Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.01.2003. In der FR zieht Slavoj Zizek Parallelen zwischen Bush und Spielberg. Die taz schildert den kleinen Hype um den großen Kafka. Die SZ beklagt den amerikanischen Anti-Europäismus. Die FAZ resümiert die russische Debatte um Solschenizyns Buch über die Juden und Russland. Die NZZ mokiert sich über den Kulturstolz der europäischen Intellektuellen.

FAZ, 29.01.2003

Kerstin Holm berichtet aus Moskau über Reaktionen auf den zweiten Band von Alexander Solschenizyns Buch über die Geschichte der Juden in Russland. "Der trotz seines russischen Namens offenbar jüdische Publizist Dmitri Bykow kehrt die Frage nach der historischen Verantwortung um. Zustimmend greift er Solschenizyns Vorhaltungen gegenüber der dissidentischen Jugend der Nachkriegszeit auf und warum sie ihr Land so beschimpften - immerhin sei doch das Sowjetsystem von ihren Großvätern errichtet worden. Manches spricht dafür, schreibt Bykow im Russischen Journal, als ob die Juden zuerst den sowjetischen Unterdrückungsstaat errichtet und später die Dissidentenbewegung hervorgebracht hätten, die diesen Staat zerstörte. Warum geben die Russen so leicht die historische Initiative an andere ab, fragt Bykow und bietet zwei einander ergänzende Antworten an. Zum einen wollen die Russen, dass an der Geschichte nie sie selbst, sondern immer andere schuld sind. Das heißt aber auch, dass das russische Volk an einem bewussten historischen Handeln überhaupt nicht interessiert ist."

Irgend etwas fehlt Steven Spielbergs Film "Catch me if you can", meint Michael Althen: "Es genügt vielleicht schon ein Blick in die Biografie des echten Frank Abagnale. Da wird er gefragt, ob er einst nach Frankreich gegangen sei, weil er Heimweh nach dem Land seiner Mutter gehabt habe. Nein, antwortet Abagnale, 'ich bin einfach nur von Französinnen begeistert'. Steven Spielberg ahnt wahrscheinlich nicht einmal, was sein vermeintlicher Held damit meint."

Weitere Artikel: Wolfgang Günter Lerch würdigt in seinem Nachruf die Orientalistin Annemarie Schimmel (mehr hier) als "'Geistmensch' in jenem traditionellen Sinn, dessen Beziehungen zur realen Welt nicht in dieser selbst, sondern in einem selbstgeschaffenen Kosmos schöner Ideen wurzeln." Heinz Berggruen erinnert sich, wie Gianni Agnelli ihn einst einlud, "eine kleine Gruppe von Klees" in seinem Chalet in Sankt Moritz anzugucken. Dietmar Polaczek war bei der Verleihung von Italiens ungewöhnlichstem Kulturpreis, dem Premio Nonino. Jörg Magenau hat einer Diskussionsrunde zugehört, die sich mit dem Buch einer Studentengruppe der Humboldt Uni befasste: "Uns hat keiner gefragt". Darin gehe es um "Positionen der dritten Generation zur Bedeutung des Holocaust". Jürgen Kaube erklärt, warum sich "Innovationen der deutschen Hochschulreform" wie der deutsche Bachelor als krisenanfällig erweisen. Dieter Bartetzko gratuliert dem Chansonnier Sacha Distel zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Alexander Bartl, dass der Fernsehsender Phoenix nach "eingehender Prüfung" entschieden hat, die zunächst aus dem Programm genommene WDR-Reportage "Wir wollen den wahren Islam - Junge Muslime in Deutschland" doch am kommenden Sonntag zu senden. Gegen die Ausstrahlung hatte sich ein in dem Film porträtierter muslimischer Student gewehrt, der sich in dem Film "verzerrt wiedergegeben" sah. Andrea Rinnert stellt den Fernsehfilm "Der Anwalt und sein Gast" mit Götz George vor (heute abend um 20.15 Uhr im Ersten). Auf der Stilseite geht Ralf Drost einkaufen bei Humana, und Susanne Berkenheger hat sich in der "ganzen Welt der 0,57 Euro" amüsiert.

Auf der letzten Seite schreibt Renate Schostack darüber, wie und warum die selige Irmengard, Chiemgaus Schutzpatronin, einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen wurde. Das Ergebnis war jedenfalls positiv, und Schostack erklärt uns auch noch, warum sie die Verehrung Heiliger und Seliger billigt: Immerhin binde dieser von der katholischen Kirche geförderte "Volksglaube" manches "flottierende religiöse Gefühl, bewahrt es vor Verwilderung, ist eine machtvolle Barriere gegen Sekten". Patrick Bahners porträtiert den Historiker Paul W. Schroeder, ein Konservativer, der in Pat Buchanans Zeitschrift The American Conservative die Irakpolitik Bushs einer "fundamentalen Kritik" unterworfen hat. Hier der Artikel von Schroeder.

Besprochen werden Horvaths "Glaube, Liebe, Hoffnung" am Schauspiel Köln und Händels Oper "Trionfo del tempo e del disinganno" mit Minkowski und Flimm in Zürich.

NZZ, 29.01.2003

Joachim Güntner mokiert sich über den Kulturstolz der europäischen Intellektuellen, die sich neulich in der FAZ über Donald Rumsfelds Spruch vom "alten Europa" echauffierten: "'Europa formiert sich als dritte Kraft im Spiel der Supermächte. Und wir können sagen, wir sind dabei gewesen', verkündet der Lyriker Durs Grünbein - ironiefrei - in der FAZ. Geht es nicht eine Nummer kleiner? Eine Supermacht Europa ohne die amerikatreuen Nationen England, Spanien, Italien und Polen sieht recht schmalbrüstig aus, und gegen die Solidität der jetzt so euphorisch begrüßten deutsch-französischen Antikriegsallianz spricht einiges."

Dazu passt Marc Zitzmanns Besprechung des (bisher nur auf französisch erschienen Buchs) "L'ennemi americain" über die Geschichte des französischen Antiamerikanismus von Philippe Roger. Hier stellt sich heraus, dass diese Denkungsart eine lange Tradition hat: Schon "den Franzosen der Restaurationszeit und auch den ihnen nachempfundenen Romanfiguren von Balzac und Stendhal galt der Homo Americanus als ein vom Ungeist des Nützlichen besessener Philister, dem Begriffe wie Kunst, Esprit und Lebensart Fremdwörter waren. 'Zweiunddreißig Religionen und eine einzige Speise', spottete Talleyrand..."

Weitere Artikel: Volker S. Stahr würdigt die Verdienste der verstorbenen Islamkundlerin Annemarie Schimmel. Besprochen werden Steven Spielbergs Schelmenstück "Catch Me If You Can", eine Ausstellung über Fritz und Johanna Kortner in Berlin und einige Kinderbücher, darunter zwei Jugendromane über Holocaust und Zweiten Weltkrieg (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 29.01.2003

Kreuzberger Lokale, Experimentalfilme, Biografie - der große Kafka erlebt gerade einen kleinen Hype. Dirk Knipphals sieht uns als Zeugen einer merkwürdigen "Ausdifferenzierung": "Die Liebhaber, die uns den wahren Kafka näher bringen wollen, werden weitermachen. Die Klischeeentlarver werden weitermachen. Die Kafka-Klischees werden aber auch weitermachen. Würde man sie vielleicht sogar vermissen? Dass es sozusagen lieb gewordene Vorurteile gibt, hat in aller Deutlichkeit der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Literaturen formuliert, die Kafka einen Schwerpunkt widmet. Ganz egal, was die 'neuere Kafka-Forschung' sagt, er möchte, schreibt Treichel, 'seinen Kafka' behalten: 'Mein Kafka jedenfalls hatte niemals an irgendetwas eine Freude gehabt.' Stimmt natürlich überhaupt nicht. Aber immerhin haben wir es hier - mein Kafka, dein Kafka, Kafka ist für alle da - mit einer Kafka-Klischee-Mumifizierung zu tun, die sich selbst aufgeklärt ist."

Katharina Granzin porträtiert den indischen Autor Kiran Nagarkar, der im heimatlichen Maharashtra in Ungnade gefallen ist, seit er einen Roman auf Englisch und nicht in Marathi geschrieben hat. Für seinen letzten Roman "Krishnas Schatten" bekam er allerdings den Sahitya Akademi Award, den Preis der indischen Akademie der schönen Künste. "'Da kamen sie', sagt Nagarkar, und meint die Journalisten einer marathisprachigen Zeitung. 'Sie haben mich eineinhalb Stunden lang interviewt, und ihre einzige Frage war: Warum schreiben Sie auf Englisch?. Das Buch selbst hat sie nicht im Geringsten interessiert.'"

Weitere Artikel: Daniel Bax schreibt einen Nachruf auf die Islamkundlerin und "Romantikerin der alten Schule" Annemarie Schimmel. Hans Nieswandt wundert sich in seiner clubkolumne, dass an gewissen Orten in gewissen Städte noch exakt das Jahr 1981 herrscht. Die Augsburger Puppenkiste wird fünfzig, Anja Maruschat sieht auf der Medien-Seite den Mythos von Jim Knopf, Kater Mikesch und Kalle Wirsch verblassen und gibt dem aufgeregten Marketing die Schuld. Besprochen wird Steven Spielbergs Gaunerkomödie "Catch Me If You Can".

Und natürlich noch Tom.

FR, 29.01.2003

Erstaunliche Parallelen zwischen der Bush-Doktrin und Steven Spielbergs "Minority Report" erkennt Slavoj Zizek. Hier wie dort werde das Recht auf Präventivkriege gegen eine Gefahr vertreten, die allein als Möglichkeit besteht. "Der Präsident behält sich vor, im Namen eines "gut gemeinten" oder wohlwollenden Paternalismus nicht nur andere souveräne Staaten zu bevormunden, sondern auch, die Interessen seiner Alliierten zu definieren. Klarerweise wird mit einem solch mächtig vorgetragenen Interesse die Neutralität von Institutionen wie denen des internationalen Rechts schlichtweg bestritten. Die hier zu Grunde liegende Logik ist einfach: Du bist frei, dich für uns zu entscheiden, aber du bist nicht frei, dich gegen uns zu entscheiden."

Weitere Artikel: Harry Nutt erklärt die RTL-Show "Deutschland sucht den Superstar" zum Art brut der Popindustrie. Udo Feist freut sich über die Renaissance des Country-Sängers Hank Williams: "Vom naiven, doch wohltuend regressiven Kitsch bis zum letzten Ernst kulminiert alles in dem Mann, was den Rock-Mythos faszinierend macht." Zum Tod der Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel schreibt Hilal Sezgin. Times Mager staunt darüber, was sich italienischer Zeitungen im Kampf um neue Leser alles einfallen lassen.

SZ, 29.01.2003

Bis vor kurzem gab es das Wort nocht nicht einmal, jetzt ist es schon in aller Munde: Der Anti-Europäismus. Der britische Historiker Timothy Garton Ash hatte in der New York Review of Books beschrieben, welch niederschmetternde Ausmaße die anti-europäischen Stereotype in den USA angenommen haben (hier der Artikel). Dass die Amerikaner uns Euroweenies (Memmen) auf einmal nur noch verachten, gefällt Thomas Steinfeld gar nicht. "Das liegt nicht an Missverständnissen, an den Borniertheiten des amerikanischen Präsidenten oder gar daran, dass Blut gegen Öl ein schlechtes Geschäft sein soll. Es liegt vor allem daran, dass die Interessen sich nicht mehr vereinen lassen. 'Brauchen wir wirklich Frankreich, Deutschland, Russland und all die anderen Länder', fragt Andrew Sullivan, politischer Kolumnist der einflussreichen Internetzeitschrift salon.com (28. Januar), 'die unmittelbares Interesse daran haben, weiter Handel mit Saddam Hussein zu treiben?' Die Frage ist rhetorisch, und sie markiert auf ihre Weise ebenso sehr das Ende der Diplomatie, wie es der 'Anti-Europäismus' mit seinen versammelten Stereotypen vom ungewaschenen Franzosen bis zum stiernackigen Deutschen auch tut."

In der innerarabischen Debatte um den Irak-Konflikt will Amr Hamzawy einige Akzentverschiebungen ausgemacht haben. Verschwörungstheoretiker geraten seiner Meinung nach mehr und mehr ins Hintertreffen, das Feld übernähmen klügere Köpfe. "Hazim Saghiya, Leitartikler in al-Hayat, und Ibrahim Nafie, Chefredakteur der ägyptischen Tageszeitung al-Ahram, verlagern die Diskussion über die Irakkrise nach innen. Beide sehen in der Krise die Möglichkeit, das Eigenversagen der arabischen Staaten und vor allem des irakischen Staats im Umgang mit den Herausforderungen der politischen und kulturellen Moderne zu diskutieren. Sie prognostizieren nicht ewige Verschwörung, sondern fehlende Demokratie, zivile Kultur und Transparenz in den eigenen Reihen."

Weitere Artikel: Andrian Kreye empört sich darüber, wie amerikanische Medien die Friedensbewegung herunterspielen. So würden auch die führenden Tageszeitungen die Zahl von Demonstrationsteilnehmern stets so hahnebüchen gering angeben, dass sie sich schon Rügen von Pressebeobachtern eingehandelt hätten. Friedrich Niewöhner schreibt einen Nachruf auf die Islamkundlerin Annemarie Schimmel. Von der sich zuspitzenden Krise um das Hamburger Schauspielhaus berichtet Till Briegleb. Das "Misslingen der künstlerischen, menschlichen und schließlich politischen Verständigung" habe dazu geführt, dass die Spielstätte fürs Experimentelle, das Neue Cinema, geschlossen werde. Und von Jens Bisky erfahren wir schließlich, dass Hindenburg noch immer Ehrenbürger von Berlin ist.

Auf der Medienseite kann Hans Leyendecker kaum das nächste RTL-Event abwarten: Moderator, nein: Anchorman, Peter Kloeppel wird die Nachrichten drei Tage lang live aus Bagdad moderieren. Allerdings bevor es losgeht.

Besprochen werden Steven Spielbergs Film "Catch Me If You Can", Francis Poulencs "Karmeliterinnen"-Oper in Hamburg, die Performance "The Voices" der britischen Gruppe Forced Entertainment im Berliner Prater, ein Beethoven-Konzert des Guarneri-Quartetts in München sowie die "Simplicissimus"-Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne.

Und Bücher: Wolfgang Herrndorfs Berlin-Roman "In Plüschgewittern", Richard Doves Gedichtband "Farbfleck auf einem Mondrian-Bild", Bazon Brocks gesammelte Schriften und Uli Steins Cartoons "Pisa-Alarm!" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).