Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.07.2003. In der SZ denkt Moshe Zimmermann über Vertreibung und Aufrechnung nach. Die FR bestaunt barockes Holland mitten in Deutschland. Die taz sucht eine Frau für Frank Schirrmacher und Klaus Harpprecht. Die NZZ erklärt, warum Nachwuchsförderung in Norwegen Ehrensache ist. Die FAZ prophezeit Korsika eine düstere Zukunft.

SZ, 30.07.2003

In einem differenzierten und beispielsreichen Beitrag denkt Moshe Zimmermann, Leiter des Richard Koebner Center for German History an der Hebräischen Universität in Jerusalem, über Vertreibung und Aufrechnung nach. "Die Diskussion um das Schicksal der Vertriebenen", beginnt er seine Ausführungen, "ist im Grunde ein Versuch der Aufrechnung, mit dem auch praktische Ziele verfolgt werden. Das Kollektiv, dem die Vertreibung der 'Anderen' ständig vorgeworfen wird, möchte sein Gewissen retten, indem es gegen den 'Anderen' denselben Vorwurf erhebt. Dies führt nicht nur zu einer moralischen Aufrechnung von Schuld, sondern gewinnt verlorenes Terrain für das eigene, beschädigte Image zurück und bereitet den Weg für einen Anspruch auf Entschädigung." Am Ende aber, so seine Argumentation, stehe "die notwendige Erinnerung an menschliches Leid im Zusammenhang von Kausalität, Schuld und Verantwortung. Die Taktik der Aufrechnung schafft aber eine Erinnerung, schädlicher als das Vergessen. Denn am Ende steht dann kein Mitleid mehr, sondern die absolute Verdrängung von Leid."

Weiteres: Volker Lehmann zeigt am Beispiel von Kuba und Argentinien, wie Genforschung in der Landwirtschaft auch die Kulturen verändert. Gottfried Knapp informiert über die Erkenntnisse eines spanischen Historikers für Kunsthandwerk, der glaubt beweisen zu können, dass die berühmten "Schwarzen Bilder" von Goya gar nicht von Goya gemalt wurden. Der Osteuropa-Historiker Dittmar Dahlmann erklärt, weshalb die deutsche Sibirienforschung "zu Unrecht in Vergessenheit" geraten sei.

Susan Vahabzadeh überlegt, warum in der Dreamworks-Produktion "Sinbad" eigentlich das "d" fehlt. "jby" bilanziert vier Wochen Tag der offenen Tür im Berliner Palast der Republik. "midt" räsoniert über die zuweilen rätselhafte Prosa von Premierenankündigungen. "bgr" untersucht den "gefühlten Terror" beim Börsenwechsel. Und über eine berührungsangstfreie Kunstausstellung in einem Dortmunder Bordell informiert "skra". Auf der Seite drei erfahren schließlich Langschläfer und Schlaflose mehr über die Hintergrundforschung zu ihren Passionen.

Besprochen werden Jürgen Flimms "Ring"-Inszenierung in Bayreuth, Tim Staffels Stück "Von Cowboys und Elfen" im Berliner Theaterdiscounter, die dritte Folge des "Terminator" und zwei Ausstellungen: die Schau "The American Effect: Global Perspectives on the United States, 1990-2003" im New Yorker Whitney Museum, "eine Art Nachhilfe für ein Land, das vor lauter Racheschwüren und Wundenlecken nach dem 11. September ganz vergessen hat, sich gelegentlich von außen die Optik zurechtrücken zu lassen" und eine Ausstellung über den "genialen Medizinmann und Sammler" Henry Wellcome im British Museum in London.

Bücher werden auch besprochen, darunter Martin Walsers gesammelte Kalendersprüche "Meßmers Reisen", eine Studie über den Ereignisbegriff, eine Erforschung der Biografie der Schwester von Ludwig Wittgenstein, CDs mit Zeugnissen der Hitler-Sekretärin Traudl Junge (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR, 30.07.2003

Als "ein Stück barockes Holland mitten in Deutschland" bestaunt Alexander Kluy das Interieur des wieder eröffneten Schloss Oranienbaum bei Dessau (mehr hier). Dass das Haus der DDR fünf Jahrzehnte lang ein "idealer Klimapuffer" gewesen sei, sei in diesem Fall von Vorteil: "Nach dem Zweiten Weltkrieg diente dieser Adelssitz als Flüchtlingslager, dann als sowjetische Militärkommandatur. Von 1948 bis Herbst 2002 beherbergte er die Archivbestände des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt. Diese Nutzung war für die wertvollen, 300 Jahre alten Ledertapeten in Oranienbaum von nicht hoch genug zu schätzendem Vorteil. Denn es gab keine Beheizung, somit keine schwankenden Binnentemperaturen, die Beleuchtung war schwach, und zahllose Kubikmeter Aktenmaterial schützten die Tapeten zusätzlich vor Schädigungen."

Weitere Artikel: Ulf Erdmann Ziegler kommentiert Prozess und Urteil gegen den Entführer und Mörder des Frankfurter Bankiersohns Jakob von Metzler: "Die Strafe, die er möglicherweise wirklich fürchtet, könnte in der Drohung liegen, die der leitende Polizist ausgesprochen zu haben recht glaubhaft leugnet." Jenny Zylka besuchte den Kongress der Internationalen Gemeinschaft der Magier in Den Haag und zollt unter anderem trotz sichtbarer Nylonschnüre der allgemeinen "Fingerfertigkeit" Respekt. Im Interview erläutert der amerikanische Underground-Rockmusiker Mike Patton sein Konzept des "uneasy listening", das in dem "nach einem Brechmittel benannten" Label Ipecac zu einem "Sammelbecken für originelle und abseitige Spielarten der Rockmusik" geworden ist. Hans-Martin Lohmann gratuliert der Zeitschrift Leviathan zum 30. Geburtstag. Und in der Kolumne Times mager beklagt Silke Hohmann die Sinnlosigkeit von Protest qua "Kleidkultur". Als "pazifistisch" wird schließlich der Film "Terminator 3" beurteilt.

TAZ, 30.07.2003

"Das Zentralorgan als Papiertiger" überschreibt Dirk Knipphals seinen Kommentar zum "Sommerlochstreit unter Feuilletonisten" und wünscht sich insgesamt eine Frau zum Moderieren zwischen der FAZ und dem Autor Klaus Harpprecht (mehr zum Thema hier). Erstere versucht letzteren nach einem FAZ-despektierlichen Artikel in der taz durch den unautorisierten Nachdruck eines Textes, in dem Harpprecht den falschen Hitler-Tagebüchern aufsaß, gründlich zu diskreditieren. "Schon erstaunlich" findet Knipphals - nach knapper Textexegese und Überprüfung der Faktenlage - "hier schwarz auf weiß nachvollziehen zu müssen, wie stark die FAZ, immer noch feuilletonistisches Leitmedium, ihre interpretatorischen Standards zu senken vermag, um ein Zeitdokument für ihre Zwecke zurechtzubiegen."

David Johst berichtet über den Abriss einer der letzten Monumentalplastiken in der DDR, eine Thälmann-Statue in Halle, der es letztlich erging wie vielen anderen, weniger denkmalartigen Bauten: ihr Erhalt wäre angeblich teurer gekommen als ihre Vernichtung oder ihre Umsetzung. Kritiker monierten darum vor allem die Art und Weise, "in der hier über ein Stück Stadtgeschichte entschieden wurde". Dabei hätten sich "die Fäuste vielleicht wie kaum ein anderes Monument dafür geeignet, über die Rolle von Denkmälern, über Kunst und Politik, Symbolik und Ideologie zu diskutieren: Relikt einer überwundenen Zeit oder Reliquie eines gescheiterten politischen Entwurfs, modernes Kunstwerk oder in Beton erstarrte Ignoranz?"

Auf der Medienseite ist ein Interview mit den Videomachern der Filmlounge zu lesen, die mit ihren Low-Budget-Videos unter anderem für Wir sind Helden auf MTV Furore machen.

Ansonsten Besprechungen, so zu der Ausstellung "Auf eigene Gefahr" in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt, Monika Gintersdorfs Inszenierung "Die Frau vom Meer", die den Wettbewerb junger Regisseure in Salzburg eröffnete und zum dritten Teil der "Terminator"-Reihe.

Und hier TOM.

NZZ, 30.07.2003

Aldo Keel hat sich auf einen Streifzug durch die skandinavische Literaturszene begeben, und erzählt nun etwa zu Norwegens vor Vitalität strotzender jungen Literatur die bemerkenswerte Episode: "Henrik Langelands (mehr auf Norwegisch hier) Roman 'Wonderboy' gilt als Buch der Saison. Langeland, der zwei Jahre als Management-Trainee in Norwegens größtem Medienkonzern Schibsted arbeitete, durchleuchtet die Machtstrukturen der Branche aus der Innensicht. Schibsted gibt in Norwegen und Europa täglich zwei Millionen Zeitungen heraus. Genüsslich berichtet er, wie sich die Schibsted-Leute vor dem Besuch der CNN-Zentrale in Atlanta darüber ereifern, ob sie am Flughafen einen schwarzen Wagen mit einem weißen Fahrer oder doch lieber eine weiße Limousine mit einem schwarzen Chauffeur mieten wollen. Typisch für Norwegen ist der schnelle Durchbruch Langelands und seiner Generation. Die Jungen profitieren vom Know-how der vergleichsweise gut betuchten, großen Traditionsverlage, für die die jährliche Präsentation einiger Debütanten noch immer eine Ehrensache ist."

Weiteres: Angesichts verfallender Bauten in London Hamspstead erinnert sich Caroline von Loewenich wehmütig an die große Vergangenheit der Lawn Road Flats (mehr hier) des Architekten Wells Coates (mehr hier), eines Appartementblocks, "dessen Architektur einer Existenzform Rechnung trug, die nicht mehr bourgeois sein wollte, sondern offen für die Einflüsse einer weltumspannenden kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerung". Nun gibt es offenbar Hoffnung, dass sie instandgesetzt werden. Marianne Zelger-Vogt erhofft sich vom Basler Cellisten und Kulturmanager Christoph Müller ein wenig frischen Wind für das Menuhin-Festival in Gstaad.

Besprochen werden eine europäische Globalgeschichte von 1450 bis1620 und zahlreiche Kinderbücher, in denen es um Kunst, Ulrike Meinhof und verschwundene Väter geht (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 30.07.2003

Das hatte sich Paris so schön ausgedacht: die geplante Verfassungsreform für Korsika - Zusammenlegung der beiden Departements mit den Hauptorten Bastia und Ajaccio, ein gemeinsamer Präfekt, Abschaffung des "Conseil General" und Stärkung des korsischen Regionalparlaments - sollte eigentlich die Dezentralisierung Frankreichs einleiten. Doch ging Jacques Chirac dabei wohl etwas zu hochnäsig vor. Die Korsen jedenfalls haben mit Nein gestimmt, berichtet Jürg Altwegg und prophezeit eine unerfreuliche Zukunft für die Insel: "Korsika hat nach dem Nein beim Referendum keine politische Perspektive mehr. Jetzt sprechen wieder die Bomben. Erstmals werden sie am hellichten Tage gezündet - mit der Bereitschaft, nicht nur Sachschäden anzurichten. In Bastia und in Nizza wurden bei den jüngsten Attentaten Menschen verletzt."

Weitere Artikel: Tobias Rüther gratuliert der Schriftstellerin Irene Ruttmann zum Siebzigsten. Andreas Platthaus schreibt zum Tod von Bob Hope und eeb. zum Tod des Musikwissenschaftlers Kurt Pahlen. Auf der Stilseite meditiert Ulrich Holbein über "Adornoüberwinder", die Theodor W. Adorno unterbieten: "Selber persiflierte der Praxisverächter sich als einen älteren Herrn mit Embonpoint, der nicht zum Steineschmeißen sich eigne, während er die Verhaltensmuster seiner Leser denen der Lurche sich angleichen sah, lustvoll zu sehen für alle, die ihrer Verlurchung ebenfalls nicht ausweichen konnten."

Auf der Medienseite propagiert Stefan Niggemeier die Abschaltung von Pro Sieben, weil es "die Liebe der Werbekunden verloren hat". Auf der letzten Seite beobachtet Andreas Kilb die Berliner Friedrichstraße im Sommerschlussverkauf: "Im Parterre des Glaskubus, den der Architekt Jean Nouvel für die Galeries Lafayette gebaut hat, herrscht eine seltsam angespannte Ruhe. Hier, wo Dessous, Parfums und Make-up verkauft werden, kommen auf eine Kundin drei Verkäuferinnen." Niklas Maak sagt dem VW-Käfer zum Abschied leise Servus. Und Jürgen Kaube berichtet von einem "Zukunftsmarkt", den das Pentagon derzeit einrichtet: "eine Wettannahmestelle für politische Attentate und andere Turbulenzen des Mittleren Ostens".

Besprochen werden "Attack", eine Ausstellung über Kunst und Krieg in Zeiten der Medien in der Kunsthalle Wien, die Aufführung des Stücks "Union der festen Hand" nach dem Roman von Erik Reger in der Zeche Zollverein in Essen, eine Ausstellung mit Karikaturen der Brüder Mann im Zürcher Museum Strauhof, Aufführungen des "Rheingolds" und der "Walküre" bei den Bayreuther Festspielen und der Schwarzenegger-Film "Terminator 3".