Heute in den Feuilletons

Das Wienerische, Vorstadtordinäre daran

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.11.2008. Vor neunzig Jahren war Revolution. Heinrich August Winkler würdigt in der Welt die Sozialdemokraten, die unter schwierigsten Bedingungen versuchten, eine Demokratie aufzubauen. Hans-Ulrich Wehler tut das gleiche im Tagesspiegel. Obama macht keine Revolution, aber er ist eine, meint der amerikanische Autor David Alarcon in der taz. Er ist keine, und er macht auch keine , meint dagegen der konservative schwarze Publizist Shelby Steele in der Welt.

Welt, 08.11.2008

Der Historiker Heinrich August Winkler spricht mit Eckhard Fuhr über einen der vielen deutschen 9. November, die Revolution von 1918: "Die eine große Entscheidung, die damals gefallen ist, für die Republik, die hat bis heute Bestand, und es gibt viele gute Gründe, an die Leistungen derer zu erinnern, die damals den Versuch unternahmen, die erste deutsche Demokratie aufzubauen. Sie taten es unter schwierigsten Bedingungen."

Weitere Artikel: Seven Felix Kellerhoff wünscht dem neuen Direktor der Stiftung Berliner Mauer, Axel Klausmeier, viel Glück. Uta Baier meldet, dass Touristen in der Ukraine Beutekunst aus Aachen gefunden haben. Manuel Brug erinnert an den Start der Serie "Dallas" in den USA vor dreißig Jahren. Besprochen wird eine Ausstellung mit Aktfotografien (unter adnerem von Marlyn Monroe), die der Stummfilmstar Harold Lloyd in seiner Freizeit aufnahm, in Gent. Und Marli Feldvoss stellt eine neue Film- und DVD-Edition des Suhrkamp Verlags vor.

In der Literarischen Welt gratuliert der George-Biograf Thomas Karlauf dem fast hundertjährigen Autor Hans Keilson zum Welt-Literaturpreis. Jenni Roth unterhält sich mit Carlos Ruis Zafon. Abgedruckt wird Wolf Biermanns Rede zum Erhalt der Ehrendoktorwürde der Humboldt-Uni. Und Ilja Richter bespricht Rolf Aurichs und Wolfgang Jacobsens Biografie über Theo Lingen, der sich in der Nazi-Zeit tapfer verhalten hat..

Auf der Magzainseite zeigt Sven Felix Kellerhoff bisher unbekannte Fotos der "Reichskristallnacht" vor 70 Jahren. Und Ernst Cramer erinnert daran, dass sich auch im Ausland kaum Empörung über die Pogrome regte.

Recht kritisch äußert sich der schwarze konservative Publizist Shelby Steele in einem von Global Viewpoint übernommen Forums-Artikel über Obama: "Obamas besonderes Charisma verdankte sich - seit seiner berühmten Parteitagsrede von 2004 - stets eher dem ethnischen Idealismus, den er verkörperte, als seinen politischen Ideen. In der Tat war er politisch nur in dieser Hinsicht wahrhaft originell. Seine Ansichten zur Wirtschaftspolitik verdankten sich den Umverteilungsgrundsätzen eines altmodischen Keynesianimus; seine sozialen Überlegungen waren recycelte 'Great Society'. Aber diese politischen Textbausteine wurden durch den träumerischen post-ethnischen und post-ideologischen Kitsch aufgefrischt, in die er sie hüllte."

Tagesspiegel, 08.11.2008

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler spricht im Interview über Revolutionen in Deutschland - am 9. November 1989 und dem 9. November 1918, die mit der Weimarer Republik beendet wurde. Dazu Wehler: "Die Sozialdemokratie, so wie sie mental und politisch im Kaiserreich geformt worden war, mochte die Revolution nicht. Ebert, der zwei Söhne im Krieg verloren hatte, sagt: 'Ich hasse die Revolution wie die Sünde.' Seine SPD war nicht darauf eingestellt, zusammen mit der USPD und erst recht nicht mit den Spartakus-Leuten auf der äußersten Linken eine Revolution zu inszenieren. Als Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin nach längerem Zögern, wie man zu ihren Ehren sagen muss, daran gingen, den Bürgerkrieg zu entfesseln, sind alle führenden SPD-Politiker der Meinung: Das geht nicht, man kann nicht einen Krieg verlieren und dann noch das Land ins Chaos stürzen."

TAZ, 08.11.2008

Im Gespräch mit Ines Kappert kann sich der junge peruanisch-amerikanische Autor David Alarcon nur schwer oder auch gar nicht zur Skepsis angesichts des Obama-Triumphs durchringen: "Natürlich muss man immer wieder unterstreichen, dass es einer bislang unvorstellbaren wirtschaftlichen Krise bedurfte, bevor sich die Amerikaner für diesen Kandidaten entschieden haben. Trotzdem glaube ich, dass jetzt etwas Neues beginnt. Wenn es irgendetwas Radikales an einem Präsidenten Obama geben wird, dann ist es der kulturelle Einfluss, der von ihm als schwarzer Präsident ausgehen wird. Und der wird dramatisch sein. Politisch gesehen wird Obama nicht durch Radikalität glänzen; das kann er gar nicht. Radikale Präsidenten gibt es nicht. All die Verrückten, die glauben, Obama wäre ein Sozialist, Kommunist oder so etwas Ähnliches, werden schnell merken, dass sie total falsch liegen."

Weitere Artikel: Tobias Rapp hat sich mit dem amerikanischen Sänger Akon unterhalten, der nun doch nicht, wie für den Fall eines McCain-Siegs angekündigt, auswandern muss. Andreas Fanizadeh erinnert zum 90. Jahrestag des Endes der Monarchie an den zu Unrecht nie gefeierten Linksaktivisten Hermann Knüfken, dessen Erinnerungen "Von Kiel bis Leningrad" jetzt, mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod, veröffentlicht wurden. Im vorderen Teil fordert Dirk Knipphals die in Obama "verknallten" Deutschen auf, vom amerikanischen Präsidenten zu lernen, wie man zugleich links und inklusiv sein kann.

Auch in der zweiten taz ein größeres Interview. Philipp Gessler spricht mit dem Stargeiger Daniel Hope anlässlich des 70. Jahrestags der Reichspogromnacht über deutsche Erinnerungspolitik. Außerdem: Anmerkungen zu Berlusconi, der Barack Obama so schön "braun gebrannt" findet und ein Pro und Contra dazu, ob Andrea Ypsilanti noch einmal antreten soll.

Und noch ein Gespräch. Im taz-mag-Dossier unterhält sich Christian Semler mit dem Historiker Peter Longerich über Heinrich Himmler. Die Historikerin Dorion Weickmann erinnert an die wenig aufgearbeitete Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus.

Besprochen werden Bücher, darunter eine Neuausgabe von Alfred Döblins großem Erzählwerk "November 1918" und Moshe Zimmermanns historische Studie "Deutsche gegen Deutsche. Das Schicksal der Juden 1938-1945"(mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 08.11.2008

Im Feuilleton beschreibt Sabine Riedel in einem Schauplatz Brandenburg die Transformation von Marxwalde in Neuhardenberg nach 1989. Martin Meyer untersucht die politische Theologie des Barack Obama. Hoo Nam Seelmann erzählt, was für sie schweizerisch ist. Besprochen werden das Eröffnungskonzert der Tage für Neue Musik Zürich mit David Zinman und dem Tonhalle-Orchester und neue DVDs.

In Literatur und Kunst denkt die Kunsthistorikerin Gabriele Detterer darüber nach, wann sich die die Einbeziehung des Publikums in der Kunst von der subversiven Strategie ins spektakelhafte Event gewandelt hat. Der Kunsthistoriker Christian Saehrendt beschreibt das neue Museumsmarketing. Der Basler Soziologieprofessor Urs Stäheli zeichnet eine Kulturgeschichte der Spekulationskritik, von der "Tulipomania" im 17. Jahrhundert bis heute. Ulrich Kronauer denkt mit Adolph Freiherr Knigge "Über die Art, mit Tieren umzugehn" nach.

Besprochen werden Bücher, darunter Andreas Blühms Buch "Fit fürs Museum" und Gedichte des Russlandschweizers Anatol von Steiger (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 08.11.2008

Andras Schiff hat sämtliche Beethovensonaten eingespielt. Und was ist das Besondere daran? Eleonore Bünings Antwort: "Es ist erstens die feine Durchdringung der Struktur, mitgeteilt durch dynamische und rhythmische Details, es sind zweitens Schiffs Anschlagsnuancen, seine Abschattierung der Klangfarben, und drittens ist es die haptische Qualität, die aus beidem folgt. Wie diese Intensität zu erreichen ist, das hat mit Schiffs spezifischer Poetik zu tun, seinem Wissen darum, dass es um kompositorische Ideen geht in der Musik, nicht ums Virtuosentum." Im langsamen Satz der G-Dur-Sonate op. 14,2 klingt das dann so: "Schiff bringt das Wienerische, Vorstadtordinäre daran ans Licht: Er meißelt am Rhythmus, pickt die Bässe heraus, knallt in die Sforzato-Akzente, dehnt die Vorhalte: Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht um! Erst recht kriegt das Scherzo am Schluss einen tüchtigen Drehwurm."

Weitere Artikel: Mark Siemons erzählt, wie das Internet von den Chinesen zur Aufklärung, aber auch zur Denunziation benutzt wird. Patrick Bahners gratuliert der Historikerin Natalie Zemon Davis zum Achtzigsten. Die Gemeindeverwaltung von Bournemouth hat einen Streit ausgelöst mit ihrem Beschluss, um der Verständlichkeit künftig in ihrem Schriftverkehr auf alle lateinischen Wörter zu verzichten, berichtet Gina Thomas. Ingeborg Harms wirft einen Blick in deutsche Zeitschriften. Niklas Maak hat die Kantine der Zukunft gesehen, erbaut von den Architekten Barkow Leibinger in Ditzingen. Alexandra Kemmerer hat sich von amerikanischen Völkerrechtlern erklären lassen, was diese sich von Barack Obama erhoffen. Sven Beckstette stellt die Reihe "Eccentric Soul" der Numero Group vor. Frankreichs Auslandsfunk RFI will seine Redaktionsbüros in Polen, Serbien, Albanien, Türkei, Laos und Berlin schließen, meldet Jürg Altwegg auf der Medienseite. Auf der letzten Seite porträtiert Nils Minkmar unseren Finanzminister Peer Steinbrück als Skeptiker.

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung "Kean / Die Hamletmaschine" an der Berliner Volksbühne, ein Konzert mit dem manisch-depressiven Sänger Daniel Johnston in Köln, die neue CD von Mia und Bücher, darunter Martha Gellhorns Novellen "Das Wetter in Afrika" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Bilder und Zeiten schreibt Raphael Gross, Mitherausgeber des Buchs "Novemberpogrom 1938", über die Augenzeugenberichte, die in dem Buch versammelt sind. Wolfgang Sandner würdigt die Musik Ennio Morricones. Hannes Hintermeier hat einen Ortstermin bei dem Schriftsetzer Hermann Zapf. Der Pianist Murray Perahia spricht im Interview über Musikerziehung und seine Analyse-Methoden.

In der Frankfurter Anthologie stellt Ruth Klüger ein Gedicht von Gottfried Keller vor:

"Tagelied

Du willst dich freventlich emanzipieren
Und aufstehn wider mich mit keckem Sinn,
Ein rotes Mützlein und die Zügel führen
Du schöne kleine Jakobinerin?
..."

FR, 08.11.2008

Zum siebzigsten Jahrestag der Reichspogromnacht ruft Arno Widmann auf zum steten Widerstand gegen den Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit in und um uns. Scharf protestiert Stephan Loichinger gegen den HR, der letzte verbliebene Popkultur-Radio-Sendungen im Namen der "Durchhörbarkeit" zum Jahresende streicht. In einer Times Mager kommentiert Sylvia Staude die wissenschaftliche Erkenntnis, dass der Klang ihrer Namen Menschen attraktiver erscheinen lassen kann - oder auch nicht. Marcia Pally wundert sich in ihrer US-Kolumne erstens, dass Barack Obama gewonnen hat und zweitens, dass der Sieg nicht viel deutlicher ausfiel.

Besprochen werden Frank Castorfs "Kean"-Inszenierung an der Berliner Volksbühne, die Eva Behrendt für immerhin drei der fünf Stunden, die sie dauert, sehr überzeugt hat, ein Konzert mit dem Cembalisten Gustav Leonhardt in Wiesbaden, ein Peter-Brötzmann-Konzert in Mannheim, und Bücher, darunter eine Neuausgabe von Andrea Palladios "Die vier Bücher über die Baukunst" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 08.11.2008

Im Feuilleton-Leitartikel fragt Jens Bisky nach der Aktualität von Karl Marx. Thomas Steinfeld war, schön für ihn, bei der Olivenernte in der Toskana und kündet von dem, was er sah. Wie in den USA Kleider Politik machen, glossiert Andrian Kreye. Michael Struck-Schloen porträtiert den Opernregisseur Tilman Knabe, der den Auftakt zum Essener "Ring"-Zyklus inszeniert. Christian Rabe macht sich lustig über die völlig irrelevanten MTV Europe Music Awards. Enttäuscht zeigt sich Eva-Elisabeth Fischer vom Münchener Dance-Festival für zeitgenössischen Tanz. Tobias Lehmkuhl war dabei, als am Literarischen Colloquium der 100. Geburtstag des "Gruppe 47"-Gründers Hans Werner Richter gefeiert wurde.

Besprochen werden Frank Castorfs - für Peter Laudenbach seit langem einmal wieder völlig überzeugende - Inszenierung des mit Heiner Müller versetzten Trivialstücks "Kean" von Alexandre Dumas an der Berliner Volksbühne, die späte Uraufführung von Paul Frankenburgers 1933 vollendeter Rudolf-Borchardt-Oper "Joram", eine von Ricardo Muti dirigierte Aufführung von Hector Berlioz' "Romeo und Julia" in München, Wolf Biermanns Ehrendoktorauftritt, der Zirkus-Film "Rumba", die Ausstellung "Matisse - Menschen, Masken, Modelle" in Stuttgart und Bücher, darunter Gertrud Leuteneggers Roman "Martin" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende singt Christian Zaschke eine Hymne auf den Herbst. Der Autor Imran Ayata schildert, wie die türkischstämmige Politikerin Leyla Lena deutsche Bundeskanzlerin wurde. Die Historienseite erinnert an die ausgebliebene Revolution im Deutschland des November 1918. Maxi Leinkauf unterhält sich mit dem immer noch großen, nicht mehr sehr blonden Schauspieler Pierre Richard über das Glück.