Heute in den Feuilletons

Wo aber ist der Geist als solcher hin?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2013. In der NZZ beklagt Petros Markaris den dramatischen Niedergang Athens. Die taz klärt, dass auch die afrikanische Kolonialismuskritik ohne europäische Förderung nur halb so gut funktionieren würde. In der New Republic interveniert Yochai Benkler für Bradley Manning - im Interesse der New York Times. In der FAZ beschreibt der EU-Politiker Martin Schulz das "europäische Blame Game", das immer nur die nationalen Politiker gut aussehen lässt. Im Culturmag wirft Wolfram Schütte einen illusionslosen Blick auf die FR. Und Michael Seemann beklagt in seinem Blog das journalistische Totalversagen beim Thema Leistungsschutzrecht.

TAZ, 04.03.2013

Jede Menge antikolonialer Rhetorik hat Katrin Gänsler beim Filmfestival Fespaco in Ouagadougou genossen (Stichwort: kultivierter Kolonialismus), kann aber auch von Begegnungen mit pragmatischen Leuten wie Stephanie Dongmo berichten: "Sie stammt aus Kamerun und ist dort Präsidentin des Cinéma Numérique Ambulant (CNA), des ambulanten digitalen Kinos. Finanziert wird das Projekt seit zwölf Jahren ebenfalls mit europäischen Fördergeldern. Ziel ist es, mit Leinwand und Videoprojektor in die Dörfer zu fahren und Menschen auf dem Land ihr allererstes Kinoerlebnis zu ermöglichen - in Dörfern, in denen es weder Strom noch Fernseher gibt. Es sind Filme aus Afrika - finanziert von Europa. 'Wir müssen akzeptieren, dass wir in einer Zeit der Globalisierung leben', findet Stephanie Dongmo... Aus ihrer Sicht ist die Finanzierung aus Europa oft die einzige Chance, überhaupt afrikanische Filme machen zu können."

Der Südosteuropa-Spezialist Norbert Mappes-Niediek glaubt nicht an die gern zitierten Zigeuner-Könige, die aus Bulgarien und Rumänien kriminelle Roma-Banden dirigieren sollen: "Es gibt Ansehenshierarchien in den Roma-Quartieren, landesüblichen Klientelismus, auch Abhängigkeiten, meistens durch den informellen Geldverleih. Aber Strukturen von Befehl und Gehorsam sind den zahlreichen Sozialarbeitern, Anthropologen, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, die in Roma-Slums arbeiten und manchmal auch leben, bisher nicht aufgefallen. Auf die angeberisch vorgespiegelte Macht darf man ebenso wenig hereinfallen wie auf den ostentativen Konsum, der Reichtum suggerieren soll. "

Weiteres: Damian Zimmermann besucht die Werkschau des Fotografen Wolfgang Tillmans im Düsseldorfer K21. Christoph Zimmermann berichtet von einem Abend mit dem aus Kasachstan vertriebenen Regisseur Bolat Atabayev.

Und Tom.

Aus den Blogs, 04.03.2013

Nachdem die doch noch recht mächtigen Zeitungen das #lsr durchgepaukt haben, fragt sich Michael Seemann auf mspr0.de: "Wer kontrolliert eigentlich die vierte Macht im Staate? Die Antwort ist erschütternd. Während beinahe alle Verbände, Aktivisten, Experten und Wissenschaftler kein gutes Haar an den Gesetzesentwürfen zum Leistungsschutzrecht ließen, ignorierte die Presse diese Stimmen eisern und hörte nicht auf, das Gegenteil zu verkünden. Und noch schlimmer als das journalistische Totalversagen: es gab nur wenige Politiker, die sich trauten, dieser interessengeleiteten Kampagne öffentlich zu widersprechen."

Im Zentrum stand für Zeitungen und Politiker bei der Entscheidung für das Leistungsschutzrecht selbstverständlich das Interesse der Öffentlichkeit, hier symbolisch illustriert durch Monty Python:



Der Frühlingsanfang lässt sich dennoch nicht aufhalten: Das ist die Lieblingsplatte von Markus Trapp (mehr hier):



Nicht die Redaktion, sondern die Verlagsleitung der FAZ hat den Kauf der FR betrieben, schreibt der Ex-Grand Old Man des FR-Feuilletons Wolfram Schütte im Culturmag. Die FAZ kann nun den schrumpfenden Frankfurter Anzeigenmarkt monopolisieren, meint Schütte und wirft einen schmerzlich klaren Blick auf seine ehemalige Zeitung: "Mit dem publizistischen Qualitäts-Aufstieg der journalistisch vielfach überlegenen, politisch nahen SZ & einer von dem raffinierten, neugierigen, auftrumpfenden Frank Schirrmacher propagandistisch dominierten FAZ scheint eine tapfer ihren politischen Kurs haltende & ihn brav fortsetzende, aber journalistisch überwiegend glanzlose FR obsolet geworden zu sein."

NZZ, 04.03.2013

Der Schriftsteller Petros Markaris, genauer Beobachter der griechischen Krise, beschreibt den dramatischen Niedergang Athens. In manchen Wohnvierteln stehe heute jedes zweite Geschäft leer, die Altstadt sei verwaist und sein eigenes Viertel Kypseli leide sehr unter dem Auszug der Mittelschicht, die in der Zeit des fiktiven Reichtums die Stadt in Richtung Vororte verlassen habe. Leer stehen die Wohnungen darum nicht: "Mittlerweile schlafen die Migranten schichtweise in diesen Wohnungen. Es geht um schwarzes Geld... Weil der griechische Staat und die Stadt Athen seit Jahren keine vernünftige Migranten- und Stadtpolitik entwickeln konnten oder wollten und einfach wegschauten, sind diese Viertel zu Bastionen der Neonazi-Partei Goldene Morgenröte geworden."

Weiteres: Bernd Noack erinnert an die Theaterarchitekten Fellner & Helmer. Besprochen werden eine Inszenierung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" am Stadttheater Bern sowie der Bildband "China's Vanishing Worlds" von Matthias Messmer und Hsin-Mei Chuang (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Weitere Medien, 04.03.2013

Yochai Benkler, Autor von "The Wealth of Networks", schreibt in der New Republic über den Prozess gegen Bradley Manning, der Dokumente an Wikileaks weitergegeben hat und deshalb von hohen Strafen bedroht ist. Der Staatsanwalt, so Benkler, wurde im Prozess gefragt, ob er Manning auch verfolgt hätte, wenn dieser die Dokumente an die New York Times gegeben hätte. Darauf hat der Staatanwalt geantwortet: "Yes Ma'am". Für Benkler ist das der Beweis, dass Wikileaks sehr wohl als ein Medium verstanden werden muss, das dem gleichen Schutz unterliegen muss wie die Presse: "That 'Yes Ma'am' ... makes the Manning prosecution a clear and present danger to journalism in the national security arena." Mehr zum Thema auch von Matthew Ingram in paidcontent.

Welt, 04.03.2013

Eckhard Fuhr berichtet, wie in Frankfurt CDU, Grüne und SPD das geplante Museum der Deutschen Romantik abgewürgt haben. 12 Millionen wollte der Bund dazugeben, vier Millionen Frankfurt. Kulturdezernent Felix Semmelroth (CDU) hatte zwar angeboten, "diese vier Millionen künftig aus seinem Etat herauszupressen. Dieses Angebot schlug Schwarz-Grün aus, wobei, wie zu hören ist, sich hier vor allem die Grünen querlegten. Die schmerzt wohl noch, dass sie sich schon vor Längerem vom Projekt eines Museums der Weltkulturen verabschieden mussten. Da sollte dann ein Museum deutscher Weltliteratur auch nicht sein dürfen."

Weitere Artikel: Die kanadische Journalistin Shereen El Feki wiederholt im Interview über ihr Buch "Sex und die Zitadelle" noch einmal ihr Mantra: "Was im Schlafzimmer passiert, ist verbunden mit dem, was im politischen und ökonomischen Leben passiert."(Hier unser Vorgeblättert zum Buch.) Barbara Möller mokiert sich über die Proteste gegen einen Teilabriss der Eastside Gallery und den Ich-weiß-von-nix-Bürgermeister Wowereit.

Besprochen werden Puccinis Oper "Manon Lescaut", mit Christian Thielemann am Pult, in Dresden, Alan Bennetts Komödie "People" im National Theatre in London, Nora Ephrons Stück "Lucky Guy" mit Tom Hanks am Broadway ("Mister Nice Guy wird auf der Bühne ein hinreißendes Ekel", freut sich Uwe Schmitt), die Uraufführung von Anna Katharina Hahns "Die Schatzsucher" am Heilbronner Theater und David Bowies neues Album.

SZ, 04.03.2013

Sehr schwermütig wird Burkhard Müller bei der Lektüre von Jürgen Großes Buch über den Verbleib des Geistes. Denn dieser ist dem Abendland offenbar gründlich abhanden gekommen: Er "ist ein Wesen der gedankenlosen Komposita geworden. Da steckt er teils vorn, im Geistesblitz, in der Geistesverwandtschaft und besonders den Geisteswissenschaften, teils hinten, in Korpsgeist, Parteigeist, Geschäftsgeist, wobei auf der Hand liegt, dass diese mit dem Geist so viel zu tun haben wie Parteifreund und Geschäftsfreund mit dem Freund. Wo aber ist der Geist als solcher hin? Partiell hat ihn bestimmt die Kultur beerbt; aber aus großen Bezirken hat er sich offenbar ohne Nachfolger verabschiedet." Auch an anderen Stellen wurden zuletzt Vermisstenanzeigen in dieser Sache aufgegeben: Etwa in diesem Radiofeature von Walter van Rossum (hier als MP3 aus dem Podcast des Deutschlandfunks, sowie hier als Manuskript).

Außerdem: Volker Breidecker wünscht sich mehr Bürgerengagement für das seit geraumer Zeit geplante, nun wegen Einsparungen gefährdete Deutsche Romantik-Museum in Frankfurt. Gottfried Knapp staunt über die frisch restaurierte Kunstkammer des Kunsthistorischen Museums in Wien.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Wolfgang Tillmans im K21 Ständehaus in Düsseldorf, Stefan Herheims Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" an der Semperoper in Dresden, die Bühnenadaption von Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" am Deutschen Theater Berlin, eine Aufführung von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte "Der Untergang des Hauses Usher" am Münchner Residenztheater und Bücher, darunter Carl van Vechtens Roman "Nigger Heaven" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 04.03.2013

Ein recht wütender Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, beschreibt am Beispiel des Streits um die Tobin-Steuer das europäische Blame Game, das in allen Staaten der EU darin besteht, stets die EU-Bürokratie als Sündenbock dastehen zu lassen. Ziel sei es, "Europa zu diffamieren, seine Institutionen lächerlich zu machen und seine Repräsentanten als Deppen darzustellen, um die nationalen Politiker möglichst gut aussehen zu lassen."

Weitere Artikel: Marcus Jauer glossiert den Berliner Streit um einen Mauerrest. Dieter Bartetzko schimpft auf die Frankfurter Kulturpolitik, die weder Romantik-Museum noch einen Neubau für ein Frankfurter Volkstheater will. Martin Maurach verfolgte ein Kasseler Kolloquium über Religion und Humor.

Besprochen werden unter anderem eine Ausstellung über die "Demografische Chance" im Berliner Naturkundemuseum, ein "Peer Gynt" in Düsseldorf und Puccinis "Manon Lescaut" unter Christian Thielemann in Dresden sowie Bücher, darunter Bernhard Kegels Essay über "Tiere in der Stadt" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).