Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.09.2001. Was sind die Folgen der Anschläge von Washington und New York? Was hat Menschen dazu getrieben, sich selbst und tausende andere in den Tod zu reißen? Die deutschen Zeitungen beschäftigen sich auch knapp eine Woche nach den Attentaten in den USA intensiv mit den Folgen und den möglichen Ursachen. Ab heute präsentiert SPIEGEL ONLINE täglich - außer Sonntag - die Feuilleton-Presseschau des Perlentaucher.

TAZ, 17.09.2001

Bernd Ostendorf sieht den Ruf nach "Rache und Vergeltung" in den USA in der religiösen Tradition der Vereinigten Staaten wurzeln: "Der Ruf nach sofortiger Vergeltung für die schrecklichen Untaten islamisch-religiöser Extremisten, der zurzeit in amerikanischen Umfragen, in der politischen Klasse und in den Medien laut wird, wirft die Frage auf, warum dort der Rachegedanke, das lex talionis, so populär ist." Anschließend zählt Ostendorf sechs Gründe auf, "die die historisch gewachsenen Unterschiede der politischen Kulturen zwischen Europa und Amerika deutlicher machen." Keine Frage, dass dabei Europa und vor allem Deutschland - wir haben schließlich die läuternde Erfahrung des Judenmordens durchgemacht - besser wegkommen.

Tom Holert bemängelt, dass sich "Americas New War" trotz des ganzen Geredes von einer "Zäsur" nach dem Attentat "als Konstruktion aus Althergebrachtem" entpuppt: "Die Fahnen-auf-halbmast-setzende, tränenreiche Entschlossenheit, mit der man in das Neue Zeitalter, die vita nova, das 21. Jahrhundert usw. einmarschiert, befördert einen steinalten, reaktionären Diskurs: über Ausnahmezustand, bedingungslose Unterstützung, verschärfte Sicherheitsvorkehrungen und islamistische Terrorbestien. Je mehr die Zäsur beschworen wird, desto archaischer fallen die 'erforderlichen Maßnahmen' aus; je mehr auf der Unwiederbringlichkeit einstmaliger Unverwundbarkeit insistiert wird, desto patriotischer tröten die Blaskapellen der freiwilligen Brigaden." Trauer und verschärfte Sicherheitsvorkehrungen, ja, das finden wir wirklich reaktionär.

Daniel Bax berichtet von einem Text des kanadischen Radio-Autors Gordon Sinclair, der sich im Netz "wie ein Lauffeuer" verbreite. Sinclair erklärt darin, "es sei an der Zeit, sich für die Amerikaner auszusprechen als die wohl großzügigsten und womöglich am wenigsten geschätzten Menschen der ganzen Welt." Der Text stammt aus dem Jahr 1973, nicht von heute, erklärt Bax. "Gordon Sinclair schrieb ihn am 5. Juni jenes Jahres in spontanem Ärger über die Nachrichten, die voll von Kritik an den USA wegen ihres fehlgeschlagenen Vietnam-Engagements waren. Anschließend verlas er das in Eile verfasste Manuskript im kanadischen Radio, in seiner populären Mittagssendung 'Let's be personal'."

NZZ, 17.09.2001

Helmut Frielinghaus setzt sein New Yorker Tagebuch fort: "Bei jedem lauten Geräusch schrecken jetzt alle auf, obwohl jeder sich sagt, dass mit einer weiteren Katastrophe im Moment nicht zu rechnen ist."

Ziemlich ungnädig beschreibt Susanne Ostwald die Reaktionen amerikanischer Intellektueller: "Äußerst schrille Töne .. kommen von einer der prominentesten New Yorker Intellektuellen: Susan Sontag. Sie ist derzeit im Rahmen der 'American Academy' in Berlin zu Gast... Sontag verlas am Donnerstagabend in Berlin einen Text, den sie für das Magazin The New Yorker geschrieben hatte und den die FAZ am Samstag publizierte. Ob er tatsächlich im heutigen New Yorker erscheinen würde, war bis zuletzt unklar, denn Sontags Polemiken und ihre sich gegen Amerika richtende wütende Tirade werden in New York zweifellos noch Reaktionen auslösen."

Roman Hollenstein meint, dass die jüngste Renaissance des Hochhauses als Bautyp nun an ihrer Ende gekommen ist: "Wenn nun Wolkenkratzer erneut zu Angriffszielen werden sollten, so dürfte die Hochhauseuphorie schnell abklingen."

Weitere Artikel: Der Philosoph Wilhelm Vossenkuhl bringt einige "notwendige Differenzierungen" zur Bioethikdebatte bei. Hansres Jacobi schreibt zum Tod von Charles Regnier. Besprochen wird eine "Zauberflöte" in Basel.

FAZ, 17.09.2001

Bis jetzt waren alle solidarisch, aber jetzt wird die Sache doch unangenehm konkret, so meint auch Christian Geyer: "Je abenteuerlicher die rhetorischen Figuren anmuten, die es offenbar ernst zu nehmen gilt, desto zweifelhafter wird die Idee eines Freibriefs, mit dem die Bundesregierung Amerika Beistand leisten will." Aber die Amerikaner haben doch noch gar nichts gemacht!

Auch der amerikanische Lyriker Charles Simic warnt: "Ich habe Susan Sontags Artikel gelesen und stimme mit ihr darin überein, dass in der gegenwärtigen Krise offenkundig jene Art von Patriotismus von uns verlangt wird, die das Denken verbietet. Also wird auch kaum darüber nachgedacht, ob unser Handeln in der Nahost-Krise in Zusammenhang mit der Tragödie steht. Statt dessen wird uns wieder und wieder gesagt, die Terroristen hätten aus Verachtung der westlichen Zivilisation und unserer kulturellen Werte gehandelt."

Niklas Maak hat sich die Diplomarbeit des Attentäters Mohammed Atta angesehen. Es geht um Denkmalschutz in der syrischen Stadt Aleppo: "'In den arabischen Ländern muss ein anderes Verständnis von Denkmalschutz erreicht werden', schreibt der Verfasser; er würde es 'Werteschutz' nennen wollen. Die 'Werte' - das sind das funktionierende Gewebe von kleinen Händlern, der intime öffentliche Raum in den Sackgassen, der dörfliche Charakter der Altstadt, die regionale Bindung der Menschen - all das, was Globalisierungskritiker durch jenen Welthandel gefährdet sehen, für den das World Trade Center als Symbol stand."

Mehrere Artikel schildern internationale Reaktionen: Jürg Altwegg resümiert französische Reaktionen und überliefert einen Ratschlag Andre Glucksmanns an die Amerikaner: "Hart zuschlagen, aber gut - und gerecht - zielen." Italienische Reaktionen hat Dietmar Polaczek zusammengetragen, unter anderem folgende überaus witzige Provokation des Literaturnobelpreisträgers Dario Fo: "Die großen Spekulanten planschen in einer Wirtschaft, die jedes Jahr Dutzende Millionen Menschen mit der Armut tötet: Was heißen da schon zwanzigtausend Tote in New York?" Die britischen Reaktionen scheinen mehr am Boden zu bleiben. Gina Thomas zitiert Ian McEwan, der über die Handy-Anrufe aus den entführten Flugzeugen schrieb: "Sämtliche Anrufer hätten im Angesicht des Todes 'die drei Worte gesprochen, welche all die schreckliche Kunst, die schlimmsten Schlager und Filme, die verführerischsten Lügen, irgendwie nicht herabsetzen können: Ich liebe Dich'."

Weitere Artikel: Der in New York lebende Schriftsteller Colum McCann erzählt, wie seine Familie den Tag des Anschlags erlebte. Jordan Mejias setzt seine Kolumne "Im Leihwagen nach New York" fort. Der Völkerrechtler Rudolf Dolzer ruft den Amerikanern in Erinnerung, dass "auch für die Vergeltung die Verhältnismäßigkeit der Mittel" gilt. Der Islamwissenschaftler Jürgen Paul schreibt über Herkommen und Geschichte der Taliban. Michael Hanfeld nimmt in einer interessanten kleinen Recherche auf der Medienseite erste Verschwörungstheorien zu den Anschlägen auseinander (zum Beispiel die Theorie, nach der es sich bei den Bildern der feiernden Palästinenser um Archivbilder von 1991 handelt). Joseph Croitoru sieht sich einige Internetseiten der Islamisten an (zum Beispiel die Seite mojadehoon.org). Und Souad Mekhennet stellt die arabische Tageszeitung Al-Quds al Arabi vor, deren Chefredakteur behauptet, bereits vor drei Wochen vor dem Anschlag gewarnt worden zu sein.

Kultur und Weiteres: Werner Spies bespricht die große Balthus-Retrospektive in Venedig. Eleonore Büning ist begeistert von der Berliner "Intolleranza" unter Peter Rundel und Peter Konwitschny. Gerhard Stadelmaier ist angetan von Theresia Walsers neuem Stück "Heldin von Potsdam", das im Berliner Gorki-Theater uraufgeführt wurde. Karlheinz Stockhausen äußert sich im ganzseitigen Interview mit Julia Spinola optimistisch über die Zukunft der Neuen Musik. Gerd Roellecke setzt seine Serie über historische Urteile des Bundesverfassungsgerichts fort. Dieter Bartetzko gratuliert der Schauspielerin Anne Bancroft zum Siebzigsten. Und Andreas Rosenfelder befasst sich mit der "Genealogie des Intelligenzquotienten".

Besprochen werden außerdem ein Konzert der Eels in Hamburg, eine Uraufführung von York Höller in Köln und die "Lange Nacht der Wissenschaft" in Berlin.

FR, 17.09.2001

Christian Thomas sucht mit den Werken Carl Schmitts und Samuel Huntingtons in der Hand einen Einblick in die gegenwärtige Seelenlage der USA. Auf die "horrende Demütigung" reagiert "der Rachegedanke - oder das, was schon der furchtbare Jurist Schmitt als eine Art von 'Psychotherapie' empfahl: den zäsarischen Schlag."

Besprochen werden Ruedi-Häusermann-Inszenierungen in Zürich, der "Wissenschaftssommer" in Berlin und Peter Konwitschnys Inszenierung von Luigi Nonos "Intolleranza" an der Deutschen Oper.

Zeit, 17.09.2001

Die Zeit erscheint heute mit einem Extra, das ausschließlich den Anschlägen in Amerika gewidmet ist. Wir wollen hier nur auf die wichtigsten Artikel hinweisen:

In einem kurzen Interview erklärt Samuel Huntington, Professor für Politik in Harvard und Autor des Buchs über den Kampf der Kulturen, dass eben dieser Kampf noch nicht stattfinde. Alles hänge jetzt von den islamischen Staaten ab: "Ob der echte Zusammenprall verhindert werden wird - das hängt davon ab, ob islamische Staaten mit den USA bei der Bekämpfung dieses Terrors zusammenarbeiten werden."

Citha D. Maaß, Südasienreferentin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, skizziert - leider viel zu kurz - die "Paten" der Taliban: Zuerst, so Maaß, wurden sie unterstützt von dem amerikanischen Ölkonzern Unocal, der sich damit die Rechte für den Bau einer Ölpipeline von Turkmenistan quer durch Afghanistan bis zur pakistanischen Küste sichern wollte. Im Dezember 1998 habe Unocal dieses Vorhaben jedoch aufgegeben. Danach waren es vor allem Pakistan und die arabischen Länder, die am Regime der Taliban interessiert waren: "Händler in der Golfregion wie auch saudische religiöse Gruppen meinten, eine konservativ-islamische Regierung in Kabul sei der beste Garant, um Waren wie Heilslehren nach Zentralasien, ins chinesische Xinjiang oder nach Pakistan zu lenken. Deshalb unterstützten sie bereitwillig den Marsch der Taliban auf die Hauptstadt Kabul."

Im Feuilleton versucht Seyla Benhabib, Professorin für politische Wissenschaften und Philosophie in Yale, festzumachen, warum der Angriff auf das WTC und das Pentagon "anders" ist, als alles, was wir bisher erlebt haben: "Er gleicht weder dem totalen Krieg, der gegen den Faschismus geführt wurde, noch dem Terrorismus der Algerier gegen ihre Besatzer. Diese Anschläge wurden vielmehr von Verbrechern, die sich nicht zu erkennen geben, an einer Zivilbevölkerung in ihrem eigenen Land verübt. Sie entziehen sich nicht nur allen Kategorien internationalen Rechts, sondern reduzieren Politik auf apokalyptische Symbole. Es ist nicht nur ein feiger und durchtriebener Überlebensinstinkt, der Osama bin Laden und seine Männer daran hindert, sich zu ihren Taten zu bekennen. Es ist auch die kaum fassbare Tatsache, dass ihre Tat keine politische Bezeichnung kennt: In wessen Namen und für wen handeln sie eigentlich? Welche politischen Forderungen stellen sie?"

Weitere Artikel im Feuilleton: Richard Rorty hofft, dass sich der amerikanische Kongress an der Willensbildung über einen Gegenschlag beteiligt. E.L. Doctorow bekundet im Interview sein Entsetzen. Und Salameh Nematt, jordanischer Korrespondent der arabischen Tageszeitung Al Hayat, meint, dass die USA nur dann Einfluss im Nahen Osten nehmen können, wenn sie zuvor den israelisch-palästinensischen Konflikt beendet haben.

SZ, 17.09.2001

Glaubt man dem ägyptischen Schriftsteller Ahdaf Soueif, dann war der Anschlag vor allem ein Appell an Amerika, sich zu bessern: "Amerika kommt nicht umhin, seine Außenpolitik auf den Prüfstand zu stellen, seine Haltung zum Internationalen Strafgerichtshof ebenso wie zum Kyoto-Protokoll, seinen Beitrag zu Hunger und Leiden der irakischen Bevölkerung, seine damaligen Bombardements von Libyen und Sudan und natürlich seine Position im israelisch-arabischen Dauerkonflikt. Es muss sich Frage stellen, was jene Leute jenseits krimineller Motive dazu treibt, den Tod so vieler Menschenleben in Kauf zu nehmen, um die Symbole der amerikanischen Macht anzugreifen." Das Kyoto-Protokoll, das wird's gewesen sein.

Auch der Schriftsteller Stewart O'Nan macht sich heute die Gedanken, die wir uns alle machen: "Amerika ist heute stolzer als vor den Anschlägen. Überall schwenken Menschen die Fahne - von den Innenstädten bis in die Vororte, die Mittelschicht und die Arbeiter. Der Anschlag hat das Land in seiner Selbstwahrnehmung nicht nur verwundet, sondern zugleich zusammengeschweißt. Die Frage ist nur, ob diese Regierung in der Lage ist, die furchtbare Kraft unserer Waffen effektiv und verantwortungsvoll zu lenken und zu kontrollieren."

Weitere Artikel: Petra Steinberger erzählt die Geschichte Afghanistans und bezieht sich dabei auf einen Artikel von Robert Kaplan aus Atlantic Monthly, der das Land als die "dunkle Seite der Globalisierung" bezeichnete. Der Militärhistoriker Gerd Krumeich wendet sich gegen den Kriegsbegriff in der Auseinandersetzung mit bin Laden ("Krieg ist nur möglich zwischen Völkerrechtssubjekten, gewöhnlich Staaten.") Bernd Graff benennt die enervierende Anonymität des Feindes ("Diesen Feind findet man nicht mehr an einem benennbaren Ort, und man wird ihm auch nicht ein einziges Gesicht mehr geben können. Denn der Feind ist ein weiträumig, ja global geknüpftes Netz. Es ist dem Internet vergleichbar und bildet dessen Struktur spiegelbildlich ab: Kleine, dezentrierte, autark agierende Einheiten die über den Erdball verstreut sind, bilden die Knotenpunkte eines Terrorgeflechts...") Und Jörg Häntzschel erinnert an die konkreten Sorgen der New Yorker: "Die Welt spricht vom Krieg, die New Yorker vom Regen."

Kultur: Thomas Meyer hat sich eine Tagung des Leo-Baeck-Instituts über deutsch-jüdische Geschichte angehört. Jens Bisky resümiert den Berliner Wissenschaftssommer, der die Naturwissenschafter dem Volk näher bringen sollte. Fritz Göttler schreibt zum Tod der amerikanischen Schauspielerin Dorothy McGuire. Werner Burkhardt verfolgte das Hamburger "Musikfest", das der Neuen Musik gewidmet ist. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Loop - Alles auf Anfang" in München und das Stück "Fight City - Vineta" am Hamburger Thalia Theater.

Und Wolfgang Schreiber bespricht Luigis Nonos "Intolleranza" an der Deutschen Oper Berlin: "Am wichtigsten, am schönsten und tröstlichsten, mögen die Gedanken noch so deprimierend sein, ist Luigi Nonos hochemotionale, hochgespannte Musik, eine permanente Zerreißprobe für Gesang und Orchester in Extremlagen der Emphase, von Gewalt oder Zärtlichkeit - Aufschrei, Anklage und immer wieder lyrische Entgrenzung."