Heute in den Feuilletons

Teuflisch gut, einschüchternd bissig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2013. Die taz hat das Problem der Seligen: Die Liebe zu Wagners Musik macht blind für den Fall Wagner - dank Barenboim (und Wagner natürlich). In der SZ feiert der Historiker Lutz Klinkhammer den Wahlerfolg Beppe Grillos als Sensation. In der FAZ wehrt sich Ulrich Enzensberger gegen Vorwürfe Wolfgang Kraushaars in seinem Buch über "München 1970". Alle Zeitungen schreiben über Milo Raus Reinszenierung putinistischer Prozesse in Moskau. Das Blog Farhoo fragt: Fallen sprechende Links künftig unter das Leistungsschutzrecht?

Welt, 05.03.2013

Der Regisseur Milo Rau hat im Rahmen eines dreitägigen Theaterprojekts im Moskauer Sacharow-Zentrum Prozesse gegen russische Künstler nachgestellt - mit Künstlern, Anwälten, orthodoxen Aktivisten und Kunstkritikern, erzählt Julia Smirnova. "Rau lässt sie drei reale Gerichtsprozesse nachspielen, bei denen es stets um die Frage ging, was Kunst darf in Russland und was nicht. Die Protagonisten treten als Experten, Zeugen, Ankläger und Verteidiger auf - nur dass diesmal, anders als bei den echten Prozessen, auch wirklich hinterfragt und verhandelt wird."

Weitere Artikel: Michael Pilz porträtiert den Folkmusiker Bonnie "Prince" Billy. Dankwart Guratzsch freut sich über den neuen Dresdener Riesensaal.

Besprochen werden eine uninspirierte Aufführung von Wagners "Götterdämmerung", inszeniert von Guy Cassiers und dirigiert von Daniel Barenboim, Kay Voges' Theaterproduktion "Das Fest", Joann Sfars Comic über "Chagall in Russland" ("großer Wurf", versichert Waldemar Kesler) und ein Arte-Dokumentarfilm über israelische Geheimdienstler.

Aus den Blogs, 05.03.2013

(Via Ulrike Langer) Das Blog Faroo.com benennt sehr verdienstvoll schon einige der Rechtsunsicherheiten, die durch das Leistungsschutzrecht entstehen:
-"Welche Angebote stammen von einem Presseverleger und fallen damit unter das Gesetz, wenn deren Kennzeichnung nicht vorgeschrieben ist
- Wie viele Worte/Zeichen sind zulässig (ohne diese Angabe ist alles was länger als zwei Worte ist Russisch Roulette)
- Fallen Worte in einem Link (sprechende URL) auch unter die Beschränkung? Eventuell wird dadurch eine Verlinkung unmöglich.
- Dürfen Sprechende URL auch angezeigt werden, oder müssen sie vor dem Nutzer verborgen werden (der weiß dann nicht auf was er klickt)"

NZZ, 05.03.2013

Sehr beeindruckt berichtet Dirk Pilz von Milo Raus "Moskauer Prozesse", in denen er die jüngsten putinistischen Verfahren gegen Pussy Riot und andere Künstler neu aufrollte. Beste politische Installationskunst sei das, kein Re-Enactment mit pädagogischem Anspruch, freut sich Pilz: "In teilweise scharf geführten, mitunter turbulenten Debatten, vor allem zwischen der leider überforderten Richterin und dem teuflisch guten, einschüchternd bissigen Maxim Schewschenko, wurde schnell klar, dass diese 'Moskauer Prozesse' den Kern der russischen Gesellschaft betreffen: ihre offenkundig ungeklärte Identität. In größter Deutlichkeit traten jene Konflikte zutage, die das Verhältnis von Kirche und Staat, Kunst und Religion betreffen."

Feuilletonchef Martin Meyer winkt mit einer Besprechung von Frank Schirrmachers Polemik "Ego" seinem Kollegen von der FAZ recht freundlich zu. Allerdings merkt er auch an, dass Schirrmacher dazu tendiert, die andere Seite zu übersehen: "Dass Politik und verwaltende Bürokratie das Blaue vom Himmel versprachen, derweil die Leistungsbilanz auf dem Kriechgang lief; und dass die meisten Traktanden im Sinne einer Rückkehr zu geordneten Haushalten bis heute weitherum tabu sind - Italien darf grüßen."

Weiteres: Joachim Güntner kann den Erfolg von Timo Vermes' Hitler-Satire "Er ist wieder da" nur indigniert zur Kenntnis nehmen: "Sein Massenerfolg wirft ein unschönes Licht auf das Publikum." Besprochen werden unter anderem Erich Mühsams Tagebücher und Emmanuel Boves Erzählband "Begegnung" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 05.03.2013

(via open culture) E. E. Cummings liest "Anyone lived in a pretty how town", 1953:



TAZ, 05.03.2013

Ganz ergriffen ist Niklaus Hablützel von Daniel Barenboims "Götterdämmerung", die er "reich und schön" fand, nein, reine Musik, fast ein Wunder: "Barenboim liebt Wagners Musik. Das ist wörtlich zu nehmen. Liebe macht blind, in diesem Fall blind für all das, was seit Nietzsche der 'Fall Wagner' heißt, ein Gegenstand von Debatten also, die zur Stellungnahme zwingen. Antisemit und Protonazi oder nicht? Die Staatskapelle spielt die ersten Takte des Prologs zur 'Götterdämmerung', und diese Fragen stellen sich nicht mehr."

Klaus-Helge Donath stellt klar, dass zwar mehrere Protagonisten von Milo Raus Stück "Moskauer Prozesse" der Wirklichkeit entstammten, die Beamten der Einwanderungsbehörde aber, die die Aufführung sprengten, standen nicht im Skript: "Der Staat war der einzige nicht gecastete Teilnehmer, der die Veranstaltung in den Wirklichkeitsmodus zurückholte. Der repressive Apparat führte sich selbst vor."

Weiteres: Stefan Reinecke erinnert daran, dass mit Stalins Tod vor sechzig Jahren auch seine Schreckensherrschaft zu Ende ging. Sonja Vogel unterhält sich mit dem Journalisten Lorenz Lochthofen, der als als Sohn eines kommunistischen Häftlings im Gulag aufgewachsen ist. Micha Brumlik liest Irene Runge Streifzüge durch New York "Wie ich im jüdischen Manhattan zu meinem Berlin fand oder Reisen Ankommen Leben". Jannis Hagmann hört sich das neue Album "Buck" von Daniel Norgren an.

Und Tom.

SZ, 05.03.2013

Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut in Rom skizziert die politischen Konstellationen Italiens seit dem Zweiten Weltkrieg, um für die heutige Lage festzustellen: "Das italienische Wahlergebnis ist eine Sensation, obwohl man das Ergebnis erahnen konnte. Zwei Bollwerke, die sich im Wahlkampf gegenüberstanden, sind soeben von einem Komiker gesprengt worden. ... Beppe Grillo ist es bitterer Ernst damit, wenn er der wohlgenährten politischen Klasse Italiens die rote Karte zeigt."

Außerdem: Die Zwischenfälle beim Theater-Reenactment des "Pussy Riot"-Prozesses in Moskau bildeten laut Tim Neshitov "eine angemessen skurrile Kulisse zu einem gelungenen Stück politischen Theaters". Das Holocaust Memorial Museum in Washington hat 42.500 Terrorstätten des Nationalsozialismus ermittelt, meldet Jens Bisky (mehr hier in der New York Times). Pariser Bühnen widmen sich in dieser Saison auffallend stark der Familie, berichtet Joseph Hanimann. Lothar Müller meldet, dass Len Deightons 1970 erschienener "Bomber" das erste auf einem (sagenhafte 100 Kilo schwerem) Word Processor geschriebene Buch ist.

Besprochen werden Michael Hammons Dokumentarfilm "Gold", eine Ausstellung über die "Massenkultur der Kulturrevolution" im Museum Rietberg in Zürich, eine müde Kombi-Aufführung nach Byung-Cul Han und Peter Handke am Staatstheater Karlsruhe und Bücher, darunter eine von Bernhard Kleeberg herausgegebene Anthologie über "Schlechte Angewohnheiten" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 05.03.2013

Ulrich Enzensberger, der jüngere Bruder von Hans Magnus, verwahrt sich gegen Vorwürfe Wolfgang Kraushaars, der in seinem Buch über "München 1970" dem Anschlag auf ein jüdisches Altenheim nachgeht und nach Spuren im Kreis um Fritz Teufel sucht, zu dem Enzensberger gehörte. "Ich habe nichts getan und nichts gewusst", so die Überschrift von Enzensbergers Artikel: "Die öffentliche Ausstreuung vager Verdächtigungen darf eine präzise Beweisführung nicht ersetzen und wird dem Anspruch auf Aufklärung dieses heimtückischen Brandanschlags nicht gerecht. Die zitierten Stellen erfüllen den Tatbestand der üblen Nachrede." Enzensberger hofft aber auch, dass seine Erklärung dazu beitragen kann, "die verborgenen Täter hinter dem Anschlag namhaft zu machen".

Weitere Artikel: Kerstin Holm berichtet über die von Milo Rau besorgte dokumentardramatische Nachstellung des Moskauer Prozesses um die Ausstellung "Vorsicht, Religion!" im Jahr 2003, der schon vor dem Prozess gegen Pussy Riot ein Akt putinistischer Gleichschaltung war. Stefan Koldehoff berichtet, dass die Stuttgarter Staatsgalerie eine "Jungfrau mit dem Kind" an die Familie des Kunstsammlers Max Stern zurückgibt. Aus Slate (hier) wird Evgeny Morozovs Kolumne übernommen - er schreibt über den künstlerischen Sieg wirklicher Menschen über den Algorithmus. Für die Medienseite berichtet Oliver Jungen vom Fernsehfestival in Köln. Empfohlen wird Dror Morehs Gesprächsfilm "Töte zuerst",in dem sich der Filmemacher mit ehemaligen israelischen Geheimdienstchefs unterhält (heute Abend auf Arte).

Besprochen werden "Was geschah mit Baby Jane" mit Corinna Harfouch und ihrer Schwester Catherine Stoyan in Stuttgart, eine "Götterdämmerung" an der Berliner Staatsoper, eine Watteau-Ausstellung in Brüssel, eine Ausstellung über Mendelssohn und Bach in Berlin, eine Ausstellung südafrikanischer Reportagefotografie in München und Neueinspielungen von Beethovens Violinsonaten. Eleonore Büning empfiehlt besonders diejenige von Kristóf Baráti und Klára Würtz. Hier ein Satz aus der "Kreutzer-Sonate" (und hier ein Video-Interview mit den beiden):