Heute in den Feuilletons

Pigmentpulver auf Papierbögen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.08.2013. In der taz erklärt die gehörlose US-Klangkünstlerin Christine Sun Kim, wie sie Klang sichtbar macht. Die NZZ erhofft sich von den Berliner Museumsplänen ein Ende der "bizarren Schäbigkeit", die das Kulturforum auszeichne. Das Entsetzen über den Bradley-Manning-Prozess hat nichts mit Antiamerikanismus zu tun, meint Constanze Kurz in der FAZ. In der FAZ verkündet überdies Mavis Staples eine universale Botschaft: die des Soul.

Aus den Blogs, 23.08.2013

Fassungslos schreibt Rechtsanwalt und Blogger Thomas Stadler in Golem über das Urteil gegen Bradley Manning: "Was mich an dem verhängten Strafmaß besonders erschüttert, ist die unmenschliche Art und Weise, in der ein Staat an einem armen Schwein wie Bradley Manning ein völlig überzogenes Exempel statuiert, während er diejenigen, deren Taten Manning offenkundig gemacht hat, verschont. Der eine hat aber nur Daten weitergegeben, während die anderen Menschen getötet haben."

Bradley Manning ist jetzt Chelsea Manning. Ryan Kerney beobachtet in einem Blog der New Republic: "This morning, Wikipedia users changed Manning's entry on the site accordingly, such that it now reads, 'Chelsea Manning (officially Bradley Edward Manning; born December 17, 1987)" and refers to Manning throughout as 'she.'"

Wenn Amerikaner und Briten und wer weiß noch wer uns flächendeckend ausspionieren, die Bundesregierung als Reaktion aber nur vor sich hinmurmelt - könnte das daran liegen, dass Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer kein souveräner Staat ist? Das fragt sich bei Carta Wolfgang Michal, der auf das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut hinweist, das 1959 beschlossen wurde: "Der Historiker Joseph Foschepoth ist der Auffassung, dass dieses Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut die Grundlage für die alliierten Überwachungsmaßnahmen ist. Auch in Zukunft sei es jedem alliierten Militärbefehlshaber unbenommen, die zum Schutz seiner Truppen notwendigen Sicherungsmaßnahmen zu treffen, wozu auch die Durchführung von Überwachungsmaßnahmen des Post- und Fernmeldeverkehrs gehört. Selbst das Grundrecht der Freiheit der Person (Artikel 2 GG) wird nach Maßgabe des Artikels 20 des Zusatzabkommens eingeschränkt".

TAZ, 23.08.2013

Rader Krolczyk unterhält sich mit der gehörlosen US-Klangkünstlerin Christine Sun Kim, die derzeit in der Gruppenausstellung "Soundings. A Contemporary Score" im New Yorker Moma vertreten ist, über ihre Arbeitsmethoden. "Da ich nicht hören kann, muss ich andere Wege einschlagen, um mir Klänge begreifbar zu machen. In meinem frühen Werk habe ich in Tinte getauchte Nägel und Pigmentpulver auf Papierbögen gelegt und sie Schallwellen ausgesetzt - eine sehr wörtliche Art, Klänge in Material zu übersetzen. Solche Art künstlerischer Praxis interessiert mich heute nicht mehr. Momentan denke ich darüber nach, auf welche Weise man Klänge durch reines Material repräsentieren könnte."

Weitere Artikel: Elis Graton schreibt über den schwierigen Imagewechsel von Marseille als französische Hauptstadt des Verbrechens und der Armut, dem auch der Status als amtierende Kulturhauptstadt Europas nicht wirklich etwas entgegensetzen kann. Rudolf Walther informiert über eine Attacke des Feuilletonchefs der NZZ gegen Adolf Muschg ("Dauermoralisierung der Öffentlichkeit"), nachdem dieser es gewagt hatte, den Umgang seines Heimatlandes Schweiz mit Asylsuchenden zu kritisieren. Für Lukas Wallraff stellt sich immer mehr die Frage, wie Journalisten angesichts der schrecklichen Bilder aus Syrien mit dem Grauen umgehen sollen. Jens Uthoff berichtet über eine Klage, die die Rechtsrocker von Frei.Wild gegen die Berliner Satirepunkband Nordwand anstrengen will, weil diese einen Tour-Flyer von Frei.Wild auf ihrer Facebook-Seite parodierte.

Besprochen wird das Album "From Lo-Fi to Disco!" des deutsch-italienischen Duos Woog Riots.

Und Tom.

Welt, 23.08.2013

Michael Pilz bespricht die neue CD der Band Franz Ferdinand. Elmar Krekeler mokiert sich darüber, dass der nächste "Tatort" wegen angeblicher Brutalität (offenbar wird die Assistentin der Kölner Ermittler wegen Rollenmüdigkeit der Darstellerin gemeuchelt) erst um 22 Uhr gezeigt wird. Gerhard Gnauck berichtet, dass Veranstaltungen von Zygmunt Bauman in Breslau von Rechtsradikalen gesprengt wurden, die ihm seine Stasi-Vergangenheit ankreiden. Besprochern werden eine "Cosi" in Salzburg und J. F. Dams Krimi "Der dritte Berg".

Im Forum erinnert Alan Posener an den Prozess gegen Anders Behring Breivik, in dem zurecht auch der Hass auf die Muslime vor Gericht gestanden habe.

NZZ, 23.08.2013

Von der Absicht der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, in der Berliner Sigismundstraße ein Museum des 20. Jahrhunderts zu errichten, verspricht sich Sieglinde Geisel vor allem eine Aufwertung des bislang recht uncharmanten Kulturforums: "Die Ödnis zwischen Scharouns Philharmonie und Mies van der Rohes Glastempel ist von einer fast schon bizarren Schäbigkeit, hinter der niemand einen Kunstschatz vom Rang der Gemäldegalerie vermuten würde."

Weiteres: Gabriele Detterer berichtet begeistert, dass sich die Mailänder Innenstadt zu einer Luxus-Einkaufsmeile gemausert hat. Mit der Bootleg-Sammlung "Another Self Portrait" übt Bob Dylan "späte, aber süße Rache" an allen, die glauben, die Zeit um 1970 sei eine eher schwache Schaffensperiode des Sängers gewesen, meint Martin Schäfer. Christoph Wagner unterhält sich mit Nick McCarthy von Franz Ferdinand über deren neues Album "Right Thoughts, Right Words, Right Action". Und Manfred Clemenz empfiehlt die Ausstellung "Emil Nolde. Die Pracht der Farben" in Baden-Baden (Bild: Emil Nolde, "Tropensonne", 1914).

Weitere Medien, 23.08.2013

Zum Museenstreit in Berlin hat gestern natürlich auch die Berliner Lokalpresse Stellung bezogen. Im Tagesspiegel war Christiane Peitz enttäuscht über die Entscheidung, aus Kostengründen keinen Neubau für die Alten Meister am Bode-Museum zu wagen, sondern ein Haus für die Kunst des 20. Jahrhunderts hinter der Neuen Nationalgalerie: "Rembrandt, Rubens und Raffael bleiben nun in jenem Museum am Kulturforum, das vor 15 Jahren eigens für sie errichtet wurde. Aber sie bleiben auch dort, wo sie wenig besucht den Dornröschenschlaf schlafen. Der Traum von den drei großen, attraktiven, klar profilierten Kunststandorten - die Museumsinsel als Louvre Berlins, mit der Kunst der Antike bis zum 19. Jahrhundert samt einer Mischpräsentation von Malerei und Bildhauerei als Herzstück, das Kulturforum als Zentrum für die Kunst des 20. Jahrhunderts, der Hamburger Bahnhof für das 21. Jahrhundert - dieser Traum ist perdu, ein für allemal."

Nicola Kuhn erklärt in einem zweiten Artikel im Tagesspiegel, warum niemand Lust haben wird, den Neubau für die Kunst des 20. Jahrhunderts zu planen. In der Berliner Zeitung zeigte sich auch Nikolaus Bernau enttäuscht, zumal es für den jetzt beschlossenen Neubau noch keine Finanzierungszusage gibt: "Man wartete viele Monate. Aber der große, intellektuell spannende, historisch reflektierte und doch pragmatisch durchsetzbare Wurf, der die Probleme der Berliner Staatlichen Museen auf Dauer löst, fehlt weiter."

Ebenfalls in der Berliner Zeitung informiert Ulrike Simon über massiven Widerstand der Spiegel-Redaktion gegen die Benennung des derzeitigen Bild-Vize Nikolaus Blome zum neuen stellvertretenden Chefredakteur: "Womöglich könnte der Streit weiter eskalieren, Büchner gar nicht erst Spiegel-Chefredakteur und Geschäftsführer Ove Saffe gar abgesetzt werden - trotz seiner Vertragsverlängerung erst im vergangenen Jahr. Sollte sich der Eindruck bewahrheiten, dass Saffe mit Büchner die KG durch eigenwillige Aktionen entmachten will, 'stehen wir wie eine Wand', sagte ein Redakteur."

Die Süddeutsche Zeitung druckt nicht nur die israelkritischen Gedichte des beliebten Schmunzellyrikers Günter Grass, schreibt Leo Fischer in einer kleinen Satire für die Jüdische Allgemeine, die das schwere Leben des leitenden Redakteurs Dr. P. schildert: "Der schönste Text nützt nichts, wenn er nicht auch knackig illustriert ist, plakativ, emotional und allgemein verständlich. So illustrierte die mehrfach preisgekrönte Bildredaktion einen Artikel über israelische Waffenimporte mit einem gefräßigen Monster und einen Bericht über das Mainzer Bahnhofschaos mit dem Foto einer Bahnstrecke vor Auschwitz-Birkenau. Ein drastisches Bild, gibt P. zu."

Der Schriftsteller William T. Vollmann erzählt in Harper's Magazine, wie er herausfand, dass das FBI ihn einst für den Una-Bomber hielt, meldet Max Read bei Gawker. "Apparently an informant - noticing what he or she believed to be Unabomber-like 'anti-growth and anti-progress themes' in Vollmann's historical novel 'Fathers and Crows' - alerted the FBI to the possibility that Vollmann might be the behoodied terrorist."

SZ, 23.08.2013

Sehr begeistert ist Max Scharnigg vom neuen Album der einstigen Indie-Götter Franz Ferdinand, die sich nach eher verkopften Ausflügen nun wieder von ihrer prächtigsten Seite zeigen: Sie bieten "genau das, was man sich in der Indie-Disco beim DJ wünscht." Bei NPR.org kann man zum kompletten Albumstream mittanzen. Johan Schloemann blättert in Ciceros antiker Broschüre für den Wahlkampf. Peter Richter informiert sich anhand von Prozessunterlagen über den Kunstfälscher Pei-Shen Qian, der für vergleichsweise geringen Lohn für Millionen gehandelte Fälschungen von Kunstwerken der Moderne erstellt hat (mehr dazu in der FAZ). Willi Winkler schreibt den Nachruf auf den US-Beatles-Impresario Sid Bernstein.

Auf der Medienseite zeigt sich Kathrin Werner positiv überrascht vom frisch auf Sendung gegangenen CNN-Konkurrenten Al Jazeera America, der betont ausgewogene Berichte mit deutlich weniger Werbeunterbrechungen als andere Nachrichtensender bringe: Er "bereitet die Themen auch in den Tagen nach dem Start gründlich auf. Wenn der Sender ein Nachrichtenstück über Waldbrände im Westen der USA bringt, gibt es gleich auch einen Bericht, der erklärt, wie Löschflugzeuge funktionieren."

Besprochen werden die Salzburger Aufführung von Mozarts "Cosi fan tutte" (Helmut Mauró hat wenig Freude: "Die ersten beiden Akte hätte man ohne Kunstverlust auf eine Stunde komprimieren können.") und Helene Hegemanns zweiter Roman (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 23.08.2013

In ihrer Maschinenraum-Kolumne beklagt Constanze Kurz, dass Whistleblower unter der Regierung Obama zusehends schlechter gestellt werden - nie hat jemand in den USA 35 Jahre Gefängnis dafür bekommen, dass er ein Massaker anprangerte. Kurz schildert den unwürdigen Prozess gegen Bradley Manning und stellt klar: "Der reflexhafte Vorwurf des Anti-Amerikanismus läuft ins Leere, da auch große Teile der amerikanischen Öffentlichkeit das Verhalten der eigenen Regierung hinterfragen - sowohl im Fall Manning als auch im Fall Snowden."

Jonathan Fischer führt ein schönes Interview mit der Soulsängerin Mavis Staples, die zusammen mit Jeff Tweedy ein neues Album aufgenommen hat und Soul nicht einfach als "schwarze" Musik sehen will: "Warum wohl wird Soul auf der ganzen Welt verstanden? Weil er einen universalen Humanismus predigt! Diese Songs sind auch denjenigen gewidmet, die gerade in der Türkei für ihre Rechte aufstehen, für all die mutigen Protestierer und Menschenrechtsanwälte in Afrika, China oder Brasilien. Ich sehe sie als Kinder im Geiste von Martin Luther King Jr." Nebenbei erfährt man, dass Bob Dylan einmal sehr verliebt war in Staples. ("Natürlich habe ich mir manchmal vorgestellt, wie unsere Kinder jetzt aussehen würden.")



Außerdem: Kann Stefan Raab dem in einer Woche anberaumten Kanzlerduell etwas Würze beimengen, wie es - ausgerechnet - Edmund Stoiber Anfang des Jahres im Spiegel vorschlug? Marcus Jauer bekommt eine Seite, um sich dieser Frage zu widmen. Andreas Rossmann hält der Kölner Stadtpolitik vor, kein Jüdisches Museum bewerkstelligt zu kriegen. Andreas Platthaus porträtiert den Comic- und Animationszeichner Artur Klose, der in Russland erfolgreicher ist als in Deutschland. Lydia Lunch, die einstmals provokanteste Protagonistin der New Yorker Punkszene, ist angenehm gereift, bemerkt Klaus Ungerer bei deren Berliner Konzert. Patrick Bahners schwitzt in New York und schaltet dann doch die Klimaanlage ein. Melanie Mühl liest sich zur Überbrückung des Sommerlochs durch aktuelle Ratgeber für Frauen und wünscht sich, deren bekenntnisfreudige Autorinnen hätten lieber ihren besten Freundinnen Briefe geschrieben. Jürgen Dollase speist vorzüglich im L'Auberge de L'ill.

Besprochen werden die Meret-Oppenheim-Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau, Anna Netrebkos neues Album mit Verdi-Aufnahmen, eine Ausstellung der New Yorker Künstlerin Liz Magic Laser im Westfälischen Kunstverein (mehr in den Ruhrnachrichten), das Salzburger "Così fan tutte" (das auch Jürgen Kesting wenig zu berühren vermochte: "Das Musizieren wirkte trocken buchstabiert, wie reduziert auf ein akustisches Illustrieren der Inszenierung"), Sandra Nettelbecks Film "Mr. Morgan's Last Love" und Bücher, darunter Thomas Glavinics Roman "Das größere Wunder" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).