Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.05.2001.

NZZ, 05.05.2001

Rainer Schefzyk macht sich ausgehend vom Fall des Komponisten Salieri, der sich durch Mozart in den Schatten gestellt sind, Gedanken über das "Skandalon der Ungleichheit" in Begabung oder Schönheit. Und dann bringt er die Perspektiven der Biowissenschaften ins Spiel: "Angenommen, die Ungleichheit wäre weitgehend genetisch bedingt; angenommen ferner, es würde irgendwann möglich, den genetisch bedingten Anteil menschlicher Vorzüge ingenieursmäßig zu steuern - dann könnte das Übel der Ungleichheit an der Wurzel gepackt werden."

Joachim Güntner kommentiert die neuesten Ereignisse der deutschen Biopolitik: " Dem von Schröder nahezu im Alleingang eingerichteten 'Nationalen Ethikrat' fehlt die demokratische Legitimation, er entwertet das Parlament; und er scheint überflüssig zu sein, da es bereits zwei Ethikkommissionen mit teilweise gleichem Arbeitsgebiet gibt."

Weitere Artikel: Gerda Wurzenberger gratuliert der Kinderbuchexpertin Anna Katharina Ulrich zum Siebzigsten und verweist auf ihre Essay in der heutigen Literatur-und-Kunst-Beilage. Martin Meyer liefert ein Feuilleton über Capri und fragt sich, wie Caspar David Friedrich die Insel wohl gemalt hätte. Besprochen werden der "Wallenstein" in München und einige Bücher, darunter Mario Vargas Llosas Roman "Das Fest des Ziegenbocks" und das nachgelassene Büchlein von Hans Blumenberg über "Löwen".

In Literatur und Kunst findet sich dann der angekündigte Essay von Anna Katharina Ulrich über Kinderliteratur. Sein Anfang: " Der Mensch kommt als Erzählwesen zur Welt. Im Moment der Geburt klinkt das Neugeborene sich in eine aus Sprache gewobene Textur ein, einen Text, der ihm seine Lebenswelt erschließt und von früher erzählt. Die Aufnahme in diesen Text beginnt mit der Brutpflege. Als zweifach orales Wesen muss das infans sich vollsaugen können mit Sprache wie mit Milch."

Weitere Artikel: Der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde (der es gerade abgelehnt hat, in Schröder "Ethikrat" einzutreten) fragt: "In welcher Weise lässt sich von einem Menschenbild im Recht sprechen?" Ulrich Schlie denkt über die Idee der Balance in der Weltpolitik nach, die im 17. Jahrhundert geboren wurde. Heidy Margrit Müller erinnert an die Jugendbücher von Erika Mann. Buchbesprechungen widmen sich unter anderem zwei englischsprachigen Biografien über Bertrand Russell und A.J. Ayer, der Korrespondenz von Boris Pasternak und Gioconda Bellis Erinnerungen. (Siehe auch unsere Bücherschau des Tages Sonntag ab 11 Uhr)

TAZ, 05.05.2001

Sebastian Rudolph, Hauptdarsteller in Schlingensiefs "Hamlet", beschreibt im dritten Teil seiner Serie ein unheimliches Zusammentreffen mit der Medienmeute. Schlingensief hat für sein Stück aussteigewillige Rechtsradikale engagiert. Bei einer Pressekonferenz stellte der Regisseur sein Anliegen vor, danach "stellen sich die Nazis vor, anschließend wird die Fragerunde eröffnet und dann - passiert nichts. Diese Stille der versammelten Medienmacht ist mir unbegreiflich. Kein Versuch einer Frage. Warten die alle auf ein späteres Exklusivinterview mit Homestory? Vielleicht ist es auch die Angst, dem Theaterprovokateur auf den Leim zu gehen, die falsche Frage zu stellen. Da gibt es keine Kritik, keine Neugier, keine Haltung. Warum stehen die da alle?"

Weitere Artikel: die taz präsentiert ein angebliches Interview von Helmut Höge mit Erich Fried über Glühbirnen, das Höges demnächst erscheinenden "Glühbirnenbuch" entnommen ist. Erste Frage: "Erich, ein Glühbirnenerfinder zu sein, das ist schon was! ... Wann begannen deine Glühbirnenexperimente?". Besprochen wird John le Carres Roman "Der ewige Gärtner".

Das tazmag ist heute ganz dem taz-Kongress vom letzten Wochenende gewidmet. Es ging um die Frage: Wie wollen wir leben?

Und schließlich Tom.

SZ, 05.05.2001

Johannes Willms zitiert aus einem Interview von Le Monde mit dem General Aussaresses. Dieser gibt darin unumwunden zu, im Algerienkrieg gefoltert zu haben. Seine Memoiren lassen die Diskussion über die französischen Verbrechen im Algerienkrieg wieder aufleben. "'Die Folter ist sehr wirkungsvoll gewesen; die meisten hat sie zum Reden gebracht. Anschließend hat man sie einfach beseitigt. Sicher, man hätte sie der Justiz übergeben müssen, das geschah aber nur in einigen Ausnahmefällen. (...) In der Regel hatte man dafür aber keine Zeit. Ob mir das irgendwelche Gewissensnöte bereitet? Ich muss das verneinen. Ich habe mich einfach daran gewöhnt.' Das erste Opfer, das er eigenhändig folterte, so schreibt Aussaresses in seinem Erinnerungsbuch, von dem Le Monde auf zwei Zeitungsseiten einen Vorabdruck veröffentlichte, starb an den Folgen der schweren Misshandlungen, ohne jedoch etwas zu verraten. 'Ich habe mir nichts dabei gedacht, geschweige, dass ich seines Todes wegen etwas empfunden hätte. Wenn ich irgendetwas bedauert hätte, dann nur, dass er nicht geredet hat, bevor er starb.'" Vive la Republique! (Das Interview findet man übrigens bei algeria watch. Leider funktionierte deren Internetadresse heute morgen nicht.)

Über Holocaust-Leugnung unter Arabern schreibt Cordelia Edvardson. Selbst der bekannte Kulturtheoretiker Edward Said, der gegen eine geplante Konferenz von Holocaust-Leugnern im Libanon protestiert hatte, zog seine Unterschrift unter die Petition zurück. "Nie hätte er einen Aufruf an die Regierung des Libanon, die Konferenz abzusagen, unterschrieben, erklärt er nun. Gewiss sei er gegen die Leugnung des Holocaust. Aber er sei auch dagegen, eine Regierung aufzufordern, die Meinungsfreiheit zu beschränken. Als er telefonisch aus Paris gebeten worden sei, den Protest zu unterschreiben, sei ihm nicht klar gewesen, dass man sich damit an die libanesische Regierung wenden wollte. Es sei, so Edward Said, daher ein 'fürchterlicher Missbrauch des Vertrauens' gewesen, seinen Namen in diesem Zusammenhang zu benutzen. Die neofaschistische Organisation, die hinter der Konferenz stand, beeilte sich sehr, den Brief des Professors auf ihrer Seite im Internet zu veröffentlichen. Nun steht Edward Said in ausgesprochen schlechter Gesellschaft da, und wird wohl noch einmal erklären müssen, es so nicht gemeint zu haben." Leider nennt Edvardson nicht den Namen der Organisation.

Robin Detje rechnet ab mit dem Dichter Botho Strauß: "Der Sprecher der Straußschen Unkenrufe könnte eine prachtvolle Figur in einem Strauß-Stück sein, eine düstere Farbe in einem großem Gemälde (blutrot: Samurai und Kameliendame). Aber Strauß verbietet sich das. Er verlangt von seinen Texten, direkt in die Wirklichkeit einzugreifen, er fordert ihnen ab, uns tatsächlich zu meinen. Und er zwingt uns, Abschied zu nehmen vom ungeheuren Talent des Dichters Botho Strauß, das er uns nur gezeigt hat, um es uns strafend wieder zu entziehen. Das ist der symbolische Opfertod des zornigen deutschen Dichters, der so gerne der Anführer eines kleinen reaktionären Haufens wäre. Dieser Autor ist an der Kreuzung von Wirklichkeit und Literatur einfach falsch abgebogen. Nein: Er hat sich stolz geweigert, die Kreuzung als Kreuzung anzuerkennen, und ist mit Vollgas in den Kartoffelacker gefahren." Kartoffelacker? Aber das ist schwer, das ist deutsch!

Weitere Artikel: Katajun Amirpur spricht mit Ebrahim Yazdi, Führer der iranischen Oppositionspartei "Freiheitsbewegung", dem bei einer Rückkehr aus Deutschland Verhaftung droht. Wolfgang Schreiber stellt das letzte Programm von Claudio Abbado als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker vor. Ralf Dombrowski schreibt zum Tod des Jazz-Schlagzeugers Billy Higgins. Otto Kallscheuer betrachtet anlässlich seiner Griechenland-Reise das Verhältnis des Papstes zur Orthodoxie. Besprochen werden Gesine Danckwarts Stück "Täglich Brot" in Jena, der Film "Lost Killers", "Boris Godunow" an der Komischen Oper Berlin und Grafiken von Edvard Munch im Modernen Museum Stockholm.


In der SZ am Wochenende blickt Rolf Lamprecht in die Abgründe des Familienrechts: " Bei den meisten Scheidungsprozessen geht es um Macht und Geld, nicht um Liebe - und die Familienrichter sind hilflos". Ursula Kaufmann liefert ein Kalenderblatt zum 80. Geburtstag von Sophie Scholl. Gerd Raeithel porträtiert Paul Krassner, den "Vater der amerikanischen Untergrundpresse". Christine Martin hat sich in der "Bar Real" über den Finanzplatz Liechtenstein unterhalten. Und Michael Bitala schreibt über Fliegen in Afrika. Buchbesprechungen widmen sich unter anderem Hugo Claus' Roman "Unvollendete Vergangenheit" in Belgien und einem Garten-Bilderbuch (siehe auch unsere Bücherschau des Tages Sonntag ab 11 Uhr).

FR, 05.05.2001

Die FR präsentiert eine neue Serie, die sich Literaturszenen nennt. Autoren bekennen sich hier zu schönen oder interessanten Stellen. Den Auftakt macht Ina Hartwig, frisch gekürte Herausgeberin des Kursbuchs, mit Pippi Langstrumpf und dem Spunk. "In Wahrheit - jeder noch so kleine Leser weiß es - hat sie dieses Wort natürlich nicht gefunden, sondern erfunden. Insofern ist 'Spunk' zuallererst eine Geschmacksäußerung, ein poetisches Statement. Denn ein 'hässliches' Wort würde Pippis Abenteuerlust gewiss nicht so sehr herausfordern wie dieses 'wunderschöne'. Da Thomas nicht nur ein netter, sondern auch ein vernünftiger Junge ist, will er vor allem wissen, was das Wort bedeute. Womit wir wieder beim Ausschluss wären: Spunk kann alles bedeuten, außer Staubsauger. (Im englischen Slang heißt 'spunk' Sperma, aber das können die schwedischen Kinder nicht wissen.)" Wir auch nicht!

Michael Rutschky untersucht die wohltuende Wirkung aller Arten von Prominenz: adlige Prominenz, intellektuelle und künstlerische Prominenz, politische Prominenz - und kommt zu dem Schluss: "Grundsätzlich, scheint mir, unterscheidet sich das Palaver, das diese Akteure der repräsentativen Öffentlichkeit umgibt, gar nicht vom Palaver um Königin Silvia oder Günter Grass. Auch hier kann man mitmachen, ohne viel Kenntnis, durch Meinungsfreude inspiriert, aber ohne Sachverstand, der die anstehenden Probleme gründlich durchdringt, vorweisen zu müssen."

Eva Schweitzer beschreibt die "Ophraisierung" Amerikas. Gemeint ist damit die Psychologisierung von Themen wie dem Holocaust oder Kriegsverbrechen in Vietnam (Robert Kerrey). "Von 'Heilung' ist immer wieder die Rede, vom 'Kampf mit dem Gewissen', 'Agonie', davon, wie schwer der Zugang zur eigenen Erinnerung sei und wie hart es sei, darüber zu reden. 'Dabei geht es hier nicht um Gefühle, es geht um Fakten', schrieb die Arizona Republik. 'Aber in unserer ophrafizierten Kultur (nach der TV-Talkerin Ophra Winfrey) besteht immer die Gefahr, dass wichtige Dinge von einer Wolke von Empathie verdunkelt werden, erzeugt von den Medien'." Schweitzer berichtet in ihrem Artikel auch von dem Protest New Yorker Juden gegen die Verleihung des Steven J. Ross Awards an den Bertelsmann-Manager Thomas Middelhoff. Der Preis wird von der UJA, einer jüdischen Hilfsorganisation, verliehen. Bertelsmann, so die Gegner, habe in der NS-Zeit Propaganda für die Wehrmacht gedruckt.

Weitere Artikel: Martina Meister war dabei, als Bundeskanzler Schröder vom Kanzleramt die paar Meter zum Haus der Kulturen der Welt schlenderte und einen Nachbarschaftsbesuch absolvierte. Hubertus Adam gratuliert den Basler Architekten Herzog & de Meuron zur Verleihung des Pritzker-Preises, und Joel Agee verbringt im zweiten Teil seiner Deutschstunde eine Nacht bei der Stasi zu Haus und am Grab von Bertolt Brecht.

Besprochen werden Andrzej Bartkowiaks Film "Exit Wounds - Die Copjäger", die Ausstellung "Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens", die Aufführung von Dostojewskijs Roman "Der Idiot" in Bochum und Bücher, darunter Cormac McCarthys Western "Land der Freien" und Bei Daos Gedichtband "Post bellum" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages Sonntag ab 11 Uhr).

FAZ, 05.05.2001

Michael Hanfeld schildert die ersten zehn Jahre des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte und den fortwährenden Kampf ? vor allem auf französischer Seite ? um eine einigermaßen respektable Unabhängigkeit von der Politik: "Der Stolz über diesen erfolgreichen Widerstand des David aus dem Elsass ist heute bei allen Arte-Mitarbeitern zu spüren, und er wiegt schwerer als die Differenzen und nationalen Reibungspunkte, die vor allem von außen immer wieder beschworen werden." Zum zehnten Geburtstag wünschte Hanfeld dem Sender eine kleine Strukturreform und viel Glück.

Ernst-Ludwig Winnacker von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erklärt im Interview den Kurswechsel seiner Institution in der Embryonenforschung: "Wir haben in Deutschland auf vielen Gebieten der adulten Stammzellforschung einen Vorsprung gegenüber anderen Ländern, und ich denke nicht, dass die deutschen Forscher diesen Vorsprung aufgeben wollen."

Weitere Artikel. Kerstin Holm, Moskauer Kulturkorrespondentin, erzählt, mit welch harten Bandagen hinter der höflichen Fassade in der Frage der Beutekunst gestritten wird. Siegfried Stadler vermerkt die Tatsache, dass das Ehrengästebuch der Stadt nach Leipzig zurückkehrt. Eva Menasse portätiert Wiens erste Rabbinerin. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften. Zhou Derong betrachtet die weltpolitische Lage in Ostasien nach dem chinesisch-amerikanischen Luftzwischenfall. Michael Zick stellt richtig, dass das assyrische Weltreich nicht "unter dem Ansturm der Koalition aus Medern und Babylonieren im Jahr 612 vor Christus" zusammenbrach ? neue Keilschriftfunde dementieren diese bislang weit verbreitete These.

Besprochen werden der Film "Lost Killers", die Ausstellung "Zero Gravity" in Düsseldorf, "Frühlings Erwachen" in Heidelberg, eine Ausstellung mit Fotos von Claus Heinrich Meyer in Gelsenkirchen, der Film "Exit Wounds", Brittens Oper "The Turn of the Screw" in Freiburg, ein Symposion über Bonhoeffer in Amerika, eine Felix-Vallotton-Ausstellung in Lyon und die neu eröffnete Daros-Collection in Zürich.

In Bilder und Zeiten folgen wir einem Besuch Thomas Rietzschels bei den rumänischen Schriftstellern Mircea Dinescu und Eginald Schlattner. Der Autor Maxim Biller legt eine kleine Erzählung vor. Titel: "Wie Teddy Terror von Hillel Haß eine Belehrung bekam." Günther Wirth befasst sich mit der Friedenskirche im Park von Sanssouci. Freidrich Wilhelm Graf erinnert an den Theologen Adolf von Harnack. Und Hans-Peter Riese hat die Chinati-Foundation des Künstlers Donald Judd in Texas besucht.

In der Frankfurter Anthologie stellt Günter Kunert ein Gedicht von Friedrich Nietzsche vor:

"Seht das Kind umgrunzt von Schweinen,
Hülflos mit verkrümmten Zeh'n
Weinen kann es, nichts als Weinen ?
Lernt es jemals stehn und gehen?..."