Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.10.2003. Richard Wagner schildert in der FR das Verhaltnis der Deutschen zu Russen: Für andere Länder haben sie Verständnis, für Russland Gefühle. In der taz macht der Stoiber-Biograf und Journalistenkritiker Peter Köpf die Entdeckung, dass in "autorisierten" Interviews mehr gelogen wird als in nicht abgesegneten. Die FAZ erkennt bei Eric Tills "Luther"-Film, dass Theologie ein komplexes Denkgeschäft ist.

TAZ, 29.10.2003

"Der deutsche Journalismus ist auf den Hund gekommen", befindet Peter Köpf, Autor einer Stoiber-Biografie, angesichts des neuen Trends, nach dem sich Journalisten nicht mehr nur Interviews, sondern auch Biografien absegnen lassen sollen. Was das soll? "Um Fehler zu vermeiden, höre ich. Damit die Gesprächspartner auch später geneigt sind, ahne ich. Dies ist eine Unsitte, weiß ich. Der Wahrheitsfindung dient sie keinesfalls, die Kollegen in anderen Ländern lachen darüber: obrigkeitshörig bis heute, die Deutschen. Ich behaupte, dass in einem Buch, in einem Interview, das autorisiert ist, mehr gelogen wird als in einem nicht 'abgesegneten'... Journalisten müssen die Hoheit über die Mikrofone und Schreibmaschinen wieder erkämpfen. Dem Publikum würde das ersparen, nichts sagende Antworten auf dämliche Fragen hören oder lesen zu müssen. Nebenbei würde es sein Urteil über Journalisten mildern."

"Lieber Horror, Schnaps und Einsamkeit", ruft Dirk Knipphals, als ein Literaturbetrieb, in dem Toni Morrison - für Rolex-Uhren posierend - ihre Romane "vollendet". Jan Engelmann assoziiert zum sanften Schein und barbarischen Wesen des Kapitalimus. Besprochen wird der Film "Sie haben Knut" von Stefan Krohmer und Daniel Nocke, den Rezensent Christian Buss nicht als Nachzügler des Achtziger-Revivals missverstanden wissen will.

Und schließlich Tom.

SZ, 29.10.2003

Eric Tills Luther-Film wird gleich zweifach beleuchtet: Aus katholischer Sicht vermisst Fritz Göttler den "unbefangenen Umgang mit den Schauwerten des Kinos", aber auch die richtige Kritik am Ablasshandel. Als gute Protestantin übt Susan Vahabzadeh dagegen erst einmal Selbstkritik und weist darauf hin, dass Luthers Lehre in dem Film nur deshalb so attraktiv erscheint, "weil sie um alles verschlankt ist, was keinen Spaß macht": Von lebenslanger Buße sei in dem Film nie die Rede.

Eine auffällige Tendenz in der Gedächtnispolitik bemerkt die österreichische Historikerin Heidemarie Uhl in der deutschen Debatte um die Vertreibung: "'Vergangenheitsbewältigung' scheint sich mittlerweile als Format verselbständigt zu haben und entsprechend den Logiken des Medienmarkts immer neue Themen zu suchen - zunehmend entkoppelt von ihrer bisherigen Verwendungsweise (als kritische Selbstbefragung). Jetzt geht es um die Aufrufung eines performativen Formats, um brisante, medienwirksame, historische Themen auf die mediale Agenda setzen zu können."

Weitere Artikel: Die "niedlichsten must-haves" dieses Modeherbstes hat Bernd Herbon beim Blättern durch die Magazine entdeckt: "Man trägt wieder Kind." Alexander Kissler berichtet von einer Veranstaltung, auf der die Historiker Norbert Frei und Albert Wucher über das Jahr 1933 stritten. Gerhard Matzig freut sich, dass das Bild vom Künstlerarchitekten ein wenig ins Negative korrigiert und der Architekt als Bauherr von Heimwerkermärkten und Billigneubauten unter die Lupe genommen wird. In der Reihe "Verblasste Mythen" erinnert Jeanne Rubner an den deutschen Ingenieur. Jürgen Otten kündigt eine Novität auf dem Klassik-Markt an: Das Label Naxos will sämtliche seiner Aufnahmen in einer einzigen Box herausgeben, die nicht größer sein soll als eine CD. Kristina Maidt-Zinke schreibt den Nachruf auf den Dichter Heinz Piontek. Thomas Steinfeld gratuliert dem Chemiker und Schriftsteller Carl Djerassi zum Achtzigsten.

Besprochen werden Andrew Bovells "Lantana"-Inszenierung am Hamburger Thalia Theater, die erste Ausstellung "Einbildung" im neu eröffneten Kunsthaus Graz und Bücher, darunter die päpstlichen Gedichte "Römisches Triptychon", Jon Fosses Novelle "Das ist Alise" und Bernhard Siegerts Logbuch der Wissenschaften "Passage des Digitalen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 29.10.2003

Ausschließlich Rezensionen heute in der NZZ. Besprochen werden die Ausstellung "Die Gesetze des Vaters" (mehr hier und hier) im Stadtmuseum Graz, die Freud, Kafka und den Anarchisten Otto Gross "im Spannungsfeld von Drogen, Sex und Rebellion" zeigen möchte, eine Schau über Hans Holbein d.J. als Porträtisten im Mauritshuis in Den Haag, der Klavierabend des in Montreal geborenen Pianisten Marc-Andre Hamelin (mehr hier) in der Zürcher Tonhalle, Mark Norfolks Stück "Wrong Place" am Londoner Soho Theatre, Shaws "Heilige Johanna" in Genf, Mozarts "Figaro" in St. Gallen sowie Bücher, darunter Abraham Eralys Studie über Indiens trügerische Blütezeit, Thomas Kesselrings Analyse der "Ethik der Entwicklungspolitik" sowie eine wenig literaturwissenschaftliche, dafür aber um so persönlichere neue Biografie zu Stefan Zweig. Dazu schreibt "sda" einen Nachruf auf den am 26. Oktober verstorbenen Büchnerpreisträger Heinz Piontek.

FR, 29.10.2003

Richard Wagner zerpflückt die politikfreien Wunschbilder, die sich die Deutschen seit jeher von Russland machen. "Es ist eine Allegorie, von Caspar David Friedrich und Ivan Rebroff entworfen. Wenn die Deutschen für andere Länder Verständnis haben, so haben sie für Russland Gefühle. Als Adressat dieser Gefühle gilt die russische Seele, ein Abbild von Erhabenheit und Kitsch.... Spätestens mit dem Erfolg von Wladimir Kaminers Russendisko ist die Russland-Rezeption Teil der Erlebnisgesellschaft. Was interessieren uns der Tschetschenien-Krieg oder die Umweltkatastrophe in der Barentssee? Auf die Straße geht man wegen des Irak-Kriegs oder des Kyoto-Abkommens. Kümmert sich Attac etwa um Russland?"

Weiteres: Daniel Kothenschulte dankt der Viennale, mit ihrer Retrospektive einige Gedächtnislücken hinsichtlich des japanischen und amerikanischen Kinos zu füllen. Rudolf Maria Bergmann führt durch das Musee d' Unterlinden in Colmar, das auf seine Revolutionsgeschichte zurückblickt. Ina Hartwig schreibt den Nachruf auf den Schriftsteller und Lyriker Heinz Piontek. Hans Helmut Kohl wird in Times mager sehr uncharmant gegen die neue Marianne, Talk-Show-Moderatroin Evelyne Thomas.

Besprochen werden eine Schau zweckfreier Kunst im Frankfurter Kunstverein, Glucks Oper "Orphee et Eurydice" von Vesselina Kasarova, Nigel Lowery und Ivor Boltoneine und Bücher, darunter Katharina Hackers neuer Roman "Eine Art Liebe" und ein Band, der die Film- und Videoarbeiten von Robert Frank zeigt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 29.10.2003

Der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf (mehr hier) bespricht Eric Tills heute startendem "Luther"-Film und ist mäßig begeistert von der Aufladung einer schwer zu bebildernden Thematik mit Action-Elementen: "Wider Willen illustriert der Film die Einsicht, dass akademische Theologie ein relativ komplexes Denkgeschäft ist"

Weitere Artikel: Kerstin Holm kommentiert die Verhaftung des russischen Oligarchen Michail Chodorkowskij, den man womöglich auch wegen politischer Ambitionen und seines Eintretens für einen westlichen Liberalismus festsetzte. Harald Hartung schreibt zum Tod des Lyrikers Heinz Piontek. Christian Schwägerl wirft Bundesjustizministerin Brigitte Zypries einen mangelhaften Schutz von Embryos vor. "bat" lässt in der Leitglosse angesichts des Riesenerfolgs von Sönke Wortmanns Film "Das Wunder von Bern" einige deutsche Schlager- und Filmtitel mit dem Wunderwort Revue passieren. Lorenz Jäger gratuliert dem Erfinder der Pille und Autor Carl Djerassi zum Achtzigsten. Andreas Rossmann schreibt zum Tod des rheinischen Mundartdichters Ludwig Soumagne. Monika Osberghaus begleitet einen Odachlosen, der eine Straßenzeitung mit dem ersten Kapitel aus dem neuen Harry-Potter-Band verkauft - und keineswegs so reißend los wird, wie man geglaubt hätte. Walter Hinck resümiert eine Tagung über Heinrich Heine in der römischen Casa di Goethe. Martin Halter schreibt zum Tod des Schweizer Autors Guido Bachmann.

Auf der letzten Seite liest Andreas Eckert die Tagebücher eines Entwicklungshelfers aus den sechziger Jahren, "Inside Independent Nigeria - Diaries of Wolfgang Stolper 1960-62", und meditiert angesichts des damaligen Optimismus über die Karriere des Begriffs "Entwicklung". Jordan Mejias liest den Chronicle of Philanthropy und stellt anhand dort präsentierter Statistiken fest, dass das amerikanische Spendenaufkommen vor allem in kulturellen Organisationen rasant zurück gegangen ist. Und Matthias Oppermann stellt den Aron-Schüler Nicolas Baverez vor, dessen Buch "La France qui tombe" über den Niedergang Frankreichs zur heftigsten Pariser Debatte der Saison führte (mehr hier und hier und hier). Auf der Medienseite stellt Gerhard R. Koch eine heute auf Arte laufende Dokumentation über Wilhelm Furtwänglers Rolle in der Nazizeit vor.

Besprochen werden die Ausstellung einer meisterhaften Kleinbronze des Renaissance-Bildhauers Giambologna im Frankfurter Liebieghaus, Mats Eks Tanztheaterstück "Tulips" beim Holland Dance Festival, ein Konzert des Rocksängers Meat Loaf und Lars Norens neues Stück "Krieg", inszeniert von ihm selbst in Lausanne.