Heute in den Feuilletons

Scheinbar problemlose Leichtigkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2012. Die AG Dokumentarfilm schlägt in einem Papier auf Carta eine tiefgreifende Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vor - der im Netz nicht mehr an die üblichen Anstalten gebunden sein soll. Ha'aretz konfrontiert den berühmten Friedensforscher Johan Galtung mit seinen Theorien über Anders Breivik und den Mossad. Die FR macht sich Sorgen über den Umbau der New York Public Library. Die FAZ ist entsetzt über die Kölner Kulturpolitik. Die SZ macht sich mit Nicholas Payton Gedanken über die Frage, ob Jazz besser als "Black American Music" bezeichnet werden soll.

Welt, 02.05.2012

In seinem Leitartikel argumentiert Gerhard Gnauck gegen einen politischen Boykott der Fußball-Europameisterschaft: "Sigmar Gabriels Argument, man solle sich besser nicht neben Gefängnisdirektoren und Geheimpolizisten setzen, ist rührend, aber zugleich in gewisser Weise ausbaufähig. Denn deutsche Politiker und Wirtschaftskapitäne sitzen immer wieder neben Staatslenkern, die - mehr oder weniger buchstäblich - Gefängnisdirektoren und Geheimpolizisten sind. Da ist eine Begegnung im Stadion unter den Augen der Öffentlichkeit einem Treffen im Hinterzimmer doch entschieden vorzuziehen."

Im Feuilleton berichtet Anne Waak von einem Treffen mit dem erfolgreichen Illustrator Christoph Niemann, der unter anderem Titelbilder für den New Yorker gestaltet. Clemens Bonsdorf arbeitet die Provenienz von Edvard Munchs Meisterwerk "Der Schrei" auf, das heute in New York versteigert wird.

Außerdem gibt es Besprechungen des Tanzstücks "(play)" beim Movimentos-Festival in Wolfsburg, der Oper "IQ" bei den Schwetzinger Festspielen, des Theaterstücks "Der Freund krank" am Schauspiel Frankfurt und des ARD-Films "Die Heimkehr" nach Hermann Hesse.

Weitere Medien, 02.05.2012

Der norwegische Soziologe Johan Galtung, sogenannter "Vater der Friedensforschung" hat die Quelle allen Unfriedens in der Welt ausgemacht. Es handelt sich um die üblichen Verdächtigen, schreibt Ofer Aderet in Ha'aretz unter Bezug auf einen Artikel Galtungs, mündliche Aussagen in der Uni Oslo und ein Interview mit Ha'aretz (aufgebracht hat das Thema die norwegische Website Humanist.no): "Among other claims, Galtung stated that there is a possible link between Anders Behring Breivik, responsible for massacring dozens of children in Norway last summer, and Jewish and Israeli factions. The connection is supposedly based on the fact that the murderer has ties to the 'Freemasons' organization, 'which has Jewish origins,' according to Galtung. The supposed connection to Israel is through the Mossad - which Galtung believes might have given Breivik his orders."

Aus den Blogs, 02.05.2012

Was sind Hörfunk und Fernsehen im Zeitalter des Internets? Und können nur die bisherigen "Anstalten" öffentlich-rechtlich finanzierte Internetangebote erstellen? Nein, meint die AG Dok in einem Papier, das auf Carta veröffentlicht ist: "Wir schlagen vor, neben der fortlaufenden Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks künftig zehn Prozent der Haushaltsabgabe zur Finanzierung frei produzierter Internet-Inhalte einzusetzen... Durch die Konkurrenz zweier öffentlich-rechtlicher Systeme (nämlich des traditionellen und des neuen, Internet-basierten) wird erstmals ein wirklicher Markt für anspruchsvolle Informations- Kultur- und Bildungsprogramme entstehen."

Der Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger denkt auf Vocer über die Dramaturgie von Skandalen in Deutschland nach: "Besonders deutlich wird die Fixierung der Deutschen auf geldwerte Vorteile im Fall von VW: Zum Skandal wurde nicht, dass die Mitarbeiter ihre Frauen betrogen hatten, sondern dass das Unternehmen dafür bezahlt hatte. In den USA wäre es umgekehrt gewesen."

Geoff Dyer hat ein (streckenweise offenbar recht komisches) Buch über Tarkowskys Film "Stalker" geschrieben, "Zona" (Leseprobe). Gabriel Winslow-Yost ist im Blog der New York Review of Books recht angetan, möchte das Buch aber noch um die Information ergänzen, dass es auch eine ganze Menge Ego-Shooter-Spiele gibt, die auf dem Film beruhen: "The Zone in the video games is a beautifully dangerous place, bigger and grimmer than Tarkovsky's, but somehow still appropriate. There are plenty of long, tense walks through damp weather or empty, creaking tunnels." Hier eine Kritik zu Dyers Buch im Observer.

FR/Berliner, 02.05.2012

New Yorks Intellektuelle sind entsetzt! Die wunderbare Public Library soll für 20 Millionen Dollar "demokratisiert", der Lesesaal in ein "Computer-orientiertes" modernes Multimedia-Zentrum nebst Café umgebaut werden, berichtet Sebastian Moll. "Dafür muss zunächst einmal Platz geschaffen werden. Drei Millionen Bände der ständigen Sammlung, die unter dem großen Lesesaal lagern und die man bislang innerhalb von Minuten in der Hand hielt, sollen auf die andere Hudson-Seite nach New Jersey ausgelagert werden. Laut Liebhabern des prachtvollen Beaux Arts Tempels nicht zuletzt auch eine architektonische Sünde. "Das Gebäude wurde rund um die Büchergewölbe herum konzipiert", sagt der Architekturhistoriker Charles Warren. 'Es ist, als reiße man sein Herz heraus.'"

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte resümiert die Oberhausener Kurzfilmtage, die ihren Großen Preis an den israelisch/palästinensischen Film "Snow Tapes" verliehen haben. Sebastian Preuss kommentiert die Versteigerung von Munchs Gemälde "Der Schrei" heute abend in New York.

Besprochen wird unter anderem Esther Slevogts Biografie des Theatermanns Wolfgang Langhoff (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 02.05.2012

Beeindruckt hat sich Stefan Reinecke in Schloss Neuhardenberg die Ausstellung über den Gulag angesehen, die Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und Irina Scherbakowa von der Moskauer Stiftung Memorial organisiert haben: "Der Gulag ist ein Verbrechen fast ohne Bilder... Zwei Millionen Tote, aber kaum optische Zeugnisse. Der Holocaust ist im kollektiven Gedächtnis mit einer Art Ikonografie assoziiert. Wir kennen die längst zu Stereotypen geronnenen Bilder, die die Befreier in Bergen-Belsen machten. Filmische Dokumente aus Kolyma oder Norilsk existieren nicht. Auch deshalb ist Bergen-Belsen Teil des kollektiven europäischen Gedächtnisses geworden, Norilsk Terra incognita geblieben."

Weiteres: Dietmar Kammerer hat sich bei den Kurzfilmtagen Oberhausen von der Reihe "Mavericks, Mouvements, Manifestos" an die frühen Außenseiterfilme erinnern lassen. Jochen Schimmang feiert Patricia Görgs "Handbuch der Erfolglosen".

Um der Größe Axel Springers auf die Spur zu kommen hat sich Steffen Grimberg für die Medienseite nach Schleswig ins Schloss Gottorf begeben, dem der Verleger seine Sammlung norddeutscher Fayence-Teetische gestiftet hat. Silke Burmester begutachtet die Ergebnisse der neuesten Zielgruppen-Analysen aus dem Hause Gruner und Jahr.

Und Tom.

NZZ, 02.05.2012

Samuel Herzog berichtet süffisant, aber durchaus angeregt von der 7. Berlin-Biennale. Die politische Aurichtung der Veranstaltung mit ihren Aufrufen zum Widerstand, dem Willen zur Provokation und dem Wunsch nach Veränderung sei legitim, werfe aber auch grundsätzliche Fragen auf: "Was uns aber nach dem Besuch in Berlin mehr beschäftigt als sonst, ist die Frage nach der Motivation. Macht man politische Kunst um der Sache willen, für mehr Gerechtigkeit auf der Welt? Oder tut man es mit dem Ziel, ein Kunstwerk zu schaffen?"

Außerdem gibt es einen Nachruf von Oliver Jens Schmitt und Konrad Clewing auf den albanischen Schriftsteller und Kulturwissenschafter Ardian Klosi, der sich vergangene Woche das Leben genommen hat. Urs Schoettli stellt zwei vom Institute of Southeast Asian Studies in Singapur herausgebrachte Bücher über den philippinischen Nationalhelden José Rizal und den chinesischen Revolutionsführer Sun Yat-sen vor. Besprochen werden die Ausstellung "Backyard Oasis" im Palm Springs Art Museum angesehen, die dem Swimming Pool als Zentrum des kalifornischen Lifestyles nachspürt, und einige Kinder- und Jugendbücher.

SZ, 02.05.2012

In den USA ist eine weite Kreise ziehende Diskussion über den Begriff "Jazz" im Gange, informiert Christian Broecking, der die Debatte in aller Ausführlichkeit nachzeichnet. Angeregt hat sie (hier und hier) der Musiker Nicholas Payton, der in seinem Blog "The cherub speaks" den Begriff wegen rassistischer Konnotationen durch "Black American Music" ersetzt wissen möchte, damit klar wird: diese Musik wurde von Schwarzen erfunden, auch wenn viele Weiße sie gespielt haben. So benennt Payton unter anderem etwa auch das Problem, "dass die Schwarzen, die er gern als Publikum hätte, sich keine Eintrittskarte leisten können oder würden. 'Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass schwarze Amerikaner den Jazz heute als weiße Musik begreifen.' Payton erinnerte an eine Zeit, als die Jazz-Bühne der einzige Platz auf Erden gewesen sei, wo ein schwarzer Amerikaner sich frei fühlen und ausdrücken konnte."

Weiteres: "Nie waren in den letzten dreißig Jahren die Pariser Intellektuellen in einem Wahlkampf so stumm wie diesmal", beobachtet Joseph Hanimann. Jörg Häntzschel macht in den USA eine Liberalisierung im gesellschaftlichen Verhältnis zum Strafvollzug aus. Ein "Netzhaut-Erlebnis der Extraklasse" erlebte Dorion Weickmann bei einer von Wayne McGregor choreografierten, avantgardistischen Tanzperfomance in Berlin, während die angeschäkerte "Stiletto-&-Lurex-Schickeria" rasant Reißaus nah. Jenny Hoch berichtet von den Plänen der Berliner "Bar 25"-Macher für einen Kulturkiez auf dem früheren Bar-Areal an der Spree. Egbert Tholl sah beim Münchner Festival "Radikal Jung" poltisches Theater aus dem Ausland. Wolfgang Schreiber schwärmt nach Marc-André Hamelins Konzert von dessen "scheinbar problemloser Leichtigkeit", mit der der Pianist Maurice Ravels anspruchsvolles Klavierwerk "Gaspard de la Nuit" "hervorschleudert".

Auf der Seite 2 der SZ prophezeit Erhard Eppler den Piraten den baldigen Untergang: Alle wichtigen Fragen zum Internet und Urheberrecht würden eh vom Bundesverfassungsgericht entschieden, "kurz: Die politische Partei der Piraten kann, was ihre Kernforderungen angeht, gar nichts liefern. Insofern verdanken wir die Gründung dieser Partei einem Missverständnis. Wo es nicht um die Freiheit im Internet geht, also doch um Politik, gleicht das zusammengestoppelte Programm der Piraten eher einem Wunschzettel an den Nikolaus."

Besprochen werden Christophe Honorés Film "Die Liebenden" mit Catherine Deneuve und Bücher, darunter die Dokumentation von Paul Celans Korrespondenz mit Heinrich Böll, Paul Schallück und Rolf Schroers (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 02.05.2012

NRW-Korrespondent Andreas Rossmann ist verzweifelt über seine Stadt Köln, die gerade den kompetenten Opernintendanten Uwe Eric Laufenberg vergrault und durch chaotische Politik die Institution selbst gefährdet: "Die Stadt beweist wieder einmal, dass sie leitende Angestellte, die sich für sie engagieren und einen eigenen Kopf haben, auf Dauer überfordert. Klüngelkompatibilität zählt hier mehr als Kompetenz. Als es darum hätte gehen müssen, die von Hamburg umworbene Schauspielintendantin Karin Beier zu halten, wurde nicht einmal der kleine Finger gekrümmt, der geradlinige Baudezernent Bernd Streitberger wird an die Spitze einer Wohnungsbaugesellschaft weggelobt, der Operintendant vergrätzt."

Weitere Artikel: Im Aufmacher freut sich Helmut Mayer, dass Stéphane Hessel nach "Empört Euch" nun ein weiteres Büchlein mit seiner Lebensbilanz vorlegt. Daniel Haas feiert die Souldiva Gloria Scott, die nach langer Zeit wieder auf der Bühne steht. Auf der Medienseite bringt Detlef Borchers neue Erkenntnisse über die Abtastung von WLAN-Daten durch die Autos von Google Street View vor zwei Jahren (mehr dazu in der NYT). Und Michael Hanfeld meldet, dass der MDR seinen neuen "Tatort" unüblicherweise ausschreibt.

Besprochen werden eine kleine Ausstellung über den Gulag im Schloss Neuhardenberg, Céline Sciammas Film "Tomboy" (mehr hier), Simon Stephens' Stück "Wastwater" im Wiener Akademietheater, Konzerte der Wittener Tage für neue Kammermusik und Bücher, darunter drei neue Biografien über Axel Springer (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).