Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2006. In der FAZ erklärt Viktor Jerofejew, warum er den Gifttod Alexander Litwinenkos für einen politischen Mord hält. Die SZ guckte in der Deutschen Oper "Tom und Jerry", findet aber nicht, dass Verdis Musik dazu passt. In der Berliner Zeitung bekennt der Anatom Andreas Winkelmann seine Bewunderung für seine thailändischen Kollegen. Die taz empfiehlt obszöne Stöhnsongs. In der Welt erzählt Diedrich Diederichsen, wie der Punk mithilfe dreier Akkorde die komplexesten strategischen Manöver ausfocht. Ist aber schon 30 Jahre her.

Welt, 28.11.2006

Nur online begeht Diedrich Diederichsen ein ehrwürdiges Ereignis: Vor dreißig Jahren erschien die erste Single der Sex Pistols "Anarchy in the UK". "Punk war die Antithese zur Kultur der zehn Jahre Älteren, aber sie hatte immer noch ein paar Gliedmaßen frei, um auch dem noch älteren Establishment nachhaltige Verletzungen zuzufügen. Punk kämpfte einen Zweifrontenkrieg und focht die komplexesten strategischen Manöver ausgerechnet im Namen der Primitivität und der Reduktion. Bald diffundierte das und floss in Kunst und die allgemeine Subkulturdifferenzierung oder verkam zur urbanen Folklore. Bis dahin gab es ein paar brillante Jahre."

Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers spricht im Interview mit Marco Stahlhut darüber, wie sich Erlebnisse aus virtuellen Welten auf unsere Gehirn auswirken. Rein neuronentechnisch macht es offenbar keinen Unterschied, ob das Gehirn in der Wirklichkeit oder bei einem Computerspiel benutzt werde, weiß Powers. Aber: "Es gibt interessante neuere Untersuchungen, die zeigen, dass die Kindergeneration, die mit Steuereinrichtungen für Videospiele aufgewachsen ist, eine Großhirnrinde haben, in der große Bereiche für die muskuläre Kontrolle der Daumen benutzt werden. Und die Daumen selbst werden viel geschickter für die feinmotorische Kontrolle von Gegenständen. Das geht so weit, dass für Handlungen, für die eine Person meiner Generation den Zeigefinger benutzen würde - um auf ein Objekt zu zeigen oder es anzustoßen - jemand aus der jüngeren Generation den Daumen benutzen würde."

Weiteres: Der Bayer und Regisseur Wolf Gaudlitz erklärt, was den Heimatfilm "Wer früher stribt, ist länger tot" so erfolgreich macht: "Logik, das wissen Bayern wie Preußen, zielt niemals am Hirn vorbei und schon gar zwei Mal nicht, wie der Bayer gerne sagt, wenn die Logik mit Gefühl behaftet ist." Uta Baier denkt über die Einführung des von Robert Gernhardt ins Spiel gebrachten "Kunstfreundscheins" für Kulturdezernenten nach. Konrad Adam erklärt, was den Balzan-Preis, für den die Ausschreibungen heute beginnen, vom Nobelpreis unterscheidet.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Tschechow-Inszenierung "Drei Schwestern" an den Münchner Kammerspielen, das Album "The Isis Project" von Guy Chambers und Sophie Hunter sowie ein Dokumentarfilm über die Dixie Chicks, die gestürzten Engel des Country.

Auf den Forumsseiten fordert Wolf Lepenies mehr Respekt gegenüber den demokratischen Ritualen, den er bei der Wahl des Regierenden Bürgermeisters von Berlin schmerzlich vermisste: "Formen politischen Handelns und Rituale der Repräsentation ernst zu nehmen heißt nichts anderes, als den Institutionen Respekt zu zollen, die Personen und Parteien überdauern."

FR, 28.11.2006

Vielleicht tut dem Suhrkamp-Verlag ein wenig Kapitalismus ganz gut, meint die Ex-Suhrkamp-Autorin Jagoda Marinic, und wundert sich über den Heuschrecken-Alarmismus des Feuilletons. "Seit Jahren wird jeder Schritt und vor allem jeder Fehltritt der Suhrkamp-Geschäftsleitung von der Presse publik gemacht und breitgetreten, doch wenn dann die Kapitalisten kommen, machen sich selbst Intellektuelle wieder an alte Klischees und verdammen den Kapitalismus zum Gegner des Intellekts, machen kurzerhand Täter zu Opfern, denn die Suhrkampkultur steht auf dem Spiel! Vielleicht werden gerade Kapitalisten das Kapital, das in Unselds Idee steckte, erkennen und pflegen, weil daraus nachweislich Geld zu machen war. Unseld, um einmal in verlagsinterner Beschwörungsmanier zu sprechen, fände das ganz wunderbar. Auf dieser Errungenschaft, dass nämlich Geld und Gedanke nicht zwei sein müssen, basierte seine Eitelkeit."

Andreas Kriegenburg schafft es in seiner Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" in den Münchener Kammerspielen, das Stück wieder amorph, offen und gefährlich zu machen, jubelt Peter Michalzik. "Kriegenburg zerstört - vor allem durch die Masken - das engmaschige Beziehungsgeflecht, das Tschechow in sein Stück gewoben hat, er befreit die Figuren aus den Fängen des Psychologismus und schickt sie in einen offenen Raum, der da heißt: die Bühne. Was sich da entfaltet wie die Knospe an der Decke, ist zunächst einmal nur die Welt des Regisseurs. Man singt das Lied vom gelben U-Boot, setzt sich die Damen unbeholfen auf den Schoß, stopft sich beim Küssen das Maul mit Nüssen und was der Merkwürdigkeiten mehr sind. Probenwitz durchzieht die Aufführung wie Wasseradern den Karst."

Außerdem: In Times mager guckt Harry Nutt Kraniche. Besprochen werden das Konzert der "Red Hot Chili Peppers" in Frankfurt und Lorenzo Fioronis Inszenierung von Verdis "Simon Boccanegra" an der Deutschen Oper Berlin ("Kleinkarierter Stadttheater-Realismus", schäumt Georg-Friedrich Kühn).

NZZ, 28.11.2006

Heute wird rezensiert: Eine Retrospektive zum 200. Geburtstag des Schweizer Malers Charles Gleyre im Musee cantonal des Beaux-Arts in Lausanne hat Caroline Kesser besucht, Hubertus Adam hat sich eine Ausstellung über "Keramik als Augentäuscher" im Hetjens-Museum in Düsseldorf angesehen. Verdis "Don Carlos" hatte gleichzeitig in Basel und in Freiburg Premiere. Christoph Ballmer vergleicht die Inszenierungen von Calixto Bieito und Barbara Beyer. Am Zürcher Opernhaus hat Marianne Zelger-Vogt Emmanuel Chabriers Opera bouffe "L'Etoile" gelauscht.

Martin Krumbholz berichtet in einem Lesezeichen über Bernd Schroeders neuen Roman "Hau", der sich einem der "spektakulärsten Justizirrtümer der wilhelminischen Ära" widmet: dem Fall des Rechtsanwalts Carl Hau, der am 6. November 1906 seine Schwiegermutter Josefine Molitor in Baden-Baden auf offener Straße erschossen haben soll. Weitere Buchbesprechungen gibt es zu Alona Kimhis Melodram "Lilly die Tigerin", und Rudolf Bussmanns Roman "Ein Duell" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau).

Außerdem wird dem französischen Schriftsteller Philippe Sollers zum Siebzigsten gratuliert und der Tod des portugiesischen Lyrikers und Malers Mario Cesariny gemeldet.

FAZ, 28.11.2006

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew fühlt sich bei der Lektüre des letzten Buches des vergifteten Alexander Litwinenko (hier sein Anschuldigungsbrief an Putin) an Solschenizyn erinnert. "Der Vergleich von Solschenizyn mit einem vergifteten Agenten der Geheimpolizei ist nur insofern gerechtfertigt, als im heutigen Russland Worte zu Taten werden. Wenn jemand etwas gesagt hat, hat er auch etwas getan, und wenn er es getan hat, muss er für das Getane geradestehen." Litwinenkos Tod hält er für einen politischen Mord. "In der derzeitigen Situation im Land gleicht ein Dissident einem Straßenbahnpassagier, der bei voller Fahrt seinen Kopf aus dem Fenster streckt. Das reicht schon, um umzukommen."

Weiteres: Andreas Kilb muss bei Litwinenkos Vergiftung an die neue Unübersichtlichkeit im aktuellen James Bond-Streifen denken. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos antwortet auf Gabor Steingarts Warnung vor dem asiatischen Raubkatzenkapitalismus und erklärt noch einmal ganz langsam die Vorzüge gegenseitigen Warenaustauschs. Das Frankfurter Museum für Moderne Kunst und die Kunstmuseen in Liechtenstein und St. Gallen kaufen gemeinsam die etwa 200 Werke umfassende Sammlung mit Minimal und Postminimal Art des Kölner Galeristen Rolf Ricke, berichtet Niklas Maak erfreut. Auf einem "Atelier" des Deutschen Historischen Instituts durfte Oliver Jungen über die Gründe für das Schisma von 1378 rätseln. Jürg Altwegg gratuliert dem französischen Schriftsteller Philippe Sollers zum Siebzigsten.

Die DVD-Seite präsentiert einige Perlen aus dem Werk des jüngst verstorbenen Robert Altman. Auf der letzten Seite kolportiert Gina Thomas, dass die Londoner National Gallery nun zugeben musste, dass Lucas Cranachs "Venus und Amor als Honigdieb" wohl Beutekunst ist. Außerdem zu lesen sind Eva-Maria Nagels Reportage über Tanzförderung in den Townships von Kapstadt sowie Rolf Thomas' Würdigung des französischen Sängers Henri Salvador.

Besprochen werden Tina Laniks Inszenierung von Euripides' "Medea" am Münchener Residenztheater und Andreas Kriegenburgs Version von Tschechows "Drei Schwestern" an den benachbarten Kammerspielen, Auftritte der Band "Red Hot Chili Peppers" und des NDR-Sinfonieorchesters unter Christoph von Dohnanyi in Frankfurt, außerdem einige neue Bücher von und mit Peter Handke.

TAZ, 28.11.2006

Stefan Grissemann ist hingerissen von Peter Sellars Mozart-Hommage "New Crowned Hope" in Wien - samt Gamelan-Musical, tanzender MAU-Compagnie, musizierenden Asylbewerbern und Tomaten züchtenden österreichische Biobauern. "Mit Mozart hat all das indes nur indirekt zu tun. Um dem Meister 2006 gerecht zu werden, so Sellars' Hypothese, müsse man im Geiste des Künstlers arbeiten, nicht immer nur dessen Kompositionen nachvollziehen. Die Musik des Salzburger Wunderkinds ist während der vier Festivalwochen kaum zu hören; stattdessen: höchst gegenwärtige Variationen über Mozart'sche Generalthemen, über dessen Experimentierfreudigkeit und soziales Engagement."

Weitere Artikel: Andreas Busche war bei einer Tagung in Hamburg über das "Maritime Kino in Deutschland und Europa". Kirsten Riesselmann erzählt von einem Tag auf der linken Seite des Goldenen Horns.

Besprochen werden eine CD des Jazz-Saxofonisten David Murray, Michael Thalheimers Inszenierung von Jon Fosses "Schlaf" am Deutschen Theater Berlin und die CD-Box "Heavy Breathing": "69 Songs befinden sich darauf, 69 lechzende, dreckige, wimmernde, geheimnisvoll verschleierte, derbe, blümchenhaft verspielte, ohrenpornografische, obszöne Stöhnsongs auf vier voll gepackten CDs oder Vinyls", berichtet Klaus Raab (hier mehr, aber leider keine Hörproben).

Schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 28.11.2006

Angesichts der nun als Dauerausstellung im brandenburgischen Guben eingerichteten Volksleichenschau des Präparators Gunther von Hagens berichtet Andreas Winkelmann, Anatom an der Berliner Charite, wie pietätvoll man in thailändischen Anatomieinstituten mit Leichen umgeht: "Es wird in Thailand auch im konkreten Umgang praktisch nie von 'Leichen' gesprochen, sondern immer vom 'Großen Lehrer'. Gelegentlich kann man sehen, dass ein Student oder eine Studentin ihren Großen Lehrer mit dem wai, der thailändischen Verbeugung, begrüßt. Der größte Unterschied zu europäischen Präpariersälen ist aber wohl, dass an jedem Tisch der Name des Verstorbenen angebracht ist sowie auch sein Alter und die Todesursache. Die meisten thailändischen Ärztinnen und Ärzte erinnern sich ihr Leben lang an den Namen des Großen Lehrers, den sie im Präparierkurs zergliedern durften." In Guben dagegen werden mit Leichen spektakuläre Filmszenen nachgestellt.

SZ, 28.11.2006

Nicht gut beraten war Lorenzo Fioroni, der Regisseur von Verdis "Simon Boccanegra" an der Deutschen Oper Berlin, der den Titelhelden zu einem betörenden Klagegesang im Fernsehen zappen und dabei zur laut artikulierten Wut des Publikums "Tom und Jerry" gucken lässt, beobachtet Gustav Seibt: "Während die Musik wogenhaft klagt, teilweise fast verhaucht, jagen sich oben in rasender Eile und gummihafter Regsamkeit Katzen und Mäuse. Ironische Brechung, ja. Aber es erweist sich, dass diese altbekannten, harmlosen und kindlichen Zeichentrickfiguren tatsächlich die Gewalt besitzen, die Musik regelrecht auszulöschen. Es ist dem menschlichen Sinnesapparat nicht gegeben, eine solche Musik und einen solchen optischen Eindruck irgendwie vernünftig zu koordinieren, und das heißt: auch nur in eine ästhetisch sinnvolle Spannung, etwa in einem Kontrasteffekt, zu bringen. Der Eindruck war nicht anders, als hätte man ins Orchester zu den normalen Musikinstrumenten für einmal einen Schlagbohrer gesetzt. Und so war auch die Reaktion des Publikums."

Weitere Artikel: Johannes Willms erklärt im Aufmacher, warum das Phänomen des Rassismus in der französischen Republik so schwer zu fassen ist: Sie ist farbenblind. Csc notiert die Gründung eines Deutsch-Türkischen-Dialogforums durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Joachim Kaiser hat für die Kolumne "Zwischenzeit" Thomas Manns "Josephs"-Roman nochmal gelesen und erschauert vor neu entdeckten Unheimlichkeiten der Mannschen Ironie. Jörg Später verfolgte eine Hamburger Tagung über die Rückkehr deutscher Juden aus dem Exil. Holger Liebs kommentiert den Verkauf der Sammlung Rolf Ricke mit Werken amerikanischer Künstler der sechziger Jahre an drei Museen in Frankfurt, St. Gallen und Liechtenstein. Rainer Gansera und Fritz Göttler unterhalten sich mit dem Schauspieler Josef Bierbichler über seine Rolle in Hans Steinbichlers Film "Winterreise". Tobias Kniebe stellt das Münchner Plattenlabel "Permanent Vacation" vor, das nur gegründet wurde, um das Instrumental "Bobble Sex" (Hörprobe) des längst vergessenen dänischen Popstars Tommy Seebach wieder auflegen zu können. Stefan Koldehoff berichtet, dass ein in Deutschland seit 1945 vermisstes Cranach-Gemälde in einem Londoner Museum wiedergefunden wurde.

Besprochen werden Kaija Saariahos laut Reinhard J. Brembeck betörend schöne Oper "La Passion de Simone" über das Leben der Simone Weil in Wien, Andreas Kriegenburgs laut Christopher Schmidt ebenfalls betörende Inszenierung der "Drei Schwestern" in München und Bücher, darunter Ulrich Schmids Roman "Aschemenschen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).