Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2007. In der NZZ erklärt Francois Zabbal die Rückständigkeit der arabischen Welt mit der Eigenamputation ihres kulturellen Gedächtnisses. In der taz beschreibt der Urbanist Orhan Esen, wie die Metropole Istanbul über Nacht gebaut wurde. In der Welt preist Wolf Lepenies die Liebe der Chinesen zu deutschen Dichtern. Und die SZ besucht den Fotografen mit Hang zur Monumentalität: Andreas Gursky.

NZZ, 26.01.2007

Francois Zabbal, Chefredakteur der vom Pariser Institut du Monde Arabe herausgegebenen Kulturzeitschrift Qantara, macht für die Entwicklungsdefizite der arabischen Welt vor allem deren verengten Blick auf die eigene Kultur verantwortlich. Die arabische Kultur habe erst mit den Schiiten gebrochen und nach dem Untergang des Osmanischen Reiches mit den Türken. "So ist in der arabischen Welt ein doppelter Bruch mit der türkischen und der persischen Kultur auszumachen; ein Bruch, der einer Amputation des arabischen Gedächtnisses gleichkommt und der die weitgehende Unfähigkeit zur Folge hat, die Vergangenheit in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen und fruchtbar zu machen. In dieser verengten Sicht zählt einzig das imaginäre 'goldene Zeitalter' des Propheten und seiner ersten Nachfolger. Gewiss - auch Europa hatte in der Renaissance, an der Schwelle der Moderne, auf das im Mittelalter teilweise vernachlässigte griechisch- römische Kulturerbe zurückgegriffen; und die arabische Renaissance zu Ende des 19. Jahrhunderts hoffte, sich in ähnlicher Weise auf seit Jahrhunderten vergessene Werte abstützen zu können. Aber diese Rückbesinnung verbaute sich von Anfang an selbst den Weg, indem sie sich obsessiv aufs 'Authentische' und 'Ursprüngliche' in Religion, Sprache und Kultur fixierte." Und das durfte fatalerweise nur das Arabische sein.

Weitere Artikel: Eva Clausen freut sich über die Wiedereröffnung des Turiner Museums der alten Kunst und nimmt uns auf einen Rundgang mit. Matthias Messmer berichtet über chinesische Modewörter. As. stellt die neue Ausgabe der in Basel erscheinenden Zeitschrift für arabische Literatur Lisan vor. Klaus Bartels sucht nach den Ursprüngen des Wortes bio. Andrea Köhler steht vor Doug Aitkens Video-Patchwork "Sleepwalker", das über die Wände des MoMA flimmert und sieht nur "eine lyrischere Version des grellen Werbespektakels, das ein paar Straßen weiter am Time Square die Hochhäuser illuminiert".

Auf der Filmseite werden besprochen Heidi Specognas Dokumentarfilm "Das kurze Leben des Jose Antonio Gutierrez", Markus Fischers Mystery-Thriller "Marmorera", Edward Zwicks Drama "Blood Diamond", Anthony Minghellas Film "Breaking and Entering" und Marc Forsters Literaturfilm "Stranger than Fiction".

Auf der Medien- und Informatikseite stellt H. Sf. zwei Untersuchungen vor, die die immer größer werdende Bedeutung des Internets in den USA als Quelle relevanter politischer Informationen belegen. Außerdem wundert er sich, dass ein so "steifleinenes Produkt" wie die German Times schwarze Zahlen schreibt. Thomas Schuler stellt Hartmut Ostrowski, den neuen Bertelsmann-Chef vor.

TAZ, 26.01.2007

Es waren die kleinen Leute, die das schrumpfende Istanbul vor fünfzig Jahren auf eigene Faust und gegen die Gesetze in eine boomende Metropole verwandelt haben, erklärt der Urbanist Orhan Esen im Gespräch mit Kirsten Riesselmann. "Gecekondus waren immer illegal, aber legitim. Die Gecekondu-Leute besetzten schlicht staatliches Land, was in den meisten Fällen toleriert wurde. Die Politik hat damals intuitiv erkannt: Eigentum ist das beste Mittel gegen Kommunismus. Die Arbeiterkaserne wurde nie zu einer ernsthaften Alternative: Mein Haus, mein Salatgarten, mein Obstbaum, meine Ziege, meine Nachbarn - das ist die Struktur, mit der man sich identifiziert. Auch die Gewerkschaften oder die linken Bewegungen konnten auf dieser materiellen Basis langfristig nichts machen."

Auf der Medienseite meldet Barbara Oertel einen weiteren Journalistenmord in Russland. "In der vergangenen Woche wurde der Fernsehjournalist Konstantin Borowko in Wladiwostok ermordet. Borowko, der eine Kultursendung moderierte, war nach Wladiwostok gefahren, um dort eine Prüfung abzulegen. Beim Verlassen eines Nachtclubs am früheren Samstagmorgen wurde der 25-Jährige überfallen und zu Tode geprügelt, wie die russische Nachrichtenagentur Interfax berichtete." Ein Tatverdächtiger ist in Haft.

In der zweiten taz weilt Wolf Schmidt auf der virtuellen Pressekonferenz, mit der die Universität der Künste einen neuen Studiengang in der Online-Welt "Second Life" vorstellte. Und Martin Reichert erfährt von der Medienwissenschaftlerin Alexandra Kühte im Interview, dass in Alice Schwarzers nun dreißigjähriger Zeitschrift Emma Ausnahmefrauen die Regel sind.

Besprechungen widmen sich der Ausstellung "Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930-1945" im Deutschen Historischen Museum Berlin, Jonathan Meeses Regiedebüt mit dem eigenen Stück "De Frau" an der Berliner Volksbühne, und den neuen Platten von The Blood Arm und Clap Your Hands Say Yeah.

Und Tom.

FR, 26.01.2007

"Destrukturierte Überfülle", so würde Peter Michalzik Jonathan Meeses selbst inszeniertes Stück "de Frau" an der Berliner Volksbühne beschreiben. Begeisterung gab es offenbar im Überfluss. "Die meisten tranken schon ihr wohlverdientes Bier oder hatten sich in die Kälte Berlins hinausgewagt, da waren Jonathan Meese und Bernhard Schütz in der Volksbühne immer noch damit beschäftigt, ein Ende zu finden. Melodisch gestützt von Udo Jürgens' Schlager 'Griechischer Wein' (der hier ganz sicher vollkommen dionysisch zu verstehen ist) extemporierten die beiden schreiend und summend unter voller Überbeanspruchung ihrer Stimmbänder in die Endlosigkeit hinein (...) Wie und ob Schütz und Meese nach vielen Vorhängen, die sich wieder und wieder schlossen und öffneten, dann doch noch ein Ende fanden, muss hier offen bleiben. Vielleicht krächzen sie ja immer noch röchelnd in der Volksbühne, die ultimativen Helden des Nicht-Endens."

Weiteres: Reue hat im Recht nichts zu suchen, doziert der Rechtshistoriker Uwe Wesel im Gespräch mit Harry Nutt über die womögliche Haftentlassung von RAF-Mitgliedern. Auch die Bundesrepublik könne sich schlecht für die damals begangenen Fehler entschuldigen. Elke Buhr meldet von der Musikmesse midem in Cannes, dass die Branche vielfältiger und kundenorientierter wird. Und Christian Schlüter eröffnet auch in Times mager das Jahr der Geisteswissenschaften.

SZ, 26.01.2007

Holger Liebs besucht den Fotografen Andreas Gursky, dessen neue Werke bald in München, wegen fehlender massiver Wände aber vorerst nicht in Berlin gezeigt werden. "Auf Gurskys fotografierten Weltlandschaften geht der Blick oft sehr weit in die Ferne, Menschen kommen in ihnen vorwiegend massenhaft vor oder aber verlieren sich, kleine schwarze Striche, in grandiosen Panoramen - und daher verlangen diese Bilder nach Größe. Ach, was heißt schon Größe: nach epischem Ausmaß. Zwei auf dreieinhalb Meter: Das sind Formate, wie sie Alte Meister bemalt haben. Selbst in der National Gallery oder in der Alten Pinakothek würden sie sich behaupten können. Genau aus diesem Grund ist Gursky vielen verdächtig. Monumentalität und Gigantomanie wirft man ihm vor. Das menschliche Maß gehe verloren. Er sei im Grunde ein Maler mit Kamera - ein Maler des 19. Jahrhunderts, wohlgemerkt. Kann auch sein, dass es nicht gerade auf Verständnis stößt, wenn Gursky-Bilder Höchstpreise erzielen, wie kürzlich der '99cent-only'-Supermarkt, der für 2,48 Millionen Dollar versteigert wurde."

Weiteres: Das im Streit um den Suhrkamp-Verlag eingeleitete Schiedsverfahren ist kein Hinweis auf eine außergerichtliche Einigung, will Ijoma Mangold wissen. Thomas Hildebrandt und Jan-Philipp Möller wundern sich, wer die "I love life"-Werbekampagne finanziert, die gerade im Libanon auf Plakatwänden zu besichtigen ist. Nach einem Besuch des DB-Museums in Nürnberg verteidigt Sonja Zekri die Bahn gegen Anwürfe, sie würde ihren Beitrag zum Holocaust verdrängen. Eine Expertengruppe aus Stadtplanern, Architekten und Unesco-nahen Vertretern, die im Streit um die Dresdner Waldschlösschen-Brücke zur Vermittlung eingesetzt worden war, ist zu dem Schluss gekommen, dass der Brückenbau an der vorgesehenen Stelle nicht zum empfehlen ist, meldet Christiane Kohl. Wolfgang Schreiber hätte der FAZ schon vor der gestern verkündeten investigativen Safeöffnung sagen können, dass Hans Pfitzners dem Generalgouverneur Polens Hans Frank gewidmete "Krakauer Begrüßung" für großes Orchester eine "Gelegenheitskomposition" war.

Im Medienteil erwartet Christoph Kappes die erste Ausgabe der deutschen Vanity Fair am 8. Februar mit einer gehörigen Portion Skepsis. "Vielleicht ist Til Schweiger der Held auf dem ersten Cover. Vielleicht nicht. Vielleicht ist das Heft 1 die Wundertüte, aus der man seriösen Klatsch und seriösen Journalismus ziehen kann, wie Poschardt andeutet. Ganz sicher wird seiner Mannschaft bei einem wöchentlichen Produktionsrhythmus und 50 Auswürfen im Jahr bald die Prominenz ausgehen. Deutschland ist Westwood, und Hollywood ist weit."

Besprochen werden Damon Albarns Album "The Good, The Bad & The Queen" (das Tobias Knieben an die frühen Pink Floyd und die späten Beatles erinnert), Jonathan Meeses Inszenierung seines Stücks "De Frau" als "prima Party" an der Volksbühne Berlin, eine Ausstellung über den Comiczeichner Herge und seine berühmteste Schöpfung Tintin im Pariser Centre Pompidou, Marcus H. Rosenmüllers Bob-Komödie "Schwere Jungs", und Bücher, darunter Rick Moodys Roman "fabelhafter" Roman "Wassersucher", sowie Untersuchungen zur Geschichte der Universitäten München und Heidelberg im Dritten Reich (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 26.01.2007

Im Interview mit Michael Loesl spricht der britische Musiker Damon Albarn über sein All-Star-Projekt "The Good, The Bad and the Queen", die Dünnhäutigkeit der Engländer und die Liebe zum Gaskessel am Ende der Straße. Michael Pilz schreibt dazu über das bereits sehr gehypte Album des Projekts. Hanns-Georg Rodek würdigt das inzwischen zweijährige Bestehen des Filmportals. Hendrik Werner sinniert über den "kulturellen Mehrwert" der ewigen Diamanten. Marko Martin war bei einem Abend des mexikanischen Großintellektuellen Carlos Monsivais. Gerhard Midding betrachtet das Erfolgssystem Luc Besson.

Besprochen werden die Ausstellung zu "Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930 bis 1945" im Deutschen Historischen Museum Berlin, Jonathan Meeses Theaterabend "De Frau" in der Berliner Volksbühne (den Matthias Heine allenfalls als "sympathischen Quatsch" durchgehen lässt).

Auf den Forumsseiten ist Wolf Lepenies Rede zur Eröffnung des Jahres der Geisteswissenschaften abgedruckt, in der er unter anderem von der Liebe der Chinesen zu deutschen Dichtern und Denkern schwärmt: "Die Riesenprobleme, die China zu bewältigen hat, sind unübersehbar. Die jungen chinesischen Studenten aber vermitteln mit ihrer Begeisterung und ihrem sprühenden Optimismus die Überzeugung, sie könnten mit allen Schwierigkeiten fertig werden. Ihre Wissbegierde ist groß, nichts wünschen sie sich sehnlicher als deutsche Bücher. Von unseren Klassikern sprechen sie wie von berühmten und verehrten Zeitgenossen. Wir sind in China. Es ist das Jahr des Hahns. Der Hahn ist ein Symbol des Stolzes. Wir kommen uns vor wie im Jahr der Geisteswissenschaften."

FAZ, 26.01.2007

Edo Reents schildert die Schwierigkeiten des Literaturarchivs Marbach, an den testamentarisch vermachten Geldnachlass der Dichterin Hilde Domin zu kommen - davor steht ein offensichtlich etwas windiger Testamentsvollstrecker, den Reents nicht namhaft macht. Gerhard Stadelmaier stellt richtig, dass der dem Vernehmen nach von den Schriftstellern Ulla Hahn, Martin Mosebach und Botho Strauß unterzeichnete Aufruf für eine Rückkehr zur lateinischen Messe weder von Ulla Hahn noch von Martin Mosebach oder Botho Strauß je unterzeichnet wurde. Jordan Mejias beobachtete für die Leitglosse Norman Mailer bei einer New Yorker Lesung seines Hitlerromans "The Castle in the Forest". Jürgen Kaube schreibt zum Tod des Anglisten Wolfgang Iser. Rüdiger Suchsland besuchte das Saarbrücker Max-Ophüls-Festival. Lorenz Jäger nimmt raunend von der ganz im Zeichen Stefan Georges stehenden Zeitschrift Castrum Peregrini Abschied. Thomas Wagner schreibt zum Tod des Malers Adolf Frohner.

Auf der Medienseite unterhält sich Olaf Sundermeyer mit Philipp Köster und Rainer Schäfer, den Chefredakteuren der Zeitschriften 11 Freunde und Rund, über den Start in die Rückrunde der Bundesligasaison. Melanie Mühl hat sich im Internet Armanis Haute-Couture-Show angesehen. Gemeldet wird, dass Vox seinen Vertrag mit Spiegel TV aufgibt. Auf der letzten Seite unterhält sich Christian Schwägerl mit dem Nasa-Chef Michael Griffin über Pläne für bemannte Stationen auf Mond und Mars. Leo Wieland zeichnet einen Urheberrechtsstreit um einen als Wappentier Kataloniens ersonnenen Esel nach, der den in Spanien weit verbreiten Osborne-Stieren Konkurrenz machen soll. Und Wiebke Huester porträtiert nicht ohne Bewunderung den Tänzer und Choreographen Christopher Wheeldon, der seine luxuriöse Chefstelle am New York City Ballet aufgab, um seine eigene Truppe unter dem Namen Morphoses zu gründen.

Besprochen werden die Ausstellung "Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1930-1945" im Deutschen Historischen Museum, Samuel Becketts "Glückliche Tage" in der Regie von Deborah Warner am Londoner National Theatre, ein Frankfurter Konzert des Pianisten Alexei Volodin und eine Ausstellung mit Prunkstillleben des niederländischen Malers Willem Kalf in Rotterdam.