Heute in den Feuilletons

So verstörend tief

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.09.2013. Alle Zeitungen trauern um Otto Sander. Ihm gelang es, noch das Berlinische zu sublimieren, meint die Welt, und zwar mit "Sternschnuppenleichtigkeit", findet die FAZ. Geht mit dem Roaming auch gleich die Netzneutralität drauf, fragt zeit.de. Die Parteien lockern im Wahlkampf ihre Auffassung vom Urheberrecht, beobachtet Netzpolitik. Design wird ausgerechnet in Designmuseen falsch präsentiert, meint der V&A-Kurator Kieran Long in Dezeen. Die NZZ kritisiert die Luxuswahlverweigerer Peter Sloterdijk und Harald Welzer.

Welt, 13.09.2013

Otto Sander gelang es, noch das Berlinische zu sublimieren, meint Reinhard Wengierek: "Die feine Schnoddrigkeit, die schlurfige Gelassenheit, sein scheu gegrummeltes, höheres 'Det wird schon', seine alles Daseinstragödische lax mit Komik wegwischende Art, das passte schon sehr zu Berlin... Dazu passte auch sein 'zusammengestürztes Gesicht', wie der ihm sonderlich zugetane Dichter Botho Strauß befand. Diese 'Zwetschge der Untröstlichkeit'."



Weitere Artikel: Trotz mancher Reibereien und Schrullen hat Gérard Mortier seinen verfrühten Abgang im Teatro Real von Madrid nicht verdient, findet Manuel Brug. Dankwart Guratzsch besucht die neu wieder aufgebaute, aber ihre Verletzungen vorzeigende Schlosskapelle in Dresden, wo einst Heinrich Schütz wirkte. Marco Frei bilanziert das Festival von Luzern. Elmar Krekeler liest Carl Nixons Krimi "Settlers Creek".

Besprochen werden Leon de Winters Roman "Ein gutes Herz" und Arnaud des Pallières Verfilmung des "Michael Kohlhaas" mit Mads Mikkelsen.

Aus den Radios, 13.09.2013

Der Bayerische Rundfunk hat den Schriftsteller Don DeLillo besucht. Entstanden ist dabei ein fast einstündiges Feature: Zum Nachhören hier (Direktlink, ca. 50mb).

Aus den Blogs, 13.09.2013

Design wird ausgerechnet in Design-Museen falsch wahrgenommen, meint Kieran Long, Kurator des Victoria & Albert Museums in einer neuen Kolumne für das Desingblog Dezeen: "In our China gallery, for very good institutional reasons, there are no contemporary, mass-produced objects. The twenty-first century is represented by artisanal glass and works of conceptual furniture design: the museum is more or less silent on the era of extraordinary Chinese manufacturing we are living through. Dezeen has a similar emphasis: while the site is catholic in its tastes, the anonymous, the mass-produced and the semi-designed are suppressed in favour of the work of a fairly coherent group of designers."

Medienprofessor Robert W. McChesney sucht in einem Buchauszug, den Vocer veröffentlicht, die Zukunft des Journalismus im Netz und findet keine - außer vielleicht einer: "Es gibt wohl keinen besseren Beweis, dass der Journalismus ein öffentliches Gut ist, als die Tatsache, dass es kein Finanz-Genie in Amerika gibt, das herausgefunden hat, wie man damit Geld machen kann. Der Vergleich zur Bildung ist auffällig. Wenn Manager die Logik des Marktes auf Schulen anwenden, wird das fehlschlagen, denn auch Bildung ist ein öffentliches Gut und kein Geschäft."

Open Democracy stellt Musopen vor, eine gemeinnützige Organisation in Kalifornien. Sie bewahren Noten auf und Einspielungen klassischer Musik, bei denen die Urheberrechte abgelaufen sind, und stellen sie auf ihre Webseite. Gerade eben haben sie eine Kickstarter-Kampagne gestartet, um alle Chopin-Stücke einspielen zu lassen, die dann zur freien Nutzung online gestellt werden: "If the campaign reaches its goal of raising $75,000 (it's already at $34,748), Musopen will work with talented musicians to 'preserve indefinitely and without question everything Chopin created.' They will record performances of 245 Chopin pieces in both 1080p video and 24 bit 192kHz audio, and then release them all into the public domain."

Weitere Medien, 13.09.2013

Die neue Verordnung von EU-Kommissarin Neelie Kroes will das Roaming abschaffen. Hinter dieser frohen Botschaft verbirgt sich allerdings die Nachricht, dass die Netzneutralität gleich mit flöten geht, berichtet Angela Gruber auf Zeit online: "Am Donnerstag wies Kroes alle Gerüchte über interne Streitigkeiten als falsch zurück, obwohl ein Brandbrief der EU-Generaldirektion für Justiz an Kroes öffentlich geworden war. In diesem steht sinngemäß, dass Kroes' Verordnung die Informations- und Meinungsfreiheit der Bevölkerung gefährde. Kritik übte auch der fraktionsfreie EU-Abgeordneten Martin Ehrenhauser: 'Die vorgeschlagenen Regeln führen unweigerlich zu einem Zweiklasseninternet', sagte Ehrenhauser."

Bei Bloomberg Businessweek bedankt sich David Meyer bei der NSA dafür, dass sie mit ihren Hintertüren und Unterwanderung internationaler Verschlüsselungsstandards das Netz für uns alle unsicherer gemacht hat. "What is so jaw-droppingly idiotic about your actions is that you have not only subverted key elements of modern cryptography, but you have also appointed yourself as the guardian of the knowledge that the resulting vulnerabilities exist. And if your own security systems were up to the task, then those secrets wouldn't be sitting in the offices of the New York Times and ProPublica."

Und in der Los Angeles Times zitiert Jon Healey einen wütenden und entsetzten Joseph Lorenzo Hall vom gemeinnützigen Center on Democracy and Technology: "The NSA seems to be operating on the fantastically naïve assumption that any vulnerabilities it builds into core Internet technologies can only be exploited by itself and its global partners."

NZZ, 13.09.2013

Dass das untere Drittel der Gesellschaft in Deutschland nicht an Wahlen teilnimmt, hat Tradition, weiß Joachim Güntner. Bedenklich findet er, wenn nun auch Journalisten von Zeit und Spiegel sowie Intellektuelle wie Peter Sloterdijk und Harald Welzer öffentlich ihren Boykott verkünden: "Unterschiede zwischen den Parteien gibt es genug. Wer sie nicht sieht, dem geht es zu gut. Auch birgt die radikale Systemkritik, die das Nichtwählen begründen soll, Tücken. Prediger des Verzichts müssen aufpassen, dass sie ihren öffentlichen Verbalradikalismus nicht durch privates konsumfreudiges Wohlleben konterkarieren."

Weiteres: Urs Schoettli beschreibt den Indischen Ozean als Schauplatz von "akuten nationalen und imperialistischen Rivalitäten". Klaus Völker nimmt Abschied von Otto Sander.

Besprochen werden neue CDs: "Wise Up Ghost" von Elvis Costello & The Roots (ein "ebenso kontrastreiches wie stimmiges Werk", urteilt Ueli Bernays) und "Tap", auf dem der Gitarrist Pat Metheny Kompositionen des kürzlich sechzig gewordenen John Zorn interpretiert ("so breit der Graben zwischen dem sonnigen Jazzstar Metheny und dem musikalisch polyglotten Nerd sein mag, die Brücke hält", meint Stefan Hentz) sowie Jette Steckels Inszenierung von Giacomo Puccinis "Tosca" in Basel (die Martina Wohlthat "kurzweilig und trotzdem genau beim Hinsehen auf die Details" findet).

TAZ, 13.09.2013

Margarete Stokowski porträtiert den 19-jährigen Londoner Punkpoeten King Krule (Video) und sein Debütalbum "6 Feet Beneath the Moon". "Dieser King Krule singt so verstörend tief, krächzt und heult, klagt und leidet wie ein geprügelter Hund, dass man meint, er habe bereits Jahre vor seiner Geburt mit dem Trinken angefangen."

Ein "wahnwitziges Dokument der Selbstüberschätzung" nennt Ulrike Herrmann die Biografie "Späte Reue" über Josef Ackermann, den früheren Chef der Deutschen Bank, die in Berlin präsentiert wurde (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr). Jürgen Berger betrauert in seinem Nachruf den Verlust des "sonoren Schmirgelsounds" von Otto Sander.

Besprochen werden das neue Album "The Electric Lady" der US-amerikanischen R-'n-B-Sängerin Janelle Monáe.

Und Tom.

Aus den Blogs, 13.09.2013

Interessante Entwicklungen beobachtet Leonhard Dobusch für Netzpolitik bei unseren staatstragenden Parteien. Dort lockert sich die Auffassung zum Urheberrecht: "Abgesehen von schon traditionellen Plakatremixes und dem Meme rund um die Merkelraute demonstrierte vor allem der Geh-Wählen-Spot der IG Metall das Potenzial von Remixkultur auch für politische Botschaften... Wohl auch inspiriert vom Erfolg des IG-Metall-Spots versucht sich nun auch die SPD an Remixkreativität und bedient sich dafür bei Monty Pythons 'Life of Brian'".

Apples neues iPhone 5S lässt sich mit dem Fingerabdruck entsperren. Das ist sehr dumm, denn nichts lässt sich so leicht stehlen wie ein Fingerabdruck, meint Cory Doctorow auf BoingBoing. "I remember reading stories of carjackers who amputated their victims' fingertips in order to make off with their biometrically protected cars. More interesting is the prediction that phone thieves will lift their victims' fingerprints and use them to bypass the readers. As German Interior Minister Wolfgang Schäuble discovered, you leak your fingerprints all the time, and once your fingerprint has been compromised, you can't change it. (Schäuble was pushing for biometric identity cards; playful Chaos Computer Club hackers lifted his fingerprints off a water-glass after a debate and published 10,000 copies of them on acetate as a magazine insert)."

So dürfte es bei der Apple-Konferenz etwa zugegangen sein (Grafik von e30legend):

SZ, 13.09.2013

Dirk von Gehlen staunt auf der Medienseite über den nun auch wirtschaftlichen Erfolg von Buzzfeed, wo Tierfotos und seriöser Journalismus um die massenhaften Likes und sozialen Netzwerke der Leser buhlen: Wird eine Nachricht oft genug geteilt, "spricht man in schlechter Übersetzung davon, dass dieser Inhalt 'viral geht', dass er sich wie ein Schnupfen im Büro durch die virtuelle Welt verbreitet. Diese Verweiskultur von Facebook und Twitter ist der Gegenentwurf zur Suchkultur von Google: Das, was dich interessiert, wird dich auch finden."

Im Feuilleton wägt Joachim Käppner die Thesen des US-Politologen Benjamin Barber ab, der meint, dass man die Welt mit mehr Macht für Bürgermeister verbessern könnte: "In sozial halbwegs stabilen Städten und Staaten funktioniert das Modell des Bürgermeisters als politischer Hyperpragmatiker natürlich am besten. ... [Doch] Lagos in Nigeria oder Jakarta in Indonesien sind Städte, die in nicht allzu ferner Zukunft von Mega- zu Metacitys wuchern werden, mit 20 Millionen Einwohnern und mehr. Slums, Elend und Gewalt greifen um sich."

Außerdem im Feuilleton: Gottfried Knapp steht überwältigt in der vor 150 Jahren in Kelheim errichteten Befreiungshalle. Reinhard J. Brembeck beleuchtet die Hintergründe von Gerard Mortiers Kündigung seitens des Madriders Teatro Real. Lothar Müller trauert um Otto Sander.

Besprochen werden eine bei der Ruhrtriennale aufgeführte Performance von Forced Entertainment (Marion Ammicht bezeugt "ein gewaltiges Zischen und Krachen, ein Gurgeln und Schmurgeln, ein Raunen und Wehen"), Arnaud des Pallières Film "Michael Kohlhaas" ("Der Diskurs der Macht und der Politik ist [...] erotisch unterlegt", berichtet Fritz Göttler) und Bücher, darunter eine neue Essaysammlung von Giorgio Agamben (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 13.09.2013

Gerhard Stadelmaier würdigt in einem schönen Nachruf die "Sternschnuppenleichtigkeit" des Schauspielers Otto Sander: Er "war einer der größten Passivisten unter den deutschen Schauspielern. Er schien nie zu machen, immer nur machen zu lassen. Dabei hielt er seine Figuren auf leichtem Fuß. ... Als Teiresias in Klaus Michael Grübers 'Bakchen' von 1974 schlief er bei den Proben einfach für eine Stunde lang ein, während Grüber den Schlaf Sanders bewachte, als ob er, aus diesem erwacht, gleich die schönsten Ungeheuer spielerischer Vernunft gebären würde."

Was bei "Star Trek" einst noch ferne Zukunftsmusik war, bildet zunehmend die Grundlage unserer Gegenwart, meint Felix von Leitner a.k.a. Fefe: Selbst der Datenschutz ist in dieser technokratischen Utopie obsolet: "Die Vision der Zukunft ist, dass wir den Kampf gegen allgegenwärtige Überwachung verloren haben, aber dass das nicht schlimm ist. Die Gesellschaft hat sich so weiterentwickelt, dass kein Missbrauch stattfindet. ... Kein Wunder also, wenn sich die Ingenieure hinter Google nichts dabei denken, wenn sie alle Daten speichern. Wir sind die Guten! Daten missbrauchen, das tun nur die Bösen. Wir tun nichts Böses."

Weiteres: Niklas Maak führt durch die neu arrangierte Stuttgarter Staatsgalerie, deren bisheriges enthistorisierendes Setting von Christiane Lange durch ein Konzept historischer Korrespondenz ausgetauscht wurde. Patrick Bahners besucht den Schriftsteller James Salter. Gebannt lauscht Oliver Jungen einer Ansprache des ehemaligen Titanic-Chefredakteurs und jetzigen PARTEI-Kanzlerkandidaten Oliver Maria Schmitt, der mit seiner Rede "Cato den Älteren, Goebbels, Obama, Luther mit oder ohne King, ja, selbst Brüderles Röchel- und Spuckrede (...) in den Schatten stellte" (nachzuhören ist dieses Großereignis politischer Rhetorik hier). Weimar feiert "Lohengrin", berichtet Jan Brachmann. Regina Mönch erinnert an den Ossietzky-Affäre vor 25 Jahren in der DDR. Jürgen Dollase ärgert sich, dass kulturinteressierte Bürger im Bereich der Kulinarik deutlich geringere Qualitätsansprüche an den Tag legen als bei ihren kulturellen Neigungen.

Besprochen werden neue Schallplatten, darunter ausführlicher Laura Veirs' "Warp and Weft", eine "Nabucco"-Aufführung an der Deutschen Oper Berlin, eine Ausstellung im Militärhistorischen Museum in Dresden über die Befreiungskriege und Bücher, darüber Jesmyn Wards Roman "Vor dem Sturm" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).