Magazinrundschau
Ihr Gewicht war das ideale Gewicht
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05.01.2010. In der New York Review of Books fragt Wyatt Mason die Pleiade, warum er nicht den ganzen - und eben auch den antisemitischen - Celine lesen darf. In Tygodnik Powszechny denkt der Soziologe Marek Kucia darüber nach, wie man Auschwitz als Erinnerungsort erhalten kann. In Slate stellt John Maxwell Hamilton die interessantesten Auslandskorrespondenten seit Benjamin Franklin vor. Im Express erinnert Philippe Gavi daran, dass der Prophet Mohammed kein verrückter Killer war. In NZZ Folio wundert sich eine Kalifornierin über die Reinkarnation eines Fabrikarbeiters. Die jüngere Autorengeneration mag nur noch Kuschelsex, klagt die New York Times und ruft nach Philip Roth.
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New York Review of Books (USA), 14.01.2010
Celines antisemitische Pamphlete waren nicht einfach Pamphlete, meint der Kritiker und Essayist Wyatt Mason in einem sehr lesenswerten Artikel über einige französische und englischsprachige Neuerscheinungen: "Von 1937 bis 1944 steckte er seine gesamte ungestüme literarische Energie und sein Talent in den Ruf - den Schrei - nach dem Tod der Juden in Frankreich (für den Anfang)". Sein "Bagatelles pour un massacre" war ein Buch mit über 300 Seiten, und es verkaufte sich noch vor der Vichy-Zeit über 75.000 mal. Es folgten zwei weitere Bände und Neuauflagen der "Bagatellen" unter Petain. Darum darf man nicht, wie es die ruhmreiche Pleiade jetzt tut, in einer Celine-Gesamtausgabe auf die antisemtischen Schriften verzichten: "Der Herausgeber der Pleiade-Ausgabe, Henri Godard, sagt, dass Celines acht Romane zusammen eine 'dynamische Einheit' bilden, 'ohne die man das wahre Natur Celines nicht erfassen kann'. Das geht nicht weit genug. Erst wenn man Godards Behauptung auch auf die antisemitischen Werke ausdehnt, wird die Einheit von Celines pseudokomischer Misanthropie mit seiner rasenden Soziopathie deutlich... Um Celine zu verstehen, müssen wir bereit und muss es uns erlaubt sein, alles zu lesen, was er geschrieben hat."
Tygodnik Powszechny (Polen), 03.01.2010

Außerdem: Es ist erstaunlich, wie über einen Satz ganze Bücher geschrieben werden können. Przemyslaw Czaplinski schafft es immerhin auf zwei Seiten, das Phänomen von "I would prefer not to" zu erläutern. Herman Melvilles "Bartleby, der Schreiber" erschien nicht nur in neuer Übersetzung, sondern es wurde ein Band mit Erzählungen junger polnischer Autoren mit diesem Titel versehen. Die Unternehmung erscheint dem Literaturkritiker etwas hilflos, aber für die Herausforderung, die Bartlebys Satz der Literatur hierzulande stellt, ist Czaplinski dem Herausgeber dennoch dankbar.
ResetDoc (Italien), 29.12.2009
Für die Soziologin Nilüfer Göle zeigt das Minarettverbot, wie schwer sich die Schweiz damit tut, Muslime als "endogenen Bestandteil" ihrer Gesellschaft anzuerkennen. Und Moscheen mit weithin sichtbaren Minarettten scheinen für sie der entscheidende Ort von Integration: "Moscheen dienen als Schnittstelle zwischen urbaner Umgebung, muslimischen Bürgern und religiösem Pluralismus. Wie können wir neu über den Moscheeraum für Frauen, für Jugendliche und verschiedene Aktivitäten nachdenken? Ihre Sichtbarkeit zu akzeptieren, zieht eine Reihe von Verhandlungen und Regeln nach sich in Bezug auf Ästhetik, Gebetsordnung, Finanzen, Architektur und Raum, um Objekte eines in Zukunft geteilten Erbes zu schaffen. Das Schweizer Referendum hat nun eine Nicht-Verhandelbarkeit geschaffen und in diesem Sinne zeugt das Referendum von einer undemokratischen Haltung, denn es stoppt den Prozess von Evolution, Austausch und kultureller Mischung."
Slate (USA), 29.12.2009
Jack Shafer führt ein langes, faszinierendes Interview mit John Maxwell Hamilton über dessen Buch "Journalism's Roving Eye", eine Geschichte der amerikanischen Auslandsberichterstattung. Hamilton stellt einige der interessantesten Auslandskorrespondenten vor (Links im Interview führen zu Leseproben): Benjamin Franklin, der - nicht unähnlich einem Blogger - Auslandsberichte aus Briefen und europäischen Zeitungen zusammenschrieb, James Gordon Bennett, Richard Harding Davis, Nellie Bly, Victor Fremont Lawson, Jack Belden oder Vincent Sheean. Am Ende gibt er der vom Internet gebeutelten Zunft einen ermutigenden Stups: "Wir sollten nicht überrascht sein, dass Berichterstattung aus dem Ausland - tatsächlich alle Berichterstattung - eine so traumatische Periode erlebt. Seriös organisierter Journalismus ist keine sehr alte Profession. Betrachtet man ihn im breiten Zeitrahmen der Geschichte, ist er ein Kleinkind. ... Wie die Demokratie ist Journalismus keine Errungenschaft. Es ist work in progress und nicht jeder Tag ist so gut wie der letzte."
Express (Frankreich), 04.01.2010

Rue89 (Frankreich), 03.01.2010
Bereits 2001 besuchte der Schriftsteller Jonathan Littell ("Die Wohlgesinnten") Tschetschenien, 2009 kehrte er noch einmal zurück und hat seine Erlebnisse und Begegnungen in dem kleinen Reportageband "Tchetchenie, An III" versammelt. Obwohl geplant, gelang es ihm nicht, Tschetscheniens neuen Präsidenten Ramzan Kadyrov zu treffen, der von Putin eingesetzt worden war. Ein Glück findet Rezensent Jean-Pierre Thibaudat, so habe sich Littell nicht auf die Beschreibung der Person, sondern ihres Systems konzentrieren können. Demnach verfolge Kadyrov das System eines "selektiven Terrors", das darin bestehe, Rivalen, auch aus dem Ausland, sowie emblematische Personen wie Natalia Estemirova ermorden und Störenfriede entfernen oder verschwinden zu lassen. Laut Littell beruht es auf "fünf Säulen: dem versteckten Terror; dem Wiederaufbau des Landes (mit der damit einhergehenden Korruption, darunter der Bereicherung des Kadyrov-Clans); dem Islam als Pseudotradition, der den Kampf gegen die Modernisierung und die Geringachtung der Frauen fördert; die Aussöhnung und/oder die Rückkehr der alten Separatisten; und der zentralen Säule, der Unterstützung Putins..."
Boston Review (USA), 01.01.2010

Folio (Schweiz), 01.01.2010

Anna Gosline stellt äußerst sachlich zehn Todesarten im Vergleich vor: "Die Enthauptung kann, so schauerlich sie uns anmutet, eine der schnellsten und am wenigsten schmerzhaften Todesarten sein, vorausgesetzt, der Scharfrichter versteht sein Handwerk, führt eine scharfe Klinge - und der Verurteilte hält still."
Außerdem: Reto U. Schneider erzählt von einer todkranken jungen Frau, die bis zum Schluss ihr Leben und sogar ihre Trauerfeier bestimmt hat. Und Lukas Egli recherchiert Bestattungskosten. In der Duftnote hofft Luca Turin auf Nischendüfte.
Prospect (UK), 04.01.2010

In der "Unterschätzt"-Liste macht der Historiker Timothy Garton Ash ein deutsches Monument aus: "Wo war er, der Riese von Oggersheim, bei all den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag von 1989? Alt, krank, nach einem Schlaganfall an den Rollstuhl gebunden, kompromittiert durch einen Parteispendenskandal, brutal beiseitegeschoben von Angela Merkel: er bekam nicht, was er verdient hat. Denn es war Helmut Kohl, der die Chance zur deutschen Wiedervereinigung ergriff. Von all den großen Akteuren des Jahrs 1989 war er derjenige, der sich das ambitionierteste strategische Ziel gesetzt hat - und reüssierte."
Espresso (Italien), 01.01.2010

New York Times (USA), 03.01.2010
Philip Roth mag seine Kraft verloren haben, großartig über Sex zu schreiben, aber in seiner Wut darüber, ist er noch immer grandioser als all seine Nachfahren, meint Katie Roiphe, die über die neue Keuschheit in der amerikanischen Literatur ein wenig verzweifelt: "Der gegenwärtig vorherrschende Stil ist eher kindlich; Unschuld ist angesagter als Männlichkeit, das Kuscheln wird dem Sex vorgezogen. Prototypisch ist eine Szene aus Dave Eggers Road Novel 'Ihr werdet (noch) merken, wie schnell wir sind', in der der Held die Disko mit einer Frau verlässt. Sie zieht sich aus und legt sich einfach nur auf ihn: 'Ihr Gewicht war das ideale Gewicht, mir war warm, und ich wollte, dass ihr auch warm ist'... Vergleichen wir Benjamin Kunkels zaghafte und schuldbewusste Masturbationsszene in 'Unentschlossen' mit Roth' onanistischer Überschwänglichkeit, komplett mit ausgehöhlten Äpfeln, Leber und Einwickelpapier von Schokoladenriegeln, in 'Portnoys Bescherden'. Kunkel: 'Ich kam mir extrem vulgär vor, ich verbarg meinen Penis. Ich hätte ihn weggeworfen, wenn ich gekonnt hätte.' Roth schreibt natürlich auch über Schuld, aber er setzt sich über sie hinweg und wischt sie mit der Energie des Tabubrechers in einem fröhlichen Schwung beiseite: 'Was für ein Wahnsinn, da meinen Schwanz auszupacken! Wenn ich in flagranti erwischt worden wäre! Wenn ich weitergemacht hätte.' Mit anderen Worten: Man bekommt selten das Gefühl, dass Roth seinen Schwanz wegwerfen würde, wenn er könnte."
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