Heute in den Feuilletons

Freundlichkeit, ja Zärtlichkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2010. Schade, findet Matthias Spielkamp im Immateriblog: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger redet in ihrer Urheberrechtsrede von den Urhebern, aber nicht von den Total-Buyout-Verträgen, mit denen sie ausgepresst werden. In der FR kommentiert Geert Mak das niederländische Wahlergebnis als Flucht in den Provinzialismus. Außerdem ruft die FR der ARD zu: Es gibt auch Zuschauer unter 49!

TAZ, 16.06.2010

"Würde Lester Bangs noch leben, er würde sich heute mit Sicherheit in einem Blog ausbreiten", glaubt die Bloggerin Geeta Dayal, die in der Debatte über die Zukunft der Musikkritik die Lage in den USA beschreibt: "In den USA hat sich die Musikkritik mittlerweile fast vollständig ins Internet verlagert. Für Bands ist es wichtiger, auf dem Internetportal Pitchfork positiv erwähnt zu werden, als im Spin-Magazin. Blogs und Webseiten erfreuen sich größter Beliebtheit. Musiker können berühmt werden, ohne jemals auf der Titelseite eines Magazins gewesen zu sein. Hype wird über Facebook, Twitter und andere Social Media generiert. Sie haben den Musikzeitschriften den Rang abgelaufen, und diese verschwinden vom Zeitschriftenmarkt."

In der tazzwei erinnert sich Philipp Gessler an seine belgische Bonnemaman und die einstige Eintracht des Landes und stellt fest: "Belgien kann nicht sterben. Belgien ist schon gestorben."

Besprochen werden und Ludger Vollmers Opernversion von "Gegen die Wand" in Stuttgart und Sebastian Silvas chilenischer Film "La Nana - Die Perle".

Und Tom.

Aus den Blogs, 16.06.2010

Matthias Spielkamp spricht in seinem Immateriblog einen Aspekt an Sabine Leutheusser-Schnarrenbergers Urheberrechtsrede an, der in den Zeitungsartikeln zum Thema ein wenig zu kurz kommt: "Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat eine erschreckend rückwarts gewandte Rede gehalten, die mit keinem Wort die drängendsten Probleme der Urheberrechtsgegenwart und -praxis erwähnte: zum einen das völlig aus der Balance geratene Verhältnis zwischen Urhebern und Verwertern. Dass die vertraglichen Regelungen, die Urheber mit Verwertern treffen, eben genau nicht durch das Urheberrechtsgesetz angemessen reguliert werden (auch nicht durch das Stärkungsgesetz), sondern Total-Buyout-Verträge an der Tagesordnung sind, ist im Ministerium entweder nicht angekommen, oder es wird ignoriert. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll."

Bei IUWIS gibt es eine Zusammenstellung der Reaktionen auf die Rede.

Mehrere Zeitungen in Deutschland haben die New York Times-Geschichte über die Lithium-Vorkommen in Afghanistan als Aufmacher übernommen. In den USA ist dieser Scoop der Times sehr umstritten, schreibt Lloyd Grove in The Daily Beast: "Wasn't The Times carrying the Obama administration's water by allowing itself to be used to justify the U.S. military?s problematic presence in apparent support of Afghan President Hamid Karzai's corrupt regime? And why now? Isn't the timing a little, well, convenient? Another thing: Isn?t the claim of Afghanistan's mineral wealth old news?"

Katy Derbyshire erzählt vom Übersetzertreffen in Wolfenbüttel: "My personal highlight, however, was the morning session with Arche/Atrium editor Tim Jung. Entitled 'How to help your translation to success', the workshop looked at what translators can do to push their books. Now this subject was not uncontroversial. (...) But then Jung told us what his - admittedly small-scale - publishing house does with its translators: they ask them for feedback. About the title, about how to describe the book to their sales reps, about how to sum the book up on an advertising poster, about all sorts of possible marketing stuff. And one very experienced translator told us how she'd felt about that: at first she was irritated, put out her spines as she said. She'd given up making suggestions and decided it wasn't her job and wasn't her problem. But in fact, this new attitude on the publisher's part is a sign of respect."

FR, 16.06.2010

Im Interview mit Michael Hesse erkennt der Schriftsteller Geert Mak im niederländischen Wahlergebnis weniger einen Rechtsruck als eine Provinzialisierung der Politik: "Unsere Schwierigkeiten wie auch die Lösungen sind europäische, aber unser demokratisches Theater ist noch immer national. Demokratie hat für die Bürger immer noch eine nationale Dimension. Sie hat noch keinen Weg in die europäische Ebene gefunden. Eine öffentliche europäische Debatte ist noch nicht in Gang gekommen. Wir alle zahlen einen hohen Preis dafür, weil die Debatten immer provinzieller werden. Die Frustration über das heutige Europa mündet in einer Flucht in den Provinzialismus, weil man glaubt, keine Macht über die Vorgänge auf europäischer Ebene zu haben. Dabei liegen unsere Chancen und Hoffnungen in Europa."

Auf der Medienseite wagen Daniel Bouhs und Peer Schader einige vorsichtig-kritische Anmerkungen zum großen Jubeljahr der ARD. Zum Beispiel die Angst vor dem jungen Publikum: "In den vergangenen Jahren hat sich die ARD ihren eigenen Generationenkonflikt geschaffen, indem sie ihr Programm konsequent aufs ältere Publikum ausgerichtet hat. Im vergangenen Jahr erreichte das Erste bei den Zuschauern im Alter von 14 bis 49 Jahren einen Marktanteil von 6,6 Prozent. Das ist knapp ein Prozentpunkt weniger als Vox und über zehn Prozentpunkte weniger als Marktführer RTL, dicht gefolgt von RTL 2."

Besprochen werden die Ausstellung "Klimakapseln" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das erste Album der Steve Miller Band seit ungefähr dreißig Jahren, eine Aufführung von Shakespeares "Was ihr wollt" in Mannheim und Bücher, darunter Istvan Örkenys heikler Bericht "Lagervolk" über seine sowjetische Kriegsgefangenschaft, in die er an der Seite der Deutschen geraten ist (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 16.06.2010

Der Dirigent Ingo Metzmacher verlässt nach jäher Kündigung das Deutsche Symphonie-Orchester. Christiane Peitz hat sein Abschiedskonzert mit Beethovens Sechster gehört: "Kein Auftrumpfen zum Ende, kein Trotz, kein Pomp. Stattdessen Heiterkeit, Freundlichkeit, ja Zärtlichkeit. Metzmacher geht, nach nur drei Jahren als Chefdirigent des Deutschen Symphonie- Orchesters, das viele in Berlin mit den Philharmonikern und der Staatskapelle gleichauf sehen - nur eben ohne ebenbürtige finanzielle Ausstattung."

NZZ, 16.06.2010

Die NZZ-Artikel sind heute morgen leider noch nicht online verfügbar.

Philipp Meier streift auf der 41. Art Basel durch ein "dschungelartiges Kunstdickicht" aus 300 Galerien und findet - beschallt von ohrenbetäubenden Trompeteninstallationen - zwischen riesigen Bronzehasen und gepunkteten Fiberglas-Kürbissen Poetisches wie Ephemeres: "Hier befreit sich zeitgenössische Kunst vom Primat des sein Objekt dominierenden, gierig suchenden, umherstreifenden, die Welt zum Selbstschutz auf Distanz haltenden, ordnenden, sezierenden, urteilenden und verurteilenden und stets auch genießenden Blicks. Gegenwartskunst muss, will sie in einer Zeit der schnellen Bilder noch ankommen, den Betrachter umschließen, verschlingen und dessen Zeit anhalten. Das ist bereits in den sechziger Jahren erkannt worden: Raumgreifende Installationen wie das Labyrinth aus aufgestellten Kartonrollen von Michelangelo Pistoletto dehnen den Blick des Betrachters zeitlich in die Länge - er bleibt stecken auf den verschlungenen Pfaden, erfährt das Werk als Raum."

Besprochen werden die fünfte Ausgabe der von der Finanzkrise erstaunlich unbeeindruckten Messe Design Miami Basel, auf der Unikate, Editionen und Raritäten der Möbelkunst vorstellt werden, John Eliot Gardiners an der Urfassung orientierte Inszenierung der "Pelleas et Melisande" an der Opera-Comique Paris, die "Momente dubioser Intonation" aufweist und Bücher, darunter Kathrin Schmidts Gedichtband "Blinde Bienen" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 16.06.2010

Harald Peters erzählt in der Glosse die ganz unwahrscheinliche Geschichte einer McDonalds-Eröffnung am Checkpoint-Charlie, mit Rita Süssmuth, Hans Dietrich Genscher, Greg Delawie von der amerikanischen Botschaft, Henry Maske und Alexandra Hildebrandt, Leiterin des gegenüberliegenden Mauermuseums - sie "erkennt in der Innenarchitektur die Thematik des Mauerfalls wieder, aufbereitet nach den Prinzipien des Feng Shui".

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek besucht Markus Gross an der ETH Zürich, wo der Informatiker an 3D-Effekten für Disney arbeitet. Manuel Brug verabschiedet Ingo Metzmacher aus Berlin. Michael Ondaatje spricht im Interview über seine Lyrik, auch wenn er jetzt Prosa schreibt: "Ich habe keine linke Hand mehr frei für Gedichte." Richard Herzinger denkt über Reichsparteitage und moderne Massenevents nach. Ulf Poschardt freut sich, dass laut einer Studie des DIW die Zahl der Wohlhabenden im Land von 16 auf 19 Prozent gestiegen ist. (Das im selben Zeitraum die "Unterschicht" von 18 auf fast 22 Prozent gestiegen ist, hat er irgendwie überlesen.)

SZ, 16.06.2010

Recht misslaunig (und ohne auf das Thema Leistungsschutzerechte einzugehen) kommentiert Rudolf Neumaier die Berliner Rede über das Urheberrecht von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: "Der Kern dieser Rede ist mit einer Äußerung der Ministerin selbst hinreichend umschrieben, sie sagte: 'Wir werden auch mit diesem Gesetz das urheberrechtliche Rad nicht neu erfinden.'"

Weitere Artikel: Gottfried Knapp würdigt die Arbeit des Leiters des Hauses der Kunst in München, Chris Dercon, der zur Tate Modern abzieht. Thomas Steinfeld inspiziert unter Hinzuziehung Luhmannianischer Erkenntnisinstrumente das politische Personal vor der Bundespräsidentenwahl, muss aber feststellen, dass es seinen Ansprüchen nicht gerecht wird. Heute ist der Tag der spanischen Sprache. Ibon Zubiaur, Leiter des Instituto Cervantes in München freut sich im Gespräch mit Sebastian Schoepp, dass Spanisch "auf dem freien Markt der Sprachen bessere Karten" habe als das Französische. Ira Mazzoni stellt neue Pläne für den Wiederaufbau einiger Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau vor. Keine Kosten scheute die Redaktion der SZ, um Harald Eggebrecht nach Argentinien und Uruguay zu schicken, wo er eine Tournee der Cellistin Sol Gabetta und des "kammerorchesterbasel" begleitete. Till Briegleb schreibt zum Tod von Heidi Kabel.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Polaroids von Julian Schnabel in Düsseldorf und Bücher, darunter der neue Erzählungsband von Maeve Brennan (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 16.06.2010

Hannes Hintermeier referiert kommentarlos die Rede von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Urheberrecht. Julika Griem stellt Kriminalliteratur von Roger Smith bis Deon Meyer als Spezialität aus Südafrika vor. Lorenz Jäger erinnert daran, dass der 1999 verstorbene konservative Publizist Johannes Gross bereits im Jahr 1994 Joachim Gauck als Bundespräsidenten vorschlug. In der Glosse freut sich Anne-Christin Sievers, dass die Welt vom deutschen Trainer Jogi Löw guten Kleidungsstil lernen kann. Swantje Karich meldet, dass Chris Dercon, noch Leiter am Münchner Haus der Kunst, ab dem nächsten Jahr die Tate Modern übernimmt. In osteuropäischen Zeitschriften liest Joseph Croitoru vor allem Artikel über demografische Entwicklungen und ihre Folgen. Auf der Geisteswissenschaften-Seite referiert Thomas Thiel die offenbar eher nicht so befriedigenden Ergebnisse einer vom Werk des auch anwesenden Soziologen Bruno Latour inspirierten Tagung in Siegen. Manuela Lenzen stellt die noch junge Disziplin der "Informationsethik" vor, die danach fragt, wie man es anstellt, dass im Netz alles mit rechten Dingen zugeht.

Besprochen werden ein Konzert des Berliner Konzerthausorchesters mit Schönbergs Gurreliedern, die Ausstellung der Konzeptkunst-Sammlung Daled mit großem Broodthaers-Schwerpunkt im Münchner Haus der Kunst, die Ausstellung "Richard Neutra in Europa" im Marta Herford und Bücher, darunter Frank Goosens Ruhrgebiets-Geschichten "Radio Heimat" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).