Heute in den Feuilletons

Nährboden der Subkultur

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.05.2008. Die Bücherverbrennung der Nazis war nicht die letzte Bücherverbrennung in Deutschland, schreibt Reinhard Jirgl in der FR. In der NZZ erinnert Dan Diner an die historischen Umstände der Gründung Israels, als man die Araber noch als Freunde der Nazis und die Israelis als Freunde der sowjetischen Alliierten ansah. Benny Morris erklärt in der Welt, dass die Israelis inzwischen die Hoffnung auf Frieden aufgegeben haben. In der SZ erklärt der Kulturdirektor der "Dubai Culture & Arts Authority", Michael Schindhelm, was das reiche Dubai vom armen Berlin lernen will: Kreativität.

FR, 10.05.2008

Der Schriftsteller Reinhard Jirgl versucht, die Bücherverbrennung vor fünfundsiebzig Jahren mit mittelalterlichen Heilserwartungen und damit verbundenen Ritualen zu erklären. Und er erinnert daran, dass dies keineswegs die letzte Bücherverbrennung in Deutschland war: "Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete am 15. Oktober 1965 von einem Geschehen auf den Düsseldorfer Rheinwiesen. Dort, zum Erntedankfest, verbrannten Mitglieder des 'Jugendbundes für Entschiedenes Christentum' (EC) neben Zeitungs-Pin-ups und Kinoreklamen auch Bücher von Erich Kästner, Albert Camus, Grass' 'Blechtrommel' sowie Nabokovs 'Lolita'. Dies, nach Meinung der EC, sei 'Schund- und Schmutzliteratur', Bücher voll brutaler, krimineller und sexueller Szenen; sie brächten die Menschen von Jesus ab. Zu den Flammen sangen die Jugendlichen, die aus Mittelstandsfamilien stammten, Lieder aus der 'Frohen Botschaft': 'Wir jungen Christen tragen ins dunkle deutsche Land ein Licht in schweren Tagen als Fackel in der Hand ...'"

Weitere Artikel: In ihrer Kolumne stellt Marcia Pally fest: "Amerika ist nicht 'liberal'"- es steht rechts von der Mitte." Und darum habe Barack Obama ein Problem. In einer Times Mager von Hans-Jürgen Linke geht es um das "Zusammenlegen und Verschwindenlassen von Feiertagen". Auf den Leserbriefseiten antwortet Götz Aly auf die von Thomas Thieme monierten Ungenauigkeiten in Alys Buch "Unser Kampf".

Besprochen werden die Bonner Schlager-Ausstellung "Melodien für Millionen", Karin Beiers Kölner Inszenierung von Franz Grillparzers Tragödientrilogie "Das goldene Vlies", ein Frankfurter Konzert des von Paavo Järvi dirigierten hr-Sinfonieorchesters und ein Stück über die grandios grauenhafte Sängerin Florence Foster-Jenkins im Frankfurter Remond-Theater.

NZZ, 10.05.2008

In Literatur und Kunst erinnert Dan Diner (mehr hier) in einem sehr lesenwerten Essay an die historischen Umstände der Gründung Israels: "Möglich war Israel allein zwischen den Zeiten geworden - in der weltgeschichtlich kurzen Atempause zwischen der Beendigung des Zweiten Weltkrieges und dem Eintritt der weltpolitischen Doppelkonstellation von Kaltem Krieg und Dekolonisierung." Und weiter: "Der Krieg um die Staatsgründung wurde den Unterscheidungen des Zweiten Weltkrieges entlang interpretiert. So wurden die Araber als Parteigänger der Deutschen eingestuft, die Juden Palästinas hingegen als Bündnispartner der Alliierten - vor allem der Sowjets."

Weitere Artikel: Im Aufmacher der Beilage denkt Martin Meyer unter Hinzuziehung von Mark Lillas Buch "The Stillborn God" (Auszug) über das aktuelle Verhältnis von Religion und Politik nach. Franziska Meier erinnert an den französischen Dichter Gerard de Nerval, der vor 200 Jahren geboren wurde. Roman Luckscheiter stellt das nach der Julirevolution 1831 entstandene kollektive Literaturprojekt "Paris ou Le livre des Cent-et-un" vor. Nico Bleutge liest Gedichte des slowenischen Autors Uros Zupan. Und Andreas Breitenstein unterhält sich mit dem serbisch-jüdischen Autor David Albahari über Literatur und Internet.

Im Feuilleton interpretiert Ulrich Ruh eine in Rom zustande gekommene gemeinsame Erklärung schiitischer und katholischer Geistlicher. Thomas Hettche nennt in der Reihe "Was ist schweizerisch?" die Tatsache einer in Deutschland undenkbaren Bruchlosigkeit der historischen Identität. Besprochen werden der Ballettabend "Arcangelo / Orma / Bella Figura" unterschiedlicher Choreografen am Opernhaus Zürich, Emir Kusturicas Film "Promise Me This" und Ereignisse der Münchener Biennale für neues Musiktheater.

TAZ, 10.05.2008

Einen Stimmungsbericht von den Proben zu Angela Richters Inszenierung von Rainald Goetz' zehn Jahre altem Stück "Jeff Koons" liefert Henrike Thomsen. Ekkehard Knörer stellt den beim Lissaboner Filmfestival "Indielisboa" mit einer Werkschau gewürdigten katalanischen Regisseur Jose Luis Guerin vor. In Ralf Leonhards Euro-Kolumne geht es um "Körperinstallationen" und "Fußballbrot vom Meisterteam" im österreichischen EM-Vorfeld. Alexandra Eul hat sich für die Berlin-Kultur mit dem Technoproduzenten und Soulsänger Jamie Lidell unterhalten. Katrin Bettina Müller übermittelt Eindrücke von der Theatertreffen-Parallelveranstaltung "Stückemarkt", bei der in diesem Jahr aus 646 Einsendungen zehn Texte junger Dramatikerinnen und Dramatiker aus dreiunddreißig Ländern ausgewählt und in szenischen Lesungen vorgestellt wurden. Für die zweite taz hat sich Hendrik Efert in der Redaktion des vom Bundesverteidigungsministerium produzierten Magazins WY. umgesehen.

Besprochen werden das neue Album "Die Seilschaft der Verflixten" von Ja König Ja (Julian Weber ist hingerissen: "Ja König Ja sind - das bleibt bitte unter uns - sensationell!"), die Ausstellung der "Essl-Award"-Preisträger in Regensburg und Bücher, darunter Jean-Claude Kaufmanns soziologische Studie "Was sich liebt, das nervt sich" und Mikael Niemis Kriminalroman "Der Mann, der starb wie ein Lachs" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Dossier des taz mag porträtiert Matthias Lohre das israelisch-palästinensische Paar Jasmin Avissar und Osama Zatar, das in Israel nicht zusammenleben darf und deshalb jetzt in Berlin lebt. Heide Oestreich hat sich zum Muttertag mit Verena Stefan unterhalten, Autorin des einstigen feministischen Kultbuchs "Häutungen"

Und Tom.

Welt, 10.05.2008

60 Jahre nach der Gründung ihres Staates haben die Israelis die Hoffnung auf Frieden aufgegeben, glaubt der Historiker Benny Morris (mehr hier) in der Literarischen Welt. Der Wendepunkt ist für ihn 2000, als Arafat die Zwei-Staaten-Lösung ablehnte und damit zeigte, dass die Araber die Existenz Israels niemals anerkennen würden. "Die meisten Israelis sahen sich um und entdeckten eine islamisch-arabische Welt, die sich überall in der Region verhärtete und radikalisierte, brutal war und jeglichem Kompromiss und aller Veränderung gegenüber verschlossen und resistent gegen den Westen und dessen Botschaften von Demokratie und Liberalisierung und Säkularismus und Individualismus. Und die vergangenen Jahrzehnte der Radikalisierung der islamisch-arabischen Welt hatten die palästinensischen Araber in ihrer Ablehnung Israels nur bestärkt."

Der palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh, Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem, zeigt sich im Interview dagegen davon überzeugt, dass Frieden noch in diesem Jahr möglich sei. "Wenn Sie noch heute eine Volksbefragung durchführen, werden sie sehen, dass die Mehrheit der Palästinenser sofort einer Zwei-Staaten-Lösung zustimmte."

Im Feuilleton schreibt Gernot Facius über Pfingsten als Geburtsstunde der Kirche. Ernst Cramer erinnert an die Bücherverbrennung vor 75 Jahren, die von der intellektuellen Oberschicht Deutschlands initiiert worden war. Wenig Verständnis hat Manuel Brug für die Forderungen Daniel Barenboims, seiner Staatskapelle mehr Geld zukommen zu lassen: weil es "unnötig ist und das sorgsam gehegte Berliner Orchestergefüge total aus dem Ruder bringt". Besprochen werden eine Ausstellung zum deutschen Schlager im Bonner Haus der Geschichte und eine Götz-George-Biografie.

FAZ, 10.05.2008

Im Aufmacher erzählt Jürg Altwegg die Geschichte eines in der Zeitung annoncierten, assistierten Suizids in der Schweiz, und er erinnert nochmal an den Fall der Chantal Sebire in Frankreich und die Reaktion der Intellektuellen: "'Wir kämpften für das Recht auf Abtreibung, jetzt ist es nur logisch, dass wir für das Recht auf Sterben eintreten', erklärte der Schriftsteller Philippe Sollers zum Tod von Chantal Sebire im Journal du Dimanche. Praktisch gleichzeitig hat Le Monde einen Aufsatz von Cees Noteboom über die letzten Monate im Leben des belgischen Schriftstellers Hugo Claus, der wochenlang von seinen Freunden Abschied nahm, veröffentlicht."

Weitere Artikel: Gemeldet wird, dass der "Verein für soziale und politische Rechte von Prostituierten" einen offenen Brief an an die Jüdische Gemeinde Frankfurt geschrieben hat, um sich über die Börne-Preisrede Alice Schwarzers und besonders gegen deren Vergleich der Judenverfolgung mit der Frauenunterdrückung zu beschweren. Jürgen Dollase plädiert in seiner Gastrokolumne für einen "notwendigen systematischen Rahmen" für die Gastrokritik. Andreas Kilb erinnert an die Bücherverbrennung vor 75 Jahren. Jürg Altwegg berichtet, dass die Schweiz ihr System der Kulturförderung überdenkt. Dieter Bartetzko gratuliert dem Popkomponisten Burt Bacharach zum Achtzigsten. Wolfgang Sandner gratuliert der Jazzerin Carla Bley zum Siebzigsten. Auf der letzten Seite erzählt Nicol Ljubic in einem melancholischen Text, warum das besetzte Künstlerzentrum Tacheles an der Berliner Oranienburger Straße gescheitert ist und demnächst schließt, ohne dass klar ist, was aus dem Tacheles werden soll. In einer Meldung der FAZ-Online werden die Preisträger der gestern vergebenen Kisch- und Nannen-Preise genannt. Auf der Medienseite setzt Michael Hanfeld seinen Kampf gegen die "elektronische Presse" der Öffentlich-Rechtlichen fort.

Besprochen werden die 68er-Ausstellung in Frankfurt und Karin Beiers Inszenierung von Grillparzers "Goldenem Vlies" in Köln.

Auf der Schallplatten-und-Phonoseite geht's um die "Boheme" mit Anna Netrebko und Rolando Villazon, um die Wiederentdeckung polnischer Komponisten des 20. Jahrhunderts, um die Münchner Band G.Rag y los Hermanos Patchekos und um eine CD Steve Winwoods.

In Bilder und Zeiten erinnert der Zeithistoriker Karl-Joseph Hummel an Hitlers Italienbesuch vor 70 Jahren. Es wird an Kunstaktionen des Jahres 1968 erinnert. Andreas Platthaus berichtet von einer Weinprobe mit alten deutschen Süßweinen und exorbitant teuren Champagnern. Auf der Literaturseite werden Alek Popovs Roman: "Die Hunde fliegen tief" und Pablo Tussets Roman "Im Namen des Schweins" besprochen. Auf der letzten Seite unterhält sich Tobias Räther mit der Hamburger Schriftstellerin Karen Duve übers Taxifahren und Bücherschreiben.

In der Frankfurter Anthologie stellt Ingrid Bacher ein Gedicht von Mascha Kaleko vor:

"Gewisse Nächte

Heute möchte ich nicht nach Hause gehen.
Das wird wieder mal so eine Nacht.
Vor der Höfe dunklem Häuserschacht
Werde ich allein am Fenster stehen.
Still und traurig blinzeln ein paar Sterne,
Langweilt sich ein blasser halber Mond.
..."

SZ, 10.05.2008

Michael Schindhelm, Kulturdirektor der "Dubai Culture & Arts Authority", erklärt, warum auch in Dubai das arme Berlin ein Vorbild sein kann: "Von Berlin kann man lernen. Zum Beispiel, wie sich dank der schwachen Ökonomie dort ein Mikroklima der Kreativität herausgebildet hat. Künstler ziehen in Scharen dorthin, eben weil sich ihnen so günstige Konditionen bieten. Ausschlaggebend ist aber, dass sie das ohne die vielen etablierten Institutionen, die Opernhäuser, Theater und Museen wohl nicht getan hätten. Daraus kann man den Umkehrschluss ziehen, dass es generell gefährlich wäre, nur Hochkultur zu importieren und dem Nährboden der Subkultur keinen Raum zu lassen." (Ganz zu schweigen davon, was die Berliner Subkultur von Dubai lernen könnte.)

Weitere Artikel: Christoph Bartmann schreibt über einst von verschiedensten Seiten gehegte Fantasien für einen Judenstaat weitab von der westlichen Zivilisation - unter besonderer Berücksichtigung von Michael Chabons kontrafaktischer Geschichte "Die Vereinigung jiddischer Polizisten", in der die Juden vor sechzig Jahren einen Staat in Alaska gegründet haben. Falk Jäger preist das neue Kunstmuseum Dieselkraftwerk in Cottbus. Jonathan Fischer stellt das Projekt Santogold der New Yorker Sängerin Santi White vor, in deren Musik "Dub, Hip-Hop, Reggae-Bläser und Rockgitarren aufeinanderprallen" (Video zum Hit "l.E.S. Artistes"). Helmut Schödel porträtiert den Stückeschreiber Ewald Palmetshofer. Jörg Magenau berichtet von der Gedenkveranstaltung zu fünfundsiebzig Jahren Bücherverbrennung und zeigt sich beeindruckt von Horst Köhlers Rede. Aus New York meldet Jörg Häntzschel, dass die Zentrale des Goethe-Instituts wegen gravierender Probleme am Gebäude für einige Jahre schließen muss. Gerade dreht Marc Forster Szenen des neuen Bond-Films in Bregenz am Bodensee - Tobias Kniebe war am Set. Dem Musiker Burt Bacharach gratuliert Holger Liebs zum Achtzigsten. Besprochen wird Andreas Kleinerts Film "Freischwimmer".

Auf der Literaturseite geht es ausschließlich um die Bücherverbrennung vor fünfundsiebzig Jahren. Stephan Speicher resümiert die Ereignisse. Über die "abendländische Vorgeschichte" des Bücherverbrennens informiert Kaspar Renner. Außerdem wird ein zeitgenössischer Text aus dem Neuen Mannheimer Volksblatt zitiert, der Unbehagen deutlich werden lässt.

Für den Aufmacher der SZ am Wochenende hat Rebecca Casati eine Lobrede auf den Baumarkt verfasst - eine Institution, die ihren fünfzigsten Geburtstag feiert und, wie Casati findet, eine Welt für sich darstellt: " Ein guter, also möglichst großer, Baumarkt ist mehr als eine Landschaft oder eine Aussicht, er ist ein abgeschlossenes System." Stefan Klein war in Haiti und hat eine Reportage über das legendäre Grand Hotel Olofsson mitgebracht. Als literarische Wochenendlektüre gibt es Reinhard Kaiser-Mühlecker Erzählung "Die Lehre des Buches Kohelet". Im Interview spricht der Dirigent des Israel Philharmoni Orchestra Zubin Mehta über "Frieden" und über unterschiedliche Kulturen in Israel: "Die Aschkenasim kommen zum Konzert, die sephardischen Israelis gehen lieber ins Kino und gucken sich Bollywood-Filme an."