Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2004. Die NZZ war Zeuge, als Jürgen Habermas aus Vernunftgründen gläubig wurde. In der taz wirft die Soziologin Angelika Poferl ihrem Kollegen Heinz Bude Geschlechtsblindheit vor. In der SZ vergleicht Laszlo F. Földenyi Ungarn mit einem unehelichen Kind.

NZZ, 09.03.2004

Uwe Justus Wenzel sinniert anlässlich eines Symposions in Wien, auf dem sich Jürgen Habermas mit Kants Moral- und Religionsphilosophie auseinander setzte, über das Verhältnis von Vernunft und Religion. In Zeiten, da der Glaube an die Vernunft selbst zu schwinden drohe, suche Habermas Kraft und Halt bei den Weltreligionen, glaubt Wenzel: "Habermas jedenfalls registrierte ein 'ringsum verkümmerndes normatives Bewusstsein'. Das Projekt der Moderne - die vernünftige Selbstbestimmung - sei durch manche 'Entgleisung' bedroht; durch die Vorherrschaft ökonomischer Imperative und die naturalistische Selbstdeutung des Menschen in den Biowissenschaften etwa. Auf die Sprünge helfen könnte der lahmenden Vernunft, folgt man Habermas weiter, nun aber der religiöse Glaube."

Besprochen werden eine Ausstellung zu dem Architekten Friedrich Kiesler in Venedig, der Auftakt von Andras Schiffs Beethovenzyklus in der Tonhalle Zürich ("Vielleicht gehen wir doch auch ins Konzert um der Verdichtung der Existenz willen, die wir in diesen Augenblicken immer wieder erleben, und der Vollendung wegen, die sich hier einstellen kann, während sie im Leben oft genug an den Rahmenbedingungen scheitert", schwärmt Peter Hagmann) und Bücher, darunter ein Doppelband über Kunstdenkmäler des Kanton Schwyz, Andrew Sean Greers Roman "Die Nacht des Lichts" und Manuel de Lopes den Spätfolgen des spanischen Bürgerkriegs nachspürendes Buch "Fremdes Blut" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 09.03.2004

In Times mager räsoniert Hans-Klaus Jungheinrich anlässlich des achtzigsten Geburtstags von Peter Scholl-Latour über Freuden und Abgründe des durchschnittlichen Männerlebens. Das beginnt so: "Hart geschnitten an den gestrigen Weltfrauentag ist heute der 80. Geburtstag von Peter Scholl-Latour, der sich als Prachtexemplar des absolut männlichen Mannes würdigen lässt, sozusagen als Mannmann oder Mannesmann, auf jeden Fall dem Haupt einer Kriegsgöttin entsprossen und dem gemäß von einer genetischen Ausstattung, die zu typischer Wahrnehmung der Erscheinungsform Frau prädestiniert."

Weiteres: Götz-Dietrich Opitz fasst den Fall Aristides, die lange Krise Haitis und die Rolle der USA zusammen. Gerwin Klinger resümiert eine Tagung über Terror und Demokratie am Potsdamer Einstein Forum, an der unter anderem Jan Philipp Reemtsma, der amerikanische Philosoph Richard Rorty, der Verfassungsrechtler Sanford Levinson und der südafrikanische Künstler und Autor Breyten Breytenbach teilnahmen. Gemeldet wird der Tod der Kinderbuchverlegerin Gertraud Middelhauve, die 72-jährig in München gestorben ist und schließlich die Schließung der Ausstellung einer amerikanischen Fotografin in London wenige Stunden nach ihrer Eröffnung. Ein Besucher hatte die gezeigten Nacktaufnahmen ihrer Tochter abfotografiert. Auf der Medienseite wird ein neues Promiblatt namens "Celebritiy" vorgestellt und noch einmal an der Start der zweiten Staffel von "24" erinnert.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Aktionisten, Kommunarden und Maler Otto Mühl (mehr), die im Wiener Museum für Angewandte Kunst unter schwersten Sicherheitsvorkehrungen eröffnet wurde. Erst kürzlich waren dem inzwischen an Parkinson erkrankten Künstler von Ex-Kommunarden erneut "sexuelle Nötigung und psychische Manipulation" vorgeworfen worden. Des weiteren eine Ausstellung des amerikanischen Minimalisten Sol LeWitt (mehr) im Kunsthaus Graz , eine Inszenierung von Händels "Alcina" an der Komischen Oper Berlin und eine Aufführung von Schillers "Don Karlos" am Hamburger Schauspielhaus.

TAZ, 09.03.2004

Auf der Meinungsseite widerspricht die Soziologin Angelika Poferl (mehr) den Einschätzungen ihres Zunftkollegen Heinz Bude (mehr) in der taz vom vorvergangenen Samstag, wonach künftig Familien - oder familienähnliche Strukturen - den Wohlfahrtsstaat ersetzen müssten. So kritisiert sie unter anderem, seine "Ausführungen zur Familie, charakterisiert als 'Anderthalb-Personen-Modell'" als "so geschlechtsblind, dass man es kaum glauben möchte".

Auf der zweiten Meinungsseite (Herrgott noch mal, geht das nicht kompakter?) kommentiert der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz in einem Interview die Debatte um die sogenannte "Zahnarzt-Anekdote" des jüdischen Holocaust-Mahnmalarchitekten Peter Eisenman (mehr). Der soll "erzählt haben, er sei bei einem Zahnarztbesuch in New York gefragt worden, ob seine Goldfüllungen von der Firma Degussa aus den Zähnen ermordeter Juden stammten". Inzwischen habe er sich entschuldigt. Und auf der Medienseite erklärt Peter Scholl-Latour in einem Interview anlässlich seines 80. Geburtstags unter anderem, warum er nie Pazifist geworden ist ("Krieg ist etwas sehr Menschliches. Meine katholische Erziehung hat mich in der Einsicht geprägt, dass der Mensch nicht a priori gut ist. Das Böse existiert").

Auf den Kulturseiten schreibt Dirk Baecker seine "Kleine Soziologie der Erziehung" fort, in der es heute um die "Medien der Macht und der Liebe" geht. Dietrich Kuhlbrodt resümiert das Grazer Filmfest "Diagonale". Esther Kochte berichtet von einem Berliner Seminar zur Leseförderung, und Brigitte Werneburg sah zwei "umfassende" Ausstellung in Lille und Antwerpen, die Rubens als "den großen Maler der Gegenreformation" präsentieren.

Besprochen wird außerdem die Studie "Diskurse des Politischen. Zwischen Re- und Dekonstruktion" von Dietmar J. Wetzel. (Mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

SZ, 09.03.2004

Im Aufmacher erklärt Laszlo F. Földenyi (mehr hier), weshalb Ungarn sich zwar nach Europa sehne, gleichzeitig aber "doch eifersüchtig und wehleidig auf seine abgeschlossene Besonderheit bedacht" sei. "Wenn Ungarn ins Ausland blicken, benehmen sie sich oft wie uneheliche Kinder: Sie halten sich für besser als die legalen Kinder, vermögen aber ihre Rechte nicht durchzusetzen. Sie hüllen sich nach außen in trotziges Schweigen, sind innerlich aber entrüstet, verlangen Rechenschaft und umhüllen ihr Minderwertigkeitsgefühl gerne mit Größenwahn."

Ralf Berhorst hat sich auf einer vom Einstein Forum und dem Hamburger Institut für Sozialforschung veranstalteten Potsdamer Tagung zu "Terror, internationales Recht und die Grenzen der Demokratie" über die düsteren Ansichten des amerikanischen Philosophen Richard Rorty (mehr) erschreckt - und mehr noch darüber, dass ihm "keiner ernsthaft widerspricht". Rorty hatte nach dem 11. September "an den Reichstagsbrand gedacht und befürchtete, die US-Regierung könne den Terroranschlag auf ähnliche Weise nutzen wie die Nazis das Feuer im Parlament". Auf der Tagung nun habe er sich "als raunender Fürst prophetischer Finsternis" erwiesen: mit dem 342 Seiten starken "Patriot Act" sei genau das geschehen."

Ira Mazzoni informiert darüber, dass das berühmte serbische Kloster auf dem Athos, in dem ein Feuer ausgebrochen war, offenbar seine Schätze gerettet hat. Jürgen Berger berichtet, dass die Mannheimer Oper ab der nächsten Spielzeit eine neue Intendantin bekommt, derweil aber erst einmal eine heftige Spielplan- und Inszenierungskontroverse tobt. Hans Schifferle würdigt die Grazer Diagonale als "Filmfest gegen alle Chancen". Volker Breidecker resümiert eine Trierer Tagung zur Frage "Geschichtswissenschaft und Verlagswesen in der Krisenspirale?" In der Zwischenzeit denkt Harald Eggebrecht sehr poetisch über Erinnerung, Sherlock Holmes' Gedächtnistheorie und einen unvergesslichen Cellisten nach. Und "alex" staunt über den Umsturz einer lieb gewonnenen Überzeugung: drei Physiker aus Ohio behaupten nämlich jetzt, dass schwarze Löcher "randvoll" sind. Zu lesen ist schließlich noch ein Nachruf auf die Bilderbuchverlegerin Gertraud Middelhauve.

Ansonsten viele Besprechungen heute: So einer großen Dali-Ausstellung in Barcelona, die den Künstler "als König der Posen und Reklamegenie der Massenkultur" präsentiert, von Händels Zauberoper "Alcina" an der Komischen Oper Berlin, von Jürgen Kruses Inszenierung von Garcia Lorcas "Bluthochzeit" am Schauspielhaus Bochum, der Filmkomödie "...und dann kam Polly" von John Hamburg mit Ben Stiller und Jennifer Aniston und schließlich eines Gastdirigats der Finnin Susanna Mälkki bei den Münchner Philharmonikern.

Bücher werden auch rezensiert, darunter eine Publikation über Leben und Wirken des klassizistischen Hofmalers Anton Raphael Mengs, M. Blechers Roman "Aus der unmittelbaren Wirklichkeit" und der Berliner Nachlass von Robert Koch (siehe dazu unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

FAZ, 09.03.2004

Paul Ingendaay stellt ein Buch vor, das dem Verhältnis zwischen Gabriel Garcia Marquez und Fidel Castro bis ins Detail nachgeht, "Gabo y Fidel" von Angel Esteban und Stephanie Panichelli (Madrid, Verlag Espasa Calpe), eine "teils überaus bedrückende Lektüre". Ingendaay resümiert: "Wer und was der Verfasser von 'Hundert Jahre Einsamkeit' für Kuba ist, schillert in mehreren Farben. Vielleicht ist er der mächtigste Mann hinter Fidel Castro. Ganz sicher ist er sein Vertrauter inmitten mediokrer Gestalten, der unbestrittene Werbeträger des Regimes und möglicherweise sogar Castros einziger wirklicher Freund."

Weitere Artikel: Dirk Schümer berichtet in der Leitglosse über einen Laborversuch mit Ratten, die abstinent gehalten wurden, und Ratten, die dem Alkohol zusprechen durften - letztere lebten länger. Steffen Jacobs, Herausgeber einer demnächst erscheinenden Anthologie komischer Gedichte plädiert für das "gewitzte Gedicht". Peter Lückemeier, ehemals Student am berüchtigten Otto-Suhr-Institut, schreibt eine kleine Hommage auf die Politologin Gesine Schwan, die ihre Studenten unkonventioneller Weise siezte. Monika Osberghaus schreibt zum Tod der Kinderbuchverlegerin Gertraud Middelhauve. Oliver Jungen hat der Tagung "Geschichtswissenschaft und Buchhandel in der Krisenspirale?" in Trier gelauscht (mehr dazu hier als pdf). Henning Ritter gratuliert dem Politikwissenschaftler Henning Ottmann zum Sechzigsten. Jordan Mejias gratuliert der New Yorker Zeitschrift Dissent zum fünfzigsten Jubiläum. Erwin Seitz referiert neue Forschungen über die einstige Nutzung des Dürer-Hauses in Nürnberg

Auf der Bücher-und-Themen-Seite meditiert Stefan Weidner über die "Orientalistik nach dem Tod der großen Vermittlerin Annemarie Schimmel". Und Felicitas von Lovenberg zitiert neue Reaktionen auf die in Großbritannien betriebene Abschaffung des empfohlenen Verkaufspreises auf den Buchdeckeln.

Auf der Medienseite freut sich Michael Hanfeld auf die neue Staffel der Serie "24". Und Werner Kurzlechner berichtet, dass der Bollywood-Produzent Abhik Bhanu in Hessen drehen will.

Auf der letzten Seite erinnert Florian Schui daran, dass der Finanzminister Ludwigs XVI., Baron Turgot, einst, wie heute Wolfgang Clement, die Handwerksordnung lockern wollte und dass sein Scheitern das Ende des Ancien Regime einläutete. Deniela Gregori berichtet über neue Vorwürfe des Kindesmissbrauchs gegen den österreichischen Aktionskünstler Otto Mühl. Gina Thomas profiliert den Amerikakorrespondenten der BBC Alistair Cooke, der im Alter von 95 Jahren seine "Briefe aus Amerika" einstellt.

Besprochen werden, Horvaths "Bergbahn", inszeniert von Hasko Weber in Stuttgart, eine Ausstellung zensierter Fotografien aus der Sowjetunion in der Berliner Giedre Bartelt Galerie, die Uraufführung eines Requiems von Friedrich Cerha in Wien, Heinrich Marschners Oper "Hans Heiling" in Straßburg und ein "Cinderella"-Ballett an der Berliner Staatsoper.