Magazinrundschau
Der Staub des Individualismus
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.03.2010. In der NYRB staunt Edmund White über John Cheever, der mit Grazie tragisch ist. Die Lettre widmet sich dem Iran, Istanbul und den Toten des Ersten Weltkriegs. Im Guardian bemüht Tony Judt den Urvater des Konservatismus für eine neue Linke. In Outlook India marschiert Arundhati Roy mit den Maoisten in das Herz Indiens. Im Nouvel Obs plaudern Semprun und Enzensberger über Deutschland.
New York Review of Books (USA), 08.04.2010

Viel Literatur diesmal: Margaret Atwood bespricht den ersten Roman des Insektenforschers E.O. Wilson (der mit den Ameisen!), Deborah Eisenberg schreibt über Dezsö Kosztolanyis Roman "Lerche", Jennifer Schuessler über Sam Lipsytes "The Ask" und Joyce Carol Oates über Jerome Charyns "The Secret Life of Emily Dickinson". Willibald Sauerländer schließlich bespricht eine Ausstellung mit Skulpturen französischer Bildhauer des 18. Jahrhunderts, bei der ihm plötzlich zwischen all den stirnrunzelnden Büsten großer Aufklärer eine nackte Diana von Jean-Antoine Houdon gegenübersteht.
Lettre International (Deutschland), 23.03.2010

Außerdem: Frank Berberich unterhält sich mit dem iranischen Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan über die Situation im Iran (Auszug). Jane Mayer schreibt über die gezielten Tötungen durch ferngesteuerte amerikanische Drohnen (Auszug). Heribert Gold erinnert sich an Haiti (Auszug). Sema Kaygusuz erzählt vom Leben in Istanbul (Auszug). Michel Peraldi beschreibt den molekularen Kapitalismus von Istanbul (Auszug). Andrzej Stasiuk steht auf einem Friedhof in den Karpaten und unterhält sich mit den Toten (Auszug). Und Raoul Schrott formuliert eine Politik des Heiligen (Auszug).
Espresso (Italien), 19.03.2010

Guardian (UK), 20.03.2010
In einem "Manifesto for a New Politics" fordert Tony Judt eine Sozialdemokratisierung der europäischen Gesellschaften und argumentiert dabei ausgerechnet mit dem Urvater des Konservatismus und prominentesten Feind der französischen Revolution: "Jede Gesellschaft, die das Gewebe des Staates zerschneidet, so schreibt Edmund Burke in seinen 'Reflections on the Revolution in France', wird irgendwann 'in den Staub des Individualismus' zerfallen. Durch unsere Aushöhlung des öffentlichen Sektors und seine Umwandlung in ausgelagerte Dienstleister, haben wir angefangen, das Gewebe des Staates zu zerschneiden. Und was den Staub des Individualismus angeht: Nichts ähnelt eher dem Hobbeschen Krieg aller gegen alle, in dem das Leben so vieler einsam, ärmlich und hässlich geworden ist."
Außerdem: Jonathan Safran Foer denkt zurück an den großen Erfolg seines Romans "Alles ist erleuchtet" vor zehn Jahren. Und Annie Proulx höchstselbst bespricht Tim Gautreaux' Buch "Waiting for the Evening News: Stories of the Deep South" (Auszug).
Außerdem: Jonathan Safran Foer denkt zurück an den großen Erfolg seines Romans "Alles ist erleuchtet" vor zehn Jahren. Und Annie Proulx höchstselbst bespricht Tim Gautreaux' Buch "Waiting for the Evening News: Stories of the Deep South" (Auszug).
Figaro (Frankreich), 22.03.2010
Der Rechtsanwalt Emmanuel Pierrat hat ein Buch über die Erben künstlerischer Nachlässe und deren Umgang damit geschrieben ("Familles je vous hais!"), in dem er auf einige problematische Fälle von James Joyce über Picasso bis Saint Exupery eingeht. Das zentrale Problem mit vielen der "falschen Witwen, unwürdigen Söhnen und gefräßigen Gigolos" sei, dass die Erben beim Tod eines bekannten Künstlers auf einen Schlag zum "Zensor und Raffzahn" würden. Im Interview sagt er: "Selbst die brillantesten Geister denken zweifellos nicht daran, dass sich nach ihrem Tode ihre Nachkommen eines Tages entzweien und bekriegen werden, dass sie die Zitrone auspressen, dass sie akribisch auswählen, was sie herausrücken, um das Werk zu glätten und ein perfektes Bild zu schaffen. Um das Interesse an dem verstorbenen Autor wachzuhalten, publizieren viele dieser Erben, die sich in einem Wettlauf mit der Zeit befinden, bisher Unveröffentlichtes. Das ist heutzutage eine regelrechte Industrie."
Tygodnik Powszechny (Polen), 21.03.2010

Auch der Hauptdarsteller Andrzej Seweryn versucht, auf die universelle Bedeutung der dargestellten Geschichte aufmerksam zu machen: "Der Film zeigt die Situation, in der das Privatleben von der Sache und von der Geschichte vereinnahmt wurde. Die Volksrepublik war eine Welt, in der verlogene Spitzelberichte und ehrliche Liebeserklärungen zusammen gehörten, und in der ein falsch klingender Name viele Türen versperrte. Man konnte darin sich oder den Verstand verlieren..."
Eine Beilage ist dem anstehenden siebzigsten Jahrestag der Morde von Katyn gewidmet. Der Historiker Andrzej Nowak erinnert daran, dass Präsident Boris Jelzin 1993 die Dokumente offenlegte und um Vergebung bat, worauf die polnische Seite nicht entsprechend reagiert habe. Er erinnert auch an die Stimmen des "anderen Russlands" und die wichtige Rolle der orthodoxen Kirche: "Sie ermöglichte es, die moralische Bewertung des sowjetischen Systems wieder in den Fokus zu nehmen, was in den letzten fünfzehn Jahren durch Russlands Regierung bewusst vernachlässigt wurde. Einen unverstellten Blick auf das (sowjetische) System vorausgesetzt, glaube ich, dass es in hoffentlich naher Zukunft eine Chance für eine polnisch-russische Versöhnung geben wird. Ich weiß nicht, ob die Regierung sich daran beteiligen wird, aber das ist nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, dass die Russen selbst sich mit dieser Wahrheit auseinandersetzen, dass sie eine moralische Abrechnung vornehmen, die doch die Größe der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts ausmacht und die nach 1993 so sehr gefehlt hat."
Outlook India (Indien), 29.03.2010

Nouvel Observateur (Frankreich), 18.03.2010

The Nation (USA), 18.03.2010

Außerdem: Paul Duguid lernt in Daniel J. Soloves Buch "Understanding Privacy" (Auszug) einiges über den heute schlimmsten Überwachungsstaat Westeuropas, Großbritannien mit seinen Millionen Überwachungskameras.
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