Heute in den Feuilletons

Plan zur Sicherung der Moral

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2011. Jürgen Habermas beantwortet fast alle Fragen, aber keine zum Weltuntergang, notiert die FR. Die NZZ analysiert eine Email von Mutters Teekessel. In der taz erzählt Filmregisseur Ulrich Köhler von einem Krankenhausleiter, der sich in ein Nilpferd verwandelte, um die Konkurrentin zu töten. In der Welt erinnert sich Fritz J. Raddatz an sein Treffen mit Czeslaw Milosz. Die FAZ schildert die trostlose Gegenwart der kubanischen Jugend. Im Iran werden Männer mit Halsketten verhaftet, berichtet die SZ.

FR, 18.06.2011

Völlig überfüllt war das Audimax der Berliner Humboldt-Universität bei einem Vortrag des Philosophen Jürgen Habermas zur Lage des politischen Projekts Europa. Harry Nutt kam aber rein, teilt mit, dass Habermas zwischen "nationaler Identität und der Entwicklung zu einer transnationalen Volkssouveränität" keinen Widerspruch sieht und berichtet auch dies: "Am Ende prasselten Sympathiebekundungen und Fragen auf den Vortragenden ein. Wie er zu einem EU-Beitritt der Türkei stehe? Was er von den beabsichtigten dänischen Grenzkontrollen halte? Wie er die Lage im Iran sehe? Eine junge Frau, die vor ihrer Frage erst den Anruf ihres Babysitters wegdrücken musste, wollte wissen, ob er an den Weltuntergang glaube. Habermas trat einen Schritt zurück und ging kurz in sich. Als Philosoph müsse er sich auch mit unbeantwortbaren Fragen auseinandersetzen. Diese aber gehöre nicht dazu."

Weitere Artikel: Ausführlich gewürdigt werden 20 Jahre Museum für Moderne Kunst Frankfurt. Sandra Danicke schreibt über die auf zwei Orte verteilte Jubiläumsausstellung und unterhält sich mit dem längst anderweitig tätigen Gründungsdirektor Jean-Christophe Ammann, der zu späteren Ankäufen durchweg sehr klare Ansichten hat: "Tobias Rehberger ist eine Knalltüte. Würde ich nie kaufen." Im Abdruck eines Vortrags liest der Soziologe Hartmut Rosa die tendenziell romantischen Resonanz-Überlegungen des Philosophen Charles Taylor mit Pink Floyds Spektakel "The Wall" - eventuell aber auch umgekehrt. In einer "Times Mager" kommentiert Hans-Jürgen Linke das "Kulturvernichtungs-Desaster", das die niederländische Rechtsregierung wohl anrichten wird.

Besprochen werden die Uraufführung von William Forsythes neuer Choreografie "Sider" im Festspielhaus Hellerau (die Sylvia Staude reichlich "ratlos" zurücklässt) und Roger Vontobels Bochumer Inszenierung von Schillers "Jungfrau von Orleans".

NZZ, 18.06.2011

Wenn die Mutter von Frau Kume sich bis um 10 Uhr noch keinen Tee gekocht hat, schickt ihr Wasserkessel eine Mail an die Tochter, erzählt Florian Coulmas aus Japan. Das ist praktisch, aber ganz unproblematisch sind diese technischen Überwachungsmöglichkeiten nicht: "Frau Kume hilft diese Einrichtung dabei, sich um ihre Mutter zu kümmern, ohne ihre Arbeit aufzugeben. Gleichzeitig ist der in seiner Kommunikationsfähigkeit ja noch recht beschränkte Wasserkocher Symptom einer weiterreichenden Entwicklung, nämlich des Eindringens der neuen Medien in die Privatsphäre und ihrer Funktion bei der Entstehung einer überwachten Gesellschaft. Frau Kumes Mutter bedarf der diskreten Aufsicht, aber sorgender Kontakt unterscheidet sich von Rundum-Kontrolle nur graduell."

Weitere Artikel: Joachim Güntner berichtet von einem - wie er meint wohl aussichtslosen - Prozess gegen den Kunstkritiker Werner Spies im Zusammenhang mit dem Kölner Kunstfälscher-Skandal und fordert die Beseitigung einiger "objektiver Missstände" auf dem Kunstmarkt. Marc Zitzmann erzählt, welcher Fluch seit 1975 auf dem Fauteuil Nummer 32 der Academie francaise lastet.

Besprochen werden die Fotoausstellung "Über Leben" im Deutschen Historischen Museum in Berlin und die Ausstellung "Die gottlosen Maler von Nürnberg: Grafik von Sebald und Barthel Beham" im Albrecht-Dürer-Haus in Nürnberg.

In der Beilage Literatur und Kunst gibt es einen Kleist-Schwerpunkt: Rüdiger Görner erzählt von Kleists Vorhaben, sich in der Schweiz als Bauer niederzulassen. Besprochen werden zwei Kleist-Biografien und Barbara Vinkens Essay "Bestien. Kleist und die Deutschen". Außerdem berichtet Bernard Imhasly über die Schweizer Rolle bei den ersten archäologischen Forschungen in Bhutan. Und im Aufmacher schreibt Martin Meyer über Henning Ritters "Notizhefte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 18.06.2011

Cristina Nord hat den Filmemacher Ulrich Köhler getroffen und spricht mit ihm über seinen Film "Schlafkrankheit" (hier unsere Kritik) und seine Kindheitserlebnisse als Sohn von Entwicklungshelfern in Afrika, die seinen Film autobiografisch grundieren: "'Mit unseren Einbäumen haben wir versucht, den Fluss immer weiter hochzufahren. Wir waren halbe oder ganze Tage außerhalb der Reichweite unserer Eltern irgendwo auf dem Fluss, sind geschwommen, haben gespielt und versucht, Fische zu fangen.' Sie haben Nilpferde beobachtet und Geschichten gelauscht, über eine Frau, die mit einer Schlange schläft und daraufhin ein behindertes Kind zur Welt bringt, oder über einen Krankenhausleiter, der sich in ein Nilpferd verwandelt und seine Konkurrentin tötet, während sie badet."

Weitere Artikel: Mit dem Berliner Gartenbaudirektor Klaus von Krosigk geht Alem Grabovac im Tiergarten spazieren. Christian Rohm stellt die Foodstylistin Anke Rabeler und ihre Arbeit vor. Dirk Knipphals kommentiert die seiner Ansicht nach selbstverschuldete Insolvenz des Eichborn Verlags. In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne denkt Tania Martini darüber nach, was der Österreicher mit "a geh" und der anders gearteten Vorsilbe Ge- linguistisch so anstellt. Michael Rösener unterhält sich mit dem Historiker Volker Weiß über dessen Buch "Deutschlands Neue Rechte" und das heißt auch über die Thesen des Thilo Sarrazin.

Besprochen werden die Premiere von Christoph Winklers Tanzstück "Baader - Choreografie einer Radikalisierung" im Berliner Ballhaus Ost, die von Klaus Wowereit höchstpersönlich initiierte Kunst-Leistungsschau "Based in Berlin" und Bücher, darunter Barus Comic "Hau die Bässe rein, Bruno!" und Joachim Meyerhoffs autobiografischer Roman "Alle Toten fliegen hoch" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 18.06.2011

Leider hat heute wieder jemand vergessen, die Artikel online zu stellen.

Fritz J. Raddatz erinnert in der Literarischen Welt an den großen Dichter Czeslaw Milosz, der vor hundert Jahren geboren wurde und wie kein anderer die eigene Existenz mit dem "Licht der Skepsis" ausleuchten konnte: "Als ich im Herbst 1980 den frisch gekürten Nobelpreisträger Czeslaw Milosz in Berkeley besuchte, konfrontierte er mich zu Beginn unseres Gesprächs mit apodiktischen Donnerworten: Sartre - 'verabscheuungswürdig und dumm'; Beckett - 'mag ich nicht'. 'Dichtung entsteht immer aus dem Widerspruch - Bitterkeit und Ekstase, Verzweiflung und Ekstase'. Damit ging er auf meine etwas hartnäckigen Fragen nach der moralischen Teilhabe ein, die ich als wesentliches Element seiner Lyrik zu erkennen meinte und die er mir nur sehr zögernd einräumte: 'Ich fühle mich da eher gezwungen, vergewaltigt.'"

Weiteres: Johannes Tuchel stellt die Briefe von Alexander Schmorell und Christoph Probst vor, zweier zentraler Figuren im Widerstand der Weißen Rose. Jacques Schuster trifft den Historiker (und Kanzler-Sohn) Peter Brandt. Besprochen werden weiter Nelly Sachs' "Szenische Dichtungen", Parag Khannas Schrift "Wie man die Welt regiert" sowie die Analyse "Russland" von Lev Gudkov und Victor Zaslavsky.

Im Feuilleton besichtigt Sascha Lehnartz in der Pariser Nationalbibliothek die gewaltige Memorabilia-Ausstellung "American Prayer", die der Künstler Richard Prince aus seinem "Beathippiepunk-Kontext" zusammengetragen hat. Mara Delius berichtet von einem Berliner Vortrag Jürgen Habermas' zu den gegenwärtigen Denkblockaden der Europäischen Union. Für Kai-Hinrich Renner zeigt die Ernennung Thomas Belluts zum neuen ZDF-Intendanten, "dass hier Apparatschiks einen Mann des Apparats gewählt haben".

Berliner Zeitung, 18.06.2011

Astrid Kaminski besucht in Ankara das ehemalige Foltergefängnis Ulucanlar , das nun als erstes Geschichtsaufbereitungs-Objekt dieser Art in der Türkei zu einem Museum umgewandelt wurde: "Ein Zeichen für den politischen Reformwillen, für eine Besserung der Menschenrechtslage gar? Auch. Eher aber ein Feigenblatt. Und das liegt nicht an dem naiv-romantischen Restaurierungskonzept. So wurde das Gefängnis Ulucanlar in den Ursprungszustand von 1925 zurückversetzt, einschließlich kompletter Übertünchung aller Zwischenzustände. Illustriert wird der Gefängnisalltag neben Infotafeln durch lebensechte Wachsfiguren. Melancholisch sitzen sie auf Pritschen oder in Grüppchen beim Laute-Spielen, dazu bunte Blumendecken und Geschirr. Von Folter kaum eine Spur. Beinahe schön muss man darum die folkloristischen Elemente finden, verstärkt durch den melancholischen Gesang, der aus den Lautsprechern tönt.
Stichwörter: Folter, Türkei

FAZ, 18.06.2011

In Bilder und Zeiten schildert Paul Ingendaay in einer Reportage die trostlose Zukunft der Jugend Kubas: "Sie werden die Mehrheit sein, doch sie haben kaum Anteil an Kubas Bild. Man sieht die Kinder in ihren Schuluniformen auf dem Paseo del Prado oder in Hauseingängen spielen, man beobachtet junge Mädchen, die im Halbdunkel mit Touristen anzubandeln versuchen, oder Jungen in schmutzigen T-Shirts, die sich nachts am Parque Central als Rikschafahrer, Zuhälter oder Trickbetrüger verdingen. Aber was sie denken, wie sie leben und ihre Zeit verbringen, von der sie so viel haben, weiß kaum ein Mensch. Der Grund liegt auf der Hand: Es gibt nichts zu tun. Das heutige Kuba kann ihnen keine Perspektive bieten."

Weitere Artikel: Kerstin Holm erzählt, wie die Kosaken im Gebiet von Rjasan ein autoritäres Ordnungssystem errichten. Michael Kunze spricht im Interview über seine Musikerkarriere.

Im Feuilleton berichten Julia Voss und Niklas Maak ausführlich über den Kölner Kunstfälscherskandal und die Rolle des Gutachters Werner Spies und des Auktionators Henrik Hanstein. Am Ende fordern sie künftig eine strikte Trennung von Vermittler- und Gutachtertätigkeit: "Es darf auch juristisch nicht möglich sein, dass die Frage 'falsch' oder 'echt' für den Experten gleichzeitig 'tausend' oder 'vierhunderttausend' Euro lautet. Das ist aber zur Zeit der Fall."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier hat sich so über die Bochumer Inszenierung von Schillers "Die Jungfrau von Orleans" geärgert, dass er sie in der Leitglosse abfertigt. Jürgen Dollase isst "hausgemachte Blutwurst von exzellenter Rustikalität und Qualität, mit Schweinskopf, Kalbsbries, Pinienkernen, Apfelwürfeln und Majoran angereichert" im Restaurant "Zur Post" in Odenthal. Die Rettung Griechenlands, des Euros, ja der ganzen EU scheitert nicht an den Brüsseler Bürokraten, sondern an den nationalen Politikern, die sich vor jeder Entscheidung fürchten, meint Frank Lübberding. Jürgen Habermas forderte in einem Vortrag an der Humboldt Uni eine gemeinsame Sozialpolitik der EU, berichtet Jürgen Kaube. Robert von Lucius hörte, wie Sam Nzima bei einer Ausstellungseröffnung südafrikanischer Fotografien in der Volkshochschule Hannover über sein 1976 aufgenommenes Bild vom sterbenden Hector Pieterson sprach. Joseph Croitoru berichtet von einer "Kampfschrift" der israelischen Rechten gegen den "Nakba-Mythos". Dieter Bartetzko hat schon mal den Frankfurter Degussa-Komplex besichtigt, der ab Sonntag als Museum zeitgenössischer Kunst der Öffentlichkeit übergeben wird. Dirk Schümer berichtet über die Händel-Festspiele in Halle und Göttingen. Marcus Jauer begutachtet in Greifswald den Versuch, einen Atommeiler abzureißen.

Besprochen werden die Uraufführung von William Forsythes Choreografie "Sider" im Festspielhaus Hellerau, die Ausstellung "MMK 1991-2011. 20 Jahre Gegenwart" in Frankfurt, einige CDs, darunter vier Kompositionen Unsuk Chins, und Bücher, darunter Marc Buhls Roman "Das Paradies des August Engelhardt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Michael Lentz ein Gedicht von Gottfried Benn vor:

"Rosen

Wenn erst die Rosen verrinnen
aus Vasen oder vom Strauch
und ihr Entblättern beginnen,
fallen die Tränen auch.
..."

SZ, 18.06.2011

Vom jüngsten religionspolizeilichen Irrsinn im Iran berichtet Carlo Jimenez: "Die Moraltrupps Irans sind wieder im Einsatz, 70000 Mann patrouillieren seit Beginn dieser Woche durch die Straßen iranischer Städte und vollstrecken Razzien. Gesucht werden Männer, die Halsketten tragen - und werden sie gefunden, droht ihnen eine Geldstrafe oder sogar die Verhaftung. Denn Ketten, so ein neuer Nachtrag in Teherans 'Plan zur Sicherung der Moral', der am Dienstag bekannt wurde, seien 'nicht islamisch'. Sie stellten ein 'kulturelles Problem' dar, das zur 'blinden Imitation der vulgären westlichen Kultur' führe."

Weitere Artikel: In Paris tagt die Welterbekommission: Für Ira Mazzoni ein Anlass, auf den deplorablen Zustand der deutschen Denkmalpflege hinzuweisen. Thomas Steinfeld beklagt, dass die effizienz- und ökonomieorientierten Universitätsreformen dem Genre der "campus novel" den Garaus machen werden - nur die Universität als eine Gegenwelt, in der die "Gabe" und nicht das "Entgelt" regiert, sei nämlich von literarischem Interesse gewesen. Den mythenumrankten "DJ's DJ" DJ Harvey porträtiert Paul-Philipp Hanske. In seiner Kairo-Kolumne ist Khalid al-Khamissi diesmal einem tatendurstigen und ziemlich intellektuellenfeindlichen Taxifahrer begegnet. Einen Festvortrag des Historikers Christopher Clark zum 350. Jubiläum der Berliner Staatsbibliothek hat Stephan Speicher gehört. Kristina Maidt-Zinke berichtet von den Tagen Alter Musik in Regensburg, bei denen das Publikum auf manche Inszenierung recht ungehalten reagierte. Auf der Medienseite findet sich ein ganzseitiges Gespräch mit Peter und Walter Kohl über ihre Mutter Hannelore, deren Leben nun groß fürs Fernsehen verfilmt werden soll.

Für die SZ am Wochenende hat Rebecca Casati den Schauspieler Michael Fassbender in London getroffen. Auf der Historienseite würdigt Joachim Käppner 200 Jahre Krupp. Abgedruckt wird Annika Scheffels Erzählung "Zeit am Nagel". Kristin Rübsamen spricht mit dem Schauspieler Ryan Phillippe über "Los Angeles".

Besprochen werden Roger Vontobels Bochumer Inszenierung von Schillers "Jungfrau von Orleans", die Ausstellung "William Turner. Maler der Elemente" im Bucerius Kunstforum Hamburg und Bücher, darunter John Burnsides Erinnerungsbuch "Lügen über meinen Vater" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).