Heute in den Feuilletons

Kein Raum für das Übernatürliche

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2013. Die Zeitungen versuchen Beppe Grillo und seinen "Grillini" auf die Spur zu kommen: Ein Blogger ist er schon mal nicht, meint der Autor Giuliano Santoro in der Jungle World. Eher schon ein Clown, meint Dario Fo in der Zeit. Auf jeden Fall sind die Italiener aber geistesgestört findet Peter Stein, ebenfalls in der Zeit. Auch in der SZ ist Italien Thema. In der FAZ hält Marina Weisband ihren Trollen den Spiegel vor. In der NZZ schreibt Héctor Abad den Nachruf auf Hugo Chavez. In der Welt stellt Oliver Sacks klar, dass es auch wissenschaftlich wertvolle Halluzinationen gibt.

NZZ, 07.03.2013

Mit sarkastischer Bewunderung beobachtet der kolumbianische Autor Héctor Abad, dass Hugo Chavez am 60. Todestag Stalins starb und so selbst seinen Tod noch perfekt inszenierte. Und er wirft einen Blick in die Zukunft Venezuelas, in der die Verklärung anhalten wird: "Und wenn danach die wahren Schwierigkeiten und Probleme des Landes zutage treten, wird gerade der Tod des Caudillo, seine Abwesenheit, das Argument sein, mit dem sich all die Katastrophen erklären lassen, die er in Wirklichkeit selbst verursacht hat."

Besprochen werden Filme, darunter Bille Augusts Verfilmung des Romans "Nachtzug nach Lissabon", eine Ausstellung der Fondation Beyeler mit Werken aus den letzten Lebensjahren von Ferdinand Hodler und Bücher, darunter der von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegebene "Historische und kritische Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken" und Cécile Wajsbrots "Die Köpfe der Hydra" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Weitere Medien, 07.03.2013

Federica Matteoni versucht im Gespräch mit dem Autor Giuliano Santoro in der Jungle World dem Phänomen Beppe Grillo und seinen "Grillini" auf die Spur zu kommen. Ein Blogger ist Grillo schon mal nicht, meint Santoro: "Während die Aktivisten auf ihrem Territorium mehr oder weniger frei sind, zu tun, was sie wollen, gibt es nur ein Organ, das berechtigt ist, für die gesamte Bewegung zu sprechen, und das ist die private Website von Beppe Grillo, die oft Blog genannt wird, allerdings nicht die offene Struktur eines Blogs aufweist. Niemandem wurde bisher erlaubt, eine offenere Kommunikationsform zu entwickeln. Im Wahlkampf wurde es den Kandidaten sogar verboten, sich an politischen Talkshows zu beteiligen..."

"Ein großes Buch über eine armselige Gesellschaftsgeschichte", resümiert Harald Jähner in der Berliner Zeitung Götz Alys neues Buch über die Euthanasiemorde in Nazideutschland (Leseprobe). Widerstand, lernt Jähner, leistete außer den Katholiken kaum jemand. Besonders bedrückend: "Aus den Prinzipien 'moderner Rechtsstaatlichkeit oder aus den Ideen eines säkularen Humanismus' speiste sich der Protest ... kaum. Im Gegenteil: Aly sieht das NS-Euthanasieprogamm im Zusammenhang mit den Reformideen der Weimarer Republik. Zu den Mordstrategen gehörten gerade jene Ärzte, die in der Psychiatrie als 'fortschrittlich' und patientenzugewandt galten. ... 'Es ist doch herrlich', zitiert Aly einen Arzt, 'wenn wir in den Anstalten den Ballast loswerden und nun richtig Therapie betreiben können'."

Fünfzehn Jahre nach dem Start des Film schreibt Ashley Fetter im Atlantic über den fortgesetzten Kult um "The Big Lebowski" und zitiert aus einem Esssay Andrew Rabins, der den Film auf religiöse Motive untersuchte: "Lebowski repeatedly frames the Dude as a contemporary Jesus. Beyond the obvious similarity of hairstyle, the Dude also twice assumes a cruciform posture and is described sacrificially by the Stranger as 'takin' her easy for all us sinners.' The Dude is not the film's only Christ figure - Donny also is associated with Jesus, as is "the Jesus" himself, who provides an obvious anti-type."

Hier noch mal eine Reihe bedeutender Aussprüche des Lebowski:


Aus den Blogs, 07.03.2013

Henry Flynt ist ein Musiker der Post-Cage-Schule, der sich von moderner Musik abwandte und die Musik des amerikanischen Südens - Bluegrass, Country, Country-Blues - in einem Ausmaß radikalisierte, wie es sonst nur John Coltrane für den Jazz getan hatte, schreibt Ubuweb, das eine ganze Reihe von Aufnahmen Flynts aus dem Jahr 1966 ins Netz gestellt hat. Da fügt es sich gut, dass zur Zeit im Karlsruher Medienmuseum ZKM eine Ausstellung zum Werk Flynts läuft.
Stichwörter: 1966, Coltrane, John, Country, Jazz, Musik, Fly

Welt, 07.03.2013

Hannes Stein unterhält sich mit dem Neurologen Oliver Sacks, der gerade ein Buch über Halluzinationen geschrieben hat, zu denen er auch manche religiöse Erzählungen zählt: "In meinem Weltbild lassen irdische Phänomene und menschliche Anstrengungen und Kunst und Fantasie keinen Raum für das Übernatürliche. Aber man kann durch Halluzinationen auch auf Wahrheiten kommen. Als Alfred Russell Wallace an Malaria erkrankt war, halluzinierte er die natürliche Auslese und schrieb darüber an Darwin..."

Weitere Artikel: Tilman Krause fragt, was ein Museum der Romantik an "diesem Unort deutscher Kultur" namens Frankfurt soll und empfiehlt stattdessen ein Äppelwoi-Museum. Iris Alanyali hat Til Schweiger als "Tatort"-Kommissar gesehen (am Sonntag im Ersten) und findet ihn gar nicht schlecht. Julia Smirnova berichtet, dass der Täter, der dem Moskauer Ballettchef Sergei Filin Säure ins Gesicht schüttete, wohl gefunden ist - es handelt sich um den Tänzer Pawel Dmitritschenko. Joachim Mischke schreibt den Nachruf auf den populären Fernsehschauspieler Dieter Pfaff.

Besprochen werden Filme, darunter Bille Augusts Verfilmung des Bestsellers "Nachtzug nach Lissabon", die vor Peter Zanders Augen wenig Gnade findet, und eine Ausstellung über abstrakte Fotografie in Frankfurt.

TAZ, 07.03.2013

Heiko Werning resümiert eine Berliner Gesprächsrunde über Satire und beleidigte Religionen anlässlich des 75. Geburtstags von Klaus Staeck. Henning Bleyel unterhält sich mit der Ur- und Frühgeschichtlerin Uta Halle über die von ihr mitkuratierte Ausstellung "Graben für Germanien" im Bremer Landesmuseum, die die Frühgeschichtsforschung im Nationalsozialismus aufarbeitet und das auch heute von Rechten gepflegte "gut vermarktbare Germanen-Klischee" zurechtrücken will: "Die Begriffe 'Germanen' und 'Germanien' sind ein Konstrukt, eine römische Erfindung." Astrid Kaminski berichtet vom Tanz-Festival "On Marche" in Marrakesch, das zum achten Mal stattfindet. Jürn Kruse würdigt im Nachruf Dieter Pfaff.

Besprochen werden Bille Augusts Romanverfilmung "Nachtzug nach Lissabon" mit Jeremy Irons und Martina Gedeck, der Film "No!" des chilenischen Regisseurs Pablo Larrainder, der von der Wahlkampf-Kampagne eines Werbers gegen Pinochet im Jahr 1988 erzählt, der Film "Die fantastische Welt von Oz" von Sam Raimi und die DVD von Whit Stillmans (wie Ekkehard Knörer findet: "zum Schreien komischen") Film "Algebra in Love".

Und Tom.

Perlentaucher, 07.03.2013

In der Perlentaucher-Debatte um Monotheismus und Gewalt reagiert Jan Assmann auf den Beitrag des Alttestamentlers Markus Witte. Bei der von Mose gestiftete Religion handele es sich um eine "Imagination der Gedächtnisgeschichte", so Assmann: "In der Geschichte, so weit sie sich aus den archäologischen, epigraphischen und als Geschichtszeugnisse interpretierbaren literarischen Quellen erschließen lässt, hat kein Exodus (jedenfalls nicht in dem völkerwanderungsartigen Ausmaß des biblischen Berichts), keine Sinai-Offenbarung, keine Religionsstiftung in Form eines göttlichen Bundesschlusses, keine 40jährige Wüstenwanderung und keine Landnahme stattgefunden (...). Alle diese Motive (und damit auch die Frage der Gewalt, die uns in dieser Debatte beschäftigt) gehören vielmehr in die Literatur und ihre rekonstruktive Aufarbeitung der Vergangenheit. Wie konnte es aber zu diesem Widerspruch zwischen Geschichte und Gedächtnis kommen?"
Stichwörter: Assmann, Jan, Exodus, Monotheismus

Zeit, 07.03.2013

Der Literaturnobelpreisträger Dario Fo, der im italienischen Wahlkampf die "Bewegung fünf Sterne" des Komikers Beppe Grillo unterstütze, erklärt im Interview mit Judith Innerhofer den Erfolg der Protestpartei damit, dass die Italiener die Groteske "im Blut" hätten: "Das wichtigste Werk unserer Kultur ist Dantes 'Göttliche Komödie'. Eine Komödie! In Italien entstehen die Commedia dell'Arte, die lazzi (improvisierte Possen), dafür gibt es ja nicht einmal Übersetzungen. Das Volk betrachtet die Clowns als Hilfe beim Versuch, zu verstehen, zu wählen. Es wundert uns also gar nicht, dass ein Clown auf die Idee kommt, Politik zu machen."

Peter Stein und Klaus Maria Brandauer sprechen mit Peter Kümmel über ihre jüngste Zusammenarbeit (Samuel Becketts Einakter "Das letzte Band", Premiere am 15. März in der Schinkel-Kirche von Neuhardenberg), über den Tod und die Politik. Dazu der Wahl-Italiener Stein: "Mit Berlusconi wurde die primitivste und dämlichste Form des raffgierigen Kapitalismus als Staatsreligion propagiert, es wurde einfach mitgeteilt: Kunst ist vollkommen sinnlos, denn sie bringt ja nichts. Auch das künstlerische Erbe - 18 Prozent des Weltkulturerbes befinden sich in diesem Land - lässt man verfallen. Das ist Wahnsinn. Die Italiener sind keine Clowns, die sind vollkommen geistesgestört!"

Weitere Artikel: Vor dem Hintergrund der Debatte um Wolfgang Kraushaars Buch über "München 1970" macht sich Thomas Assheuer Gedanken über linken Antisemitismus und gibt schließlich "Dan Diner recht, wenn er sagt: es gibt keinen linken Antisemitismus, es gibt nur einen Antisemitismus sui generis". Anstatt durch die FAZ hätte sich der langjährige FR-Feuilletonist Wolfram Schütte eine Übernahme durch die SZ gewünscht: "Dann hätte die FR für die SZ sein können, was Kaub am Rhein für Feldmarschall Blücher 1813 war", erzählt er in der Zeit Kilian Trotier und schrieb er im Culturmag. Hanno Rauterberg meldet hocherfreut die Wiedereröffnung der Wiener Kunstkammer: "ein Archiv des schönen Wissens - und ein Archiv des herrlichen Unsinns". Volker Hagedorn stellt drei Ensembles vor, die sich mit Werken Carlos Gesualdos beschäftigen. Klaus Harpprecht schreibt den Nachruf auf Stéphane Hessel.

Besprochen werden Milo Raus Theaterspektakel "Die Moskauer Prozesse" über die Freiheit der Kunst in Russland, der erste Til-Schweiger-"Tatort" (in dem sich Schweiger laut Adam Soboczynski als "verdammt guter, grober, lässiger Action-Star" entpuppt), David Bowies neues Album "The Next Day" ("er hat uns wieder gefoppt", bemerkt Thomas Groß) und Bücher, darunter "Die Belasteten", Götz Alys Studie über Euthanasie im Dritten Reich (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 07.03.2013

Nach der Lektüre von Gian Enrico Rusconis am Wochenende in La Stampa veröffentlichter, "alarmierender" Analyse der gegenseitigen Missverständnisse im deutsch-italienischen Verhältnis hält Gustav Seibt einen besseren Austausch unter beiden Nationen für dringend geboten. Vor allem das neue, jugendlich-hedonistische Berlin scheint ihm dabei zum Abbau gegenseitiger Vorbehalte besser geeigneter als manche von Historikern vorgeschlagene fachliche Zusammenarbeit: "Man fragt sich, (...) ob die deutsche Politik bei aller Förderung des höchst wünschenswerten Fachaustausches nicht auch aus dieser ganz jungen Attraktivität Deutschlands mehr machen sollte. Kurz gesagt: Man sollte versuchen, ganz rasch so viele Jugendliche aus den Mittelmeerländern wie möglich zum Lernen und Studieren einzuladen." Auch fragt er sich, ob italienische Professoren denn keine Notiz davon nehmen, dass es mit Il Mitte auch eine Berliner Onlinezeitung auf italienisch gibt.

Weitere Artikel: In Russland wurde bereits 1888 ein Nobelpreis im Namen des erfolgreichen Unternehmers Ludvig Nobel verliehen, dessen russische Erben heute gern ihren eigenen Nobelpreis verleihen würden, informiert Tim Neshitov. Roland Huschke trifft sich vor grün bepinselten Trickstudiowänden mit Regisseuren aktueller Fantasy- und Märchenfilme, nur um dann was von Ray Harryhausens alter Animationstricktechnik vorgeschwärmt zu bekommen (passend dazu auch dieses völlig trübsinnig stimmende Blog).

Besprochen werden Christian Boltanskis Werkschau in Wolfsburg ("Wohlfühl-Morbidität als moderner Schleiertanz", grummelt Till Briegleb), Sarah Polleys Beziehungsdrama "Take this Waltz", ein Stück über Queen Elizabeth II. am Londoner Gielgud Theater mit Helen Mirren (Alexander Menden ist verblüfft, "mit welcher spielerischen Leichtigkeit [diese] sich all diese Lebensalter überstreift") und Bücher, darunter Walter Seitters "Reaktionäre Romantik" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 07.03.2013

Piratin Marina Weisband hat genug von rüpelhaften Kommentaren auf ihren öffentlich geführten Facebook- und Twitter-Profilen. Die offene Diskussion sei inzwischen vor allem zu einer Methode verkommen, das politische Feld von vornherein auszusieben, wendet sie sich in einem Vorabdruck aus ihrem Buch "Wir nennen es Politik" an die Trolle: "Der offene Politiker hat keine Chance, er wird fertiggemacht. Wenn es ihm nicht scheißegal ist, was ihr von ihm haltet, wird er fertiggemacht. Von euch. Also schaffen es nur Leute an die Spitze, denen ihr egal seid. Und darüber wundert ihr euch dann. Eine bessere Demokratie ist nicht möglich. Wegen euch. Ihr habt nichts Besseres verdient. Sorry. Viel Glück beim nächsten Mal."

Weitere Artikel: Lena Bopp ist völlig hingerissen von der Schauspielerin Mélanie Laurent, die sie im Rahmen der PR für die Verfilmung des "Nachtzugs nach Lissabon" in Paris besucht. Joseph A. Kruse, ehemals Leiter des Heine-Instituts, erläutert einen vom Institut neu erworbenen Brief aus Heinrich Heines Feder. Leander Steinkopf meldet, dass deutsche Politiker einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge (hier als PDF, S.17-21) risikofreudiger sind als angenommen.

Besprochen werden Pablo Larrains Film "No!", Ludger Vollmers Opernadaption des Films "Lola rennt" am Theater Regensburg, Walter Hills Actionfilm "Shootout" und Bücher, darunter ein vom Filmmuseum Potsdam herausgebenes über den Dokumentarfilm der Defa (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).