Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.12.2003. In der FR erklärt Georg Franck, was das schlimmste ist im Kapitalismus: nicht ausgebeutet zu werden. Die taz bringt einen Islam-Schwerpunkt. Laut Berliner Zeitung droht Sascha Waltz mit Weggang von der Schaubühne. Die SZ begibt sich auf die Suche nach einer "neuen sozialen Frage". Die FAZ besucht das Grab Masuds.

FR, 02.12.2003

Der Wissenschaftler Georg Franck ("Die Ökonomie der Aufmerksamkeit") erklärt im Interview, was mentaler Kapitalismus ist: "Wertschöpfung entsteht dadurch, dass Menschen ihre Beachtung hergeben." Ausgebeutet werden dabei diejenigen, "die Beachtung für mediale Information geben, aber keine Beachtung zurückbekommen. Bei der unvermittelt zwischenmenschlichen Kommunikation, also wenn wir zwei jetzt miteinander sprechen, kriege ich ungefähr das zurück, was ich investiere. Diese Austauschbeziehung wird im Fall der medialen Kommunikation sehr einseitig. Die große Zahl der Leser und Seher gibt hier nur noch, ohne je selber ins Licht der Beachtung zu gelangen." Das führt laut Franck zu Reibungen nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern auch zwischen den Kulturen: "Im globalen Maßstab sind die Außenhandelsbilanzen in Sachen Kultur so unausgeglichen wie in Sachen des Geldes. Hier wie dort sind freilich diejenigen in der allerschlimmsten Lage, die nicht einmal mehr ausgebeutet werden." Afghanistan zum Beispiel.

Weitere Artikel: Andreas Hartmann meldet die Rückkehr von Jarvis Cocker (Ex-Pulp) als singender Zombie der Band Relaxed Muscle. Ernst Piper erinnert an das Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. Dezember 1933. In Times Mager meditiert Mirja Rosenau über Aldi Süd, der jetzt handsignierte Kunstdrucke anbietet.

Besprochen werden eine Ausstellung der schönen Madonnen von Buoninsegna di Duccio in der Santa Maria della Scala und Museo dell Opera in Siena, Jon Fosses "Schönes" in Bochum, nebst einem "Rückblick auf die nachhaltige Jon-Fosse-Hausse hier zu Lande", eine Ausstellung der Fotografien von Dirk Reinartz im Gropius-Bau in Berlin und das Festival "Pianorama" im Funkhaus des WDR

TAZ, 02.12.2003

In einem sehr lesenswerten Artikel beschreibt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze ("Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert") die Anschläge islamistischer Terrorgruppen als Antwort auf das Vakuum, das die Verbürgerlichung der islamistischen Bewegungen hinterlassen hat: "Die vorherrschende, wertkonservative Tendenz innerhalb des islamistischen Milieus wird von einer Elterngeneration verkörpert, die in den Achtzigerjahren das politische Versagen ihrer Gesellschaftsutopien erleben musste, die durch die islamische Revolution im Iran 1979 angefacht worden waren. Doch weder dort noch in den arabischen Ländern hatte der Islamismus zu einer Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage beigetragen. Die Kinder dieser Generation von Islamisten, die von ihren Eltern auf eine puritanische Lebenshaltung hin erzogen wurden, mussten nun erleben, dass diese Ausbildung ihnen keinerlei soziale Karrieren mehr öffnete. Eine radikale Minderheit kritisierte ihre Elterngeneration und setzte sich von ihr symbolisch ab, indem sie sich einem 'Leben im Islam' verschrieb. Afghanistan, Bosnien oder der Nordkaukasus boten Ziele, wo ein solches Leben existenziell erfahren werden konnte."

Auf den Tagesthemenseiten stellen Jan Feddersen und Philip Gessler eine von der EU in Auftrag gegebene Studie über Antisemitismus in Europa vor. Danach üben nicht nur Rechtsextremisten, sondern auch Muslime in Europa Gewalt gegen Juden aus. Die EU hält die Ergebnisse für nicht repräsentativ und die Studie daher unter Verschluss. Werner Bergmann, Mitautor der Studie, protestiert im Interview: "Muslime tragen den Nahostkonflikt" nach Europa, erklärt er. Auf der Kommentarseite kritisiert Eberhard Seidel westliche Intellektuelle, die den Islamismus und seine Protagonisten nur in Opferrollen wahrnehmen wollen: "Um die radikalislamistische Herausforderung in ihrer ganzen Dimension zu begreifen, wäre es nützlich, sich eingehender mit den Gemeinsamkeiten zwischen Faschismus und Islamismus auseinander zu setzen."

Weitere Artikel: Anne Kraume berichtet, dass die im Aufbau Verlag erscheinende Literaturzeitschrift ndl (neue deutsche literatur) kurz vor dem Aus steht. Detlef Kuhlbrodt war beim "Lovepangs"-Kongress in der "Schmerzkapitale FFM 03". In der tazzwei porträtiert Reinhard Wolff den Norweger Jon Lech Johansen: Er entwickelt Computerprogramme, die Sicherheitskodes von DVDs knacken. Die erste Klage gegen Johansen haben Film- und Musikkonzerne verloren. Heute beginnt der zweite Prozess.

Besprochen werden Retrospektiven der Filmemacher Joao Cesar Monteiro und Nikos Panayotopoulos beim Thessaloniki International Filmfestival und die von Monica Bonvicini und Sam Durant produzierte Ausstellung "Break it/fix it" in der Wiener Secession.

Schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 02.12.2003

An der Schaubühne ist Sparkrise, meldet Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung. Die Choreografin Sasha Waltz, "die zuletzt mit dem großartigen 'insideout' zeigte, dass sie auch über 'Körper', ihrem Schaubühnen-Eröffnungsstück längst hinaus ist", droht mit Weggang. "Aber es geht nicht allein um die Compagnie von Sasha Waltz, die in diese Stadt gehört. Es geht um die gesamte Schaubühne."
Stichwörter: Waltz, Sasha

FAZ, 02.12.2003

Verena Lueken besucht das malerisch gelegene Grab von Ahmed Schah Masud, dem Führer der Nordallianz, der kurz vor dem 11. September von den Taliban ermordet wurde, und hat eine seltsame Begegnung: "Zwei schwarze Geländewagen rasen, umgeben von dichten Staubwolken, die Straße hinauf, bremsen vor dem Mausoleum scharf ab, die Fahrer springen heraus und öffnen die Tür für einen regelmäßigen Besucher. Abdullah Abdullah, Kampfgefährte Masuds und heute Außenminister Afghanistans, entsteigt elastisch dem Wagen, der Wind bläht seinen langen Mantel, erfasst den Schal, und so stolziert der Minister mit schnellem Schritt wie ein Fürst aus der Disney-Version von 'Tausendundeiner Nacht' auf das Grab seines Freundes zu. Als seien wir sein Empfangskomitee, schüttelt er uns die Hand, dann verschwindet er in der kleinen Grabmoschee, um zu beten."

Werner Spies bespricht die Gauguin-Ausstellung im Pariser Grand Palais, für das aus dem Bostoner Museum of Fine Arts auch das monumentale Bild "Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wer sind wir?" anreiste: "Nirgends sonst tritt in der Zeit die Linderung des Geschlechterkampfes, die androgyne Gleichsetzung der Leiber und Sinne auf so schamlos verlockende Weise in den Vordergrund."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann besuchte eine Kölner Filiale von Aldi Süd, konnte aber keine handsignierten Drucke der Aldi-Kunstaktion (12,99 Euro im Rahmen) mehr erstehen. Jordan Mejias stellt das neueste Buch des umstrittenen und rechten Politologen Charles Murray vor: "Human Accomplishment: The Pursuit of Excellence in the Arts and Sciences, 800 B.C. to 1950", worin sich nach streng statistischen Ermittlungen herausstellt, das die größten kulturellen Leistungen von toten weißen Männern vollbracht wurden (am Sonnabend hat die New York Times das Buch besprochen, eine Leseprobe finden Sie hier, witzig auch ein Artikel aus Slate über die "Battle of the Genius-Rankers"). Gemeldet wird, dass Romuald Karmakars Film "Die Nacht singt ihre Lieder" als Wettbewerbsbeitrag bei den Berliner Filmfestspielen 2004 gezeigt wird. Wolf Koenigs schreibt den Nachruf auf den Archäologen Gottfried Gruben. Erna Lackner resümiert das zu Ende gehende Grazer Kulturhauptstadtjahr ("Sogar in Wien, der naturgemäß arroganten Hauptstadt, wurden leicht erstaunte bis neidische Ratschläge gegeben, doch einmal über den Semmering zu fahren: 'Lachen Sie nicht, Graz hat sich gemausert!'") Christoph Albrecht berichtet von einer Tagung zum sechzigsten Geburtstag des Mediävisten Achatz von Müller. Und Kunsthistoriker Werner Hofmann gratuliert Kunsthistoriker Thomas Zaunschirm zum Sechzigsten (wer sechzig ist und Professor, der hat's gut in der FAZ!)

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg über Stellenabbau beim Zürcher Tages-Anzeiger. Besonders das Feuilleton muss bluten, es scheint die Krise aber nicht ganz so fromm über sich ergehen zu lassen wie die meisten anderen Redaktionen: "Gegen die Entlassung des Ressortleiters hat die Redaktion in einer Stellungnahme, die sie ins eigene Blatt rückte, protestiert."

Auf der letzten Seite erinnert Frank Pergande an Alfred Wellms Roman "Pause für Wanzka", der vor 35 Jahren erschien und sich beißend über das Schulsystem der DDR mokierte. Jürgen Dollase würdigt den Kochbuch-Verleger Friedrich-Karl Sandmann (Verlag Zabert Sandmann), der vom Branchenmagazin Buchmarkt zum Verleger des Jahres ernannt wurde. Und Dietmar Dath meldet, dass Tony Blair in einer in England spielenden Folge der Simpsons drei Sätze lang seiner Figur die eigene Stimme leihen wird.

Besprochen werden Verdis "Macbeth" am Moskauer Bolschoi Theater, eine Ausstellung über die Bagdad- und Hedjazbahn im Nürnberger Museum der Deutschen Bahn, Jean Renshaws neues Tanztheaterstück "Marie Antoinette" in Erfurt, Elmar Goerdens Inszenierung von Lessings "Nathan" am Münchner Residenztheater und die große Ausstellung über Francis Bacon und seine Insirationsquellen im Kunsthistorischen Museum Wien ("Der Homoerotiker Bacon hat sich zeitlebens mit der weiblichen Körperform schwergetan", erfahren wir hier von Peter Gorsen).

Außerdem liegt der FAZ heute die dritte Literaturbeilage bei, die wir wie gewohnt in den nächsten Tagen auswerten werden.

NZZ, 02.12.2003

"Schatten über zwei Meisterwerken der Moderne" sieht Roman Hollenstein in Los Angeles aufziehen. Zwar sei die Stadt mit der Eröffnung von Frank Gehrys Disney Hall nun auch "architektonisch erwachsen" geworden, doch zumindest zweien der "gebauten Extravaganzen" der Moderne, sowohl Frank Lloyd Wrights Hollyhock House als auch Rudolf Schindlers Bungalow in West Hollywood, droht das Verschwinden in der Vergessenheit. So zeige sich Wrights Hollywood House seit dem Northridge-Erdbeben "in einem verwitterten Zustand, der eines Baudenkmals von Weltrang nicht würdig ist" und auch Schindlers Bungalow mitsamt der "stimmungsvollen Gartenhöfe" geraten durch anvisierte architektonische Projekte unter Druck.

Sieglinde Geisel meditiert über das Echte im Zeitalter des Falschen. Elisabeth Schwind berichtet von der Reise des Freiburger Ensembles Recherche (mehr hier) ins Heilige Land. Besprochen werden eine "literarische Ethnologie der Freikörperkultur": Ernst Augustins Roman "Die Schule der Nackten", weiter Jochen Hörischs Büchlein "Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen" und der Öko-Roman "Ghost of Chance" von William S. Burroughs (siehe unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 02.12.2003

Jens Bisky berichtet, dass das Hamburger Institut für Sozialforschung offenbar eine neue Ausrichtung gesucht und dabei die "neue soziale Frage" gefunden hat. Denn im Zuge der Verlustverteilung zeigt sich ein merkwürdiges Phänomen: "Der Sozialneid der Mittelschichten richtet sich weniger nach oben als nach unten." Dirk Peitz betrachtet noch einmal den Standortkrieg der Musikbranche. Andrian Kreye meldet, dass nun auch nach Joey Ramone eine Straßenkreuzung benannt ist: Second Street Ecke Bowery. H.G. Pflaum glaubt, dass die neue Lebendigkeit des Münchner Filmfests der Besinnung auf die Tradition geschuldet ist. In der "Zwischenzeit" schreibt Hermann Unterstöger über Cecilia Bartoli und innere Gesprächen mit dem Penis. Heinz-Günter Vester erinnert an die Uraufführung von Ernest Chaussons "Le Roi Arthus" vor hundert Jahren in Brüssel. Auf der Meinungsseite macht uns Nina Berendonk mit dem neuen Vendetta-Journalismus der Bild-Zeitung vertraut.

Außerdem ist die Dankesrede von Norbert Gstrein zu lesen, dem in Hamburg der Uwe-Johnson-Preis 2003 verliehen wurde. Darin überrascht Gstrein mit dem Bekenntnis: "Ich habe das, was als DDR-Literatur in die westdeutschen und österreichischen Buchhandlungen gekommen ist, lange Zeit genauso wenig gelesen wie alles andere, das mir durch die bloße Etikettierung auf ein besonderes Wohlwollen oder gar kritiklose Nachsicht bei einem bestimmten Publikum zu schielen schien, und kann jetzt nur das Versäumnis all dessen eingestehen, was mir dabei entgangen sein mag. Das ist um so bedauerlicher, als sich das Missverständnis geraume Zeit auch auf Uwe Johnson bezogen hat."

Besprochen werden Stefan Barths Film "Motown", die Ausstellung "fast foward" im ZKM in Karlsruhe, Elmar Goerdens beschwingte Inszenierung des "Nathan" im Münchner Residenztheater, ein Klavierabend mit Nikolai Tokarew in München, und Bücher, darunter Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" als Hörbuch und der Band "Botanisieren mit Jean Jacques Rousseau (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).