künftig auch die Situationswahrnehmung der Wehrmachtsangehörigen mit einbeziehen möchte, provoziert Bedenken gegen eine Historisierung, die das eindeutige moralische Urteil auch erschweren kann." Seifert hat jedoch für diesen Neuansatz große Sympathie, denn "allzu pauschale Kampfformeln (werden) nicht länger aufrechtzuerhalten sein."

Nach einem Rundgang durch die Architekturgeschichte Wolfsburgs stellt Hubertus Adam das geplante neue Wissenschaftsmuseum von Zaha Hadid vor, mit dem der Wolfsburger Kulturdezernent "der VW-City auf der Stadtseite Paroli zu bieten" versucht. Adam verspricht sich einiges von dem Bau, denn "Dekonstruktivismus, so lehren Hadids jüngste Werke, bedeutet nicht nur Zusammenprall heterogener Formen, sondern kann zu neuen Raumvorstellungen führen: statt einer Konfrontation des Widersprüchlichen nun also der Versuch, mit einer organisch wirkenden Gestaltung Disparates auf höherer Ebene zu versöhnen." (Mehr lesen über das Museum kann man hier)

Weitere Artikel: Mario Vargas Llosa widerspricht im Interview dem Vorwurf, er habe sich für seinen neuen Roman "Das Fest des Ziegenbocks" reichlich aus dem Buch des Journalisten Bernard Diederich - "The Death of the Goat" - bedient, dessen Reportage über die Ermordung des Diktators Trujillo bereits 1978 erschienen ist, und Roman Bucheli stellt das Programm der 23. Solothurner Literaturtage vor (das man auch im Internet findet)

Besprochen werden Victor Fenigsteins Brecht-Singespiel in Bern, die Ausstellung zur Königsberger Krönung von 1701 im Berliner Schloss Charlottenburg, eine Ausstellung des Videokünstlers Pierrick Sorin in der Pariser Fondation Cartier und Bücher, darunter Frederic Beigbeders Roman über die Werbung "39,90" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).