Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2003. Die FAZ malt ein Panorama von "Frankreichs mörderischem Sommer". Die FR saugt in Beirut an einer Wasserpfeife mit Apfelgeschmack. Die SZ feiert die Sängerin Peaches als neue Ikone des Geschlechterkampfs. In der taz stellt sich Georg Seeßlen den Jesus-Film von  Mel Gibson als Splatter-Version der Passionsgeschichte vor.

FAZ, 29.08.2003

Der Kulturstreik, die Waldbrände, der Tod Marie Trintignants, die Hitzewelle. Jürg Altwegg malt ein Panorama von "Frankreichs mörderischem Sommer", der in den Tausenden Toten des August gipfelte, als die von ihren Familien und dem Pflegepersonal alleingelassenen Alten unbemerkt verdämmerten. Warum ist das in Frankreich passiert, aber nicht in Italien und Spanien? Altwegg zitiert den Arzt und Autor Martin Winckler, der die französische Unsitte, die Alten mit Pillen ruhig zu stellen, verantwortlich macht. Und Altwegg erinnert an eine französische Tradition: "Hitzewellen hat es in Frankreich regelmäßig gegeben. 1636 forderten sie eine halbe Million, 1718 rund 700 000 Tote. Diese Zahlen stehen in Emmanuel Le Roy Laduries 'Geschichte des Klimas'. Eine Hitzeperiode im Sommer 1788 mit viel zuviel Regen im Herbst führte zu den Höchstpreisen für das Brot im Jahre 1789..."

Henning Ritter greift im Aufmacher Judith Butlers Aufsatz aus der London Review of Books (alle Links hier) auf, in dem sie nach der Möglichkeit einer Kritik an Israel fragt, verweist auf die "lange Geschichte" der "Instrumentalisierung des Antisemitismus für die zionistischen Ziele" und fürchtet, dass die "Einschränkung der kritischen Wahrnehmung durch den Antisemitismusvorwurf... desorientierende Folgen haben (könnte) - bis die israelische Politik heute nicht mehr weiß, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde sind".

Weitere Artikel: Patrick Bahners kritisiert in der Leitglosse Joschka Fischers Äußerungen in der Zeit gegen ein Zentrum gegen Vertreibung und wirft ihm vor, alle Deutschen zu Tätern zu erklären. Eberhard Rathgeb erinnert an den Schriftsteller Ernst Kreuder, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Michael Althen bespricht in seiner Kolumne aus Venedig die neuen Filme von Jacques Doillon und Raul Ruiz. Rainer Hermann schreibt in der Metropolenserie "Geld oder Leben" über Istanbul. Andreas Kilb gratuliert dem Schauspieler Richard Attenborough zum Achtzigsten. Frank Zöllner meldet den Diebstahl der Leonardo da Vinci zugeschriebenen "Madonna mit der Spindel" in Schottland.

Auf der letzten Seite besucht Dietmar Dath einen Skulpturenpark voller "Greise, Vetteln, strammer Knaben, wuchtiger Mädchen, sturer Kerle und breiter Frauen" des Bildhauers Gustav Vigeland (1869-1943) in Oslo (einige Bilder hier und hier). Jochen Hieber porträtiert Anne Bohnenkamp, die neue Leiterin des Freien Deutschen Hochstifts. Und Richard Kämmerlings meldet, dass Christian Strasser, Chef der Verlage Ullstein Heyne List, dem Randomhouse-Konzern, der sein Haus aus kartellrechtlichen Gründen nicht in vollem Umfang wird schlucken dürfen, angeboten hat, alles außer Heyne zusammen mit einer Schweizer Investorengruppe zu kaufen. (Wir verlinken hierzu auf einen ausführlichen pdf-Artikel im Buchreport.) Auf der Medienseite porträtiert Frank Kaspar den Hörspielautor Paul Plamper. Michael Hanfeld berichtet über Kabbeleien zwischen den Öffentlich-Rechtlichen und den Privaten über die werbemäßige Ausbeutung der Bundesligarechte.

Besprochen wird eine Retrospektive der Werke der Künstlerfamilie Boyle in den National Galleries von Schottland in Edinburgh.

NZZ, 29.08.2003

Marc Zitzmann stellt eine "Poetin des Desasters" vor: die Künstlerin Macha Makeieff, die mit ihrem Lebensgefährten Jerome Deschamps "zu den ganz wenigen französischen Theaterschöpfern mit einer wirklich eigenen Handschrift (zählt). Ihre Aufführung von 'Les Precieuses ridicules' etwa geriet so hinreißend komisch und mit ihrer phantasievollen Verwendung pantomimischer Einlagen auch so 'werkgetreu' wie höchst selten eine Moliere-Darbietung. Und die Deschiens-Figuren, deren disparate Woll- und Synthetik-Outfits auf ähnlich grob gestrickte, durchgescheuerte oder ausgewaschene Lebensmuster verweisen, sind stilisierte Charaktere im Geist von La Bruyere: frappierend lebendige Silberstiftskizzen mit - absichtlichen - Tintenklecksen."

Weitere Artikel: Irene Lochbrunner gratuliert der "Eranos"-Gesellschaft zum Siebzigsten. Anlässlich der Herausgabe von Hölderlins "Gesängen" im Stroemfeld Verlag ist jetzt in der ebenfalls im Stroemfeld Verlag erscheinenden Zeitschrift "Textkritische Beiträge" (Heft 8, 2003) eine heftige Kritik an Hölderlin-Herausgeber D. E. Sattler erschienen, meldet Roman Bucheli. Besprochen wird die Ausstellung der Werke Gaspare Traversis in der Staatsgalerie Stuttgart.

Auf der Filmseite werden besprochen: Chris Hegedus' und D. A. Pennebakers Dokumentarfilm "Only the Strong Survive", eine Hommage an "einige Kämpen des Soul" wie Rufus Thomas, Sam Moore oder Carla Thomas, Lisa Cholodenkos Film "Laurel Canyon", der Film "Lost in La Mancha", das "oft komische Protokoll der (Ir-)Realisierung von 'The Man Who Killed Don Quixote', dem Lebensprojekt des Kultregisseurs Terry Gilliam. Es starb am sechsten Drehtag." Und Bücher: ein Band über deutschsprachige Filmkünstler in den USA und Helmut G. Aspers Buch über Filmexil in Hollywood (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 29.08.2003

Die Traumfabrik der Levante arbeitet wieder, stellt David Herzog nach einem Spaziergang über die Promenade von Beirut fest, das nach und nach aus den Ruinen des Bürgerkriegs aufersteht. "Wo während des Bürgerkrieges ein Niemandsland war, promenieren nun die schicken Beiruter entlang der Cafes, ziehen an der Wasserpfeife mit Apfelgeschmack und stolzieren durch die Edelboutiquen. Dreizehn Jahre nach dem Ende des Mordens hat sich die Stadt in ihrem Zentrum neu erschaffen, ein Beirut, wie es die Welt kaum kennt. Mit Pomp wurde die koloniale Architektur wieder aufgebaut, und vor den monumentalen Prachtfassaden führen die selbst ernannten Stars Trends vor wie auf einem Laufsteg in Miami Beach. Kontaktlinsen mit Reptilienaugen. Tätowierte Augenbrauen. Einen vergrößerten Busen. Eine verkleinerte Nase. Natürlich können sich das die wenigsten leisten. Und doch spielen die meisten mit."

Aus gegebenem Anlass erzählt Horst Kurnitzky eine kleine Geschichte der sozialen Gerechtigkeit: " Schon eine Horde von Affen setzt auf dem Affenfelsen erst einmal ihre Form von Recht. Der Stärkste oben, der Schwächste unten. So wie es Platon Thrasymachos in den Mund legte: "Das Gerechte ist das dem Stärkeren Zuträgliche." Fand sich in grauer Vorzeit eine Rotte Hominiden zusammen und bildete das, was später dann Gemeinschaft genannt wird, so geschah dies um ein gemeinsames Opfer herum. Dazu wurde einer aus der Gruppe auserwählt, nach einem Abstimmungsverfahren, in dem Mark Twain die Wurzeln der Demokratie vermutete."

In der Kolumne Times mager leidet Frank Keil für St.Pauli. Besprochen werden eine Ausstellung zum Stalin-Kult in Neuhardenberg, Antoine Fuquas "neoimperialistisch gefärbtes" Filmdrama "Tränen der Sonne" und Bücher, darunter Che Guevaras Tagebuch "Das magische Gefühl, unverwundbar zu sein", die neuen Bände zur Weltmacht USA von Michael Mann und Michael Ignatieff, Michael Lüders Berichte aus Krisengebiete "Tee im Garten Timurs", Günter Amendts Schrift "No Drugs No Future" und Gregor Gysi PDS-Brevier "Was nun?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 29.08.2003

Das Feuilleton füllt heute Georg Seeßlen mit klugen Gedanken über Mel Gibsons bisher nur in Previews gezeigten Film "Passion". "Mel Gibsons Obsession scheint da einigermaßen zu sich gekommen: Im schlimmsten Fall erwartet uns da eine Art Splatter-Version der Passionsgeschichte. Ein ganz direktes Blutbad, ein physischer Kampf mit dem Teufel, Religion Icon beeilt sich auch zu erklären, der Film sei nur für Erwachsene gedacht. Es ist, soviel steht schon einmal fest, wohl der grimmigste und grausamste Passionsfilm bislang. Vielleicht ist es einer der persönlichsten Gottesbilder der Religions- und Filmgeschichte, Mel Gibsons own personal Jesus. Mehr als durch eine diskursive Ideologie kann der Film durch seine konsequente Darstellung des körperlichen Leidens in der Tat zum religiösen Sprengstoff werden. Es ist 'schwarze Religion', Religion, die weh tut."

Daniel Bax stellt "zwischen den rillen" die jüngeren Geschwister von Manu Chau vor: Die katalanische Band Dusminguet und das mexikanische Kollektiv um Amparo Sanchez Amparanoia. Cristina Nord hat sich auf dem Lido Samira Makhmalbaf und Jacques Doillons angesehen.

Auf der Meinungsseite macht sich Rafael Seligmann darüber Gedanken, ob der Antisemitismus-Vorwurf in den jüngsten Debatten von Walser bis Honderich, wirklich der Aufklärung dient oder der Logik des Skandals folgt. "Das wiederholte Aufflackern des deutsch-jüdischen Disputs an Büchern ist kein Zufall. Wo Menschen fehlen, klammert man sich an Bücher. Die deutsch-jüdische Gemeinde zählt trotz ihres Wachstums durch Zuwanderung aus den GUS-Ländern lediglich 100.000 Menschen. Nur wenige Dutzend Juden verstehen es heute, sich öffentlich zu artikulieren. Viele von ihnen, auch Brumlik, sind durch die eigene oder die Verfolgungsgeschichte der Eltern traumatisiert. So wird jede Kritik, pauschale, bösartige Anschuldigungen, aber auch durchaus konstruktive Angebote zum Dialog wie das Fassbinder-Stück oder Kritik an dem Holocaust-Mahnmal in Berlin, von Juden und mehr noch von ihren ungerufenen Helfern als Antisemitismus gebrandmarkt."

Und schließlich Tom.


SZ, 29.08.2003

Tobias Kniebe feiert die Sängerin Peaches, die in pinkfarbener Unterwäsche und mit Schnurrbart zur "Ikone des Geschlechterkampfs" geworden ist: "Die den verschwitzten Massen ein 'Fuck the Pain Away' entgegenschleudert und ihre 'Rock Show' auf 'Cock Show' reimt; woraufhin die Massen entweder ausrasten, dem Trieb zu sofortiger geschlechtlicher Vereinigung folgen - oder vom rätselhaften Drang befallen werden, der Sängerin die Stiefel zu lecken." Und all das, freut sich Kniebe, hat in Berlin seinen Anfang genommen: "Ganz recht - unserem Berlin. Den drögen, lässigen, Prenzlauer-Schnarch-Berlin."

"Deutschland, ein Land von stauverursachenden Langsamfahrern und Rasern, zusammen also ein Volk von Oberlehrern?", fragt Holger Liebs, erschrocken über schweren Unfall auf der A5, testosterongeschwängerten Jungbullen und neuen Autoklassen mit 600 PS. "Dass sich Darwin am Ende durchsetzt, sollen Geschwindigkeitskontrollen verhindern. Aber das wahre Problem liegt im Kollektivglauben an den überholten Individualitätskult des Automobils, genährt durch technischen Fortschritt: Innen Hightech, außen Steinzeit, so sieht die Wirklichkeit am Volant heute aus."

Weiteres: Petra Steinberger berichtet, wie sich die New York Times mit der New Yorker Port Authority vor Gericht um die Aufzeichnungen der Opfer des 11. September streitet. Die Max-Planck-Gesellschaft hat den Bericht ihrer Präsidentenkommission (Vorsitz: Reinhard Rürup!) vorgelegt, der sich endlich einmal mit ihrer Vergangenheit als Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft befasst hat, wie Martin Urban bemerkt. Schließlich waren die Väter der heutigen Humangenetiker noch wie Josef Mengele die gestrigen Schlächter.

"Zerbrochene Träume sind kein schöner Anblick", seufzt Andrian Kreye nach einem Abstecher ins kalifornische Richmond, der letzten Zuflucht der Berkeley-Utopisten. "Wenn es mit der Industrie vorbei ist, soll die Kultur kommen", stellt Volker Breidecker fest, da die Rhein-Main-Region jenseits von Frankfurt ihre Industriekultur entdeckt. Rainer Gansera hat in Venedig Filme von Jacques Doillon und Hana Makhmalbaf gesehen. Fritz Göttler schickt Glückwünsche an Richard Attenborough zum Achtzigsten. C. Bernd Sucher sucht in einer seiner Schnurren aus Salzburg das Glück.

Besprochen werden Bücher, darunter Friedrich Rothes Karl-Kraus-Biografie, eine Studie zur Desertion unter Friedrich dem Großen und ein Tagungsband zu den Ausgrabungen von Olympia (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).