
Zum Abschied von Europa
nimmt Perry Anderson in einem ellenlangen Essay das politische Denken unter die Lupe, das derzeit in Europa vorherrscht und das seiner Ansicht nach niemand so sehr verkörpert wie der
niederländische Philosoph Luuk van Middelaar, der auch als Redenschreiber für die konservativ-liberalen EU-Politiker Frits Bolkestein und Hermann van Rompuy diente. Unter Vordenkern wie Middelaar, warnt Andersen, habe sich die Europäische Gemeinschaft zur Union gewandelt, aber selten mit demokratischen Mitteln: "Die
Alchemie der EU besteht darin, Einstimmigkeit durch die
Androhung einer Mehrheitsentscheidung zu erreichen, und nicht wie es die klassische Theorie eigentlich vorsieht, generell von Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung überzugehen. Das war die Regel. Es gab jedoch eine entscheidende Ausnahme. 1985 tagte der Europäische Rat in Mailand zu der Frage, ob - zur Erleichterung der Europäischen Einheitsakte, mit der im Grunde der gemeinsame Binnenmarkt für Güter auf Dienstleistungen ausgeweitet wurde - die Römischen Verträge ergänzt werden sollten, was allerdings eine Regierungskonferenz erfordert hätte. Angeführt von Frankreich und Deutschland, die insgeheim bereits eine solche Änderung geplant hatten, waren sieben von zehn Mitgliedsstaaten dafür. Drei - Britannien, Dänemark und Griechenland - waren dagegen. Das war mehr als genug, um diesen Schritt zu blockieren. Über Nacht kündigte Italien, das den Vorsitz über das Treffen führte, in Person seines Premiers Bettino Craxi an, dennoch abstimmen zu lassen, da die Frage, ob ein Regierungstreffen oder ein Ratstreffen stattfinde, eher prozedural als substanziell einen Unterschied mache.
Margaret Thatcher schäumte vor Wut, ebenso ihre Verbündeten Andreas Papandreou und Poul Schlüter. Craxi aber war nicht abzuhalten und der Antrag wurde mit sieben gegen drei angenommen. Thatcher nutzte ihr Veto nicht, sie sah in der Einheitsakte ihre eigene Handschaft des Liberalismus, was sie allerdings ihr Leben lang bereuen sollte. Middelaar kann seinen Enthusiasmus über den Ausgang kaum zügeln: Indem er die Gelegenheit beim Schopfe packte, verschaffte
Craxis Bluff einen wunderbaren Moment des Übergangs, der Europas permanente Erneuerung in Gang setzte und der Gemeinschaft oberste Autorität verschaffte. Wie er das geschafft hat? 'Ich verrate Ihnen Geheimnis:
Es war ein Staatsstreich, der sich als Verfahrensfrage tarnte.'"
Faszieniert
liest John Lanchester auch, wie
Rebecca Wragg Sykes in ihrem Buch "Kindred" mit etlichen Vorurteilen über die
Neanderthaler aufräumt. Denn natürlich waren sie keine dumpfen Höhlenmenschen, die nur hin und wieder ein Mammut jagten: "Die Kunst des Homo Sapiens ist komplexer als die der Neanderthaler, keine Frage, aber vor hunderttausend Jahren war sie es noch nicht. Funde von archäologischen Stätten zeugen von
komplexen, symbolischen Handlungen, die auch eine Verbindung zwischen Lebenden und Toten umfassen, ästhetische Präferenzen und die Herstellung von nicht-nützlichen Gegenständen. Sie haben auch ihre Tote bestattet. Sie liebten
Klauen und Muscheln und trugen sie als Schmuck, sie mochten Farben, besondern Ocker und Rot."