Heute in den Feuilletons

Großfiktionssysteme der Gegenwart

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.08.2013. Alan Rusbridger, Chefredakteur des Guardian, erzählt, wie Geheimdienstleute des GCHQ in die Redaktion kamen und Laptops zerstören ließen. Kein Kommentar in der taz zur Debatte über einen Artikel zum Thema "Grüne und Pädophilie", den die Chefredakteurin Ines Pohl wegen angeblich falscher Behauptungen nicht drucken ließ. Stefan Niggemeier, die Welt und die FAZ greifen die Geschichte auf. Die SZ entschuldigt sich für die Illustration einer Debatte über die Probleme der Bahn mit einem Foto, das die Gleisanlagen von Auschwitz zeigt.  Und aus dem Tagesspiegel, jetzt auch online, wenn auch anderswo, die Geschichte eines Stasi-Offiziers, der bis vor kurzem im Auftrag der Stadt Berlin operierte.

Weitere Medien, 20.08.2013

Gestern erfuhr die Weltöffentlichkeit, wie der britische Gehimdienst auf dem Flughafen Heathrow den Lebenspartner des Guardian-Autors Glenn Greenwald schikaniert. Heute erzählt Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger ganz im britischen Plauderton die ungeheuerliche Geschichte von Einschüchterungsversuchen durch den britischen Geheimdienst GCHQ. Es beginnt mit Vorladungen nach Whitehall und endet mit einer krassen direkten Aktion: "And so one of the more bizarre moments in the Guardian's long history occurred - with two GCHQ security experts overseeing the destruction of hard drives in the Guardian's basement just to make sure there was nothing in the mangled bits of metal which could possibly be of any interest to passing Chinese agents."

Christoph Scheuermann kommentiert auf Spiegel Online: "Für Premierminister David Cameron und seine Regierung ist diese Geschichte, wenn sie sich so zugetragen hat, mehr als nur peinlich. Im Land fragt man sich nun, wie leichtfertig und dumm ein Geheimdienst eigentlich sein kann. Wissen die Spione nicht, dass sich Festplatten kopieren lassen?"

NZZ, 20.08.2013

Trotz Täschligate und einem Badeverbot für Asylbewerber im Städtchen Bremgarten findet Martin Meyer Adolf Muschgs Polemik gegen die Schweiz als "hässlichen Riesenzwerg" albern. Peter Killer schreibt zum Tod des Wahrnehmungsforschers und Künstlers Hugo Suter. Auf der Medienseite befasst sich Rolf Hürzeler mit der Koproduktion von Schweizer Fernsehen und Kino.

Besprochen werden eine Ausstellung des Architekten Adalberto Libera im Kunstmuseum von Rovereto, Karl-Markus Gauß' Erinnerungen "Das erste, was ich sah", Sloan Wilsons wiederentdeckter Roman "Der Mann im grauen Flanellanzug" und Urs Allemanns Gedichte "In Sepps Welt" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 20.08.2013

Eine Geschichtsstunde erteilt Max Thomas Mehr im Tagesspiegel. Er erzählt die Geschichte des langjährigen Stasioffiziers Horst Köhler, der jahrelang in der DDR Dissidenten schikanierte, unter anderem 1981 den jungen Regimegegner Matthias Domaschk vernommen hatte, der dann in Haft starb - eine Zäsur für die Bürgerechtler in der DDR. Köhler beaufsichtigte bis vor kurzem völlig unbehelligt im Auftrag der Stadt Berlin die berühmte Marheineke-Markthalle in Kreuzberg. Erst nach Mehrs Recherche wurde er entlassen: "Natürlich müssten auch Leute wie K. sich einleben können in der Nach-Wende-Gesellschaft", kommentiert Mehr. "Aber müssen sie, ohne dass sie sich ihrer Verantwortung gestellt haben, wieder Macht über andere Menschen ausüben?" Der Tagesspiegel hat die Geschichte nicht online gestellt, aber bei der Robert-Havemann-Gesellschaft ist sie als pdf-Dokument zu lesen. Auch in der MDR-Sendung Fakt gibt es einen Beitrag zu der Geschichte.

Welt, 20.08.2013

Gleichgültiges Achselzucken angesichts der Bespitzelungsprogramme der NSA ist nicht angesagt, meint Peter Schneider im Forum. Die Gesellschaft sollte vielleicht schon diskutieren, ob sie Überwachung in dieser neuen Qualität tolerieren will: "Die neuen technischen Mittel, die es mithilfe von Suchprogrammen erlauben, aus einem Meer von Datensätzen ein paar Dutzend verdächtige Kontaktdaten herauszufischen, haben die Beweislast wie von selbst umgekehrt. Nicht die Polizei oder ein Geheimdienst müssen das Vorliegen eines konkreten Verdachts beweisen, der dann einen richterlichen Beschluss und die gezielte Überwachung einer Person begründen würde, sondern umgekehrt: Millionen von Bürgern werden 'fürsorglich' ausgespäht, um auf diese Weise festzustellen, wer von ihnen unschuldig oder verdächtig ist."

Im Feuilleton liefert Torsten Krauel einige kühne Spekulationen über die Gründe, die taz-Chefin Ines Pohl veranlasst haben könnten, einen Text von Christian Füller über die pädophilen Verstrickungen der Grünen aus dem Blatt zu schmeißen. Besonders auffällig findet er das Schweigen der CDU zu dem ganzen Thema: "Man schaue sich genau an, wie still die CDU bei dem Thema bleibt und wie sehr in manchen Hinterköpfen mit Blick auf den 22. September eine schwarz-grüne Koalitionsoption herumgeistert, für die ein 30 Jahre alter Kulturkampf nur schädlich wäre."

Weiteres: Joachim Mischke stellt die russische Sopranistin Olga Peretyatko als neuen - und ziemlich divenhaften - Star von Salzburg vor. Besprochen werden David Wnendts Verfilmung von Charlotte Roches Roman "Feuchtgebiete" (die Anke Sterneborg besser findet als das Buch), Gioachino Rossinis Oper "Guillaume Tell" auf den Opernfestivals in Bad Wildbad und Pesaro und das Tagebuch von Adelbert von Chamisso.

Aus den Blogs, 20.08.2013

taz-Chefredakteurin Ines Pohl hat am Wochenende einen Text von Christian Füller in der taz verhindert, der sich mit den pädophilen Verstrickungen der Grünen befasst. Begründung: Der Artikel "strotze vor falschen Tatsachenbehauptungen und habe keinen aktuellen Kontext", berichtet Stefan Niggemeier in seinem Blog. (Niggemeier hat den Artikel online gestellt.) "Die taz als eine Art grünes Gegenstück zum Bayernkurier der CSU? Die taz vom vergangenen Dienstag lässt diesen Vorwurf nicht mehr ganz so abwegig erscheinen. Ganz im Stil eines Ronald Pofalla erklärte sie auf ihrer Titelseite die Diskussion um die pädophilen Verstrickungen der Partei in ihren Anfangsjahren für erledigt. 'Aufgeklärt!' jubelte die taz in den Farben und mit dem Logo der Grünen:



Stichwörter: Pohl, Ines, TAZ, Logo, Csu

TAZ, 20.08.2013

Zur Angelegenheit um den gestoppten Pädophilie-Artikel steht in der taz nichts. Die taz-Kultur trauert um die Feministin, Musikerin und Chorleiterin Almut Klotz: Abgedruckt wird ein Interview mit Almut Klotz und ihrem Mann Christian Dabeler, das Julian Weber noch mit den beiden zu ihrem letzten gemeinsamen Album geführt hat. Jenni Zylka schreibt einen Nachruf. Und David Wagner bedankt sich für die schöne Zeit mit dem Popchor Berlin.

Außerdem: Dominik Kamalzadeh resümiert sehr zufrieden Carlo Chatrians erstes Filmfestival in Locarno: "Nicht viele andere Festivals sind derzeit bereit, ähnlich variantenreiche Wettbewerbe zusammenzustellen." Rudolf Walther annonciert ein Schweizer Referendum zu Abschaffung der Wehrpflicht. Lennart Laberenz liest Peter Stamms Roman "Nacht ist der Tag".

Und Tom.

FAZ, 20.08.2013

Es gibt nicht genug Rothkos und Pollocks auf dieser Welt, und so schwer sind sie ja gar nicht zu kopieren. Niklas Maak kommentiert den filmreifen Fälschungsskandal, der jetzt in New York vor Gericht verhandelt wird: "Die anerkannten Werte der Kunstgeschichte sollen die erfundenen Vermögen der Finanzspekulanten realer erscheinen lassen. In diesen überhitzten Tagen schaukeln sich die beiden Großfiktionssysteme der Gegenwart, die Kunst- und die Finanzwelt, gegenseitig hoch: Auch deswegen jagen die Preise für Rothko, Pollock und Kline in atemberaubende Höhen."

Weitere Artikel: Dietmar Dath hört sich ein "Southern Gothic Supernatural Musical Libretto" von Stephen King an, zu dem John Mellencamp die Musik komponiert hat. Paul Ingendaay berichtet über Manifestationen der Krise in Spanien: "Das System der öffentlichen Bibliotheken in Spanien zerbröckelt zu Papierstaub." Gina Thomas begeht den wie ein Klettergerüst aussehenden Serpentine Pavilion von Sou Fujimoto. Jürg Altwegg schildert die Stimmung bei der von François Hollande recht früh angesetzten Rentrée in Paris. Peter Kemper berichtet, das seit der Zerschlagung des EMI-Konzerns besonders in Japan CDs mit Beatles-Raritäten kursieren. Jürgen Kesting sucht beim Rossini-Festival in Pesaro nach neuen Stimmen. Kerstin Holm stellt die russische "Industrieschrottkünstlerin" Anja Scholud (alias Scheludkowskaja) vor, die gerade beim schleswig-holsteinischen Festival "Nord Art" gastiert. Auf der Medienseite schildert Nina Rehfeld den Kult um die Serie "Breaking Bad", deren letzte Staffel in den USA angelaufen ist.

Und Michael Hanfeld hat bei der taz nachgefragt, warum Chefredakteurin Ines Pohl einen Artikel des Journalisten Christian Füller über Pädophilie bei den Grünen aus dem Blatt genommen hat: "Zu dem Vorgang, heißt es auf Anfrage dieser Zeitung von ihrem Büro, wolle sie sich nicht weiter äußern. Die Sache sei in der Redaktionskonferenz ausführlich und sachlich besprochen worden."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Eichmann-Prozess im Kölner NS-Dokumentationszentrum, die Ausstellung "Die Klecksographie" über den Klecks in der Kunst im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, Streichquartette von Dovrak und Smetana, eingespielt vom Tokyo String Quartet und Bücher, darunter Roman Ehrlichs Roman "Das kalte Jahr" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 20.08.2013

Neben den bisherigen wird es ab 1. November auch ein unbestimmtes Geschlecht in den deutschen Personalausweisen geben. Für Burkhard Müller ein Anlass, beim Blick in die Gendertheorie poetisch zu werden: Denn gerade beim anscheinend so eindeutigen Sachverhalt der Geschlechtszugehörigkeit "zeigt sich (...), dass, was am Menschen wie Natur aussieht, es immer nur dem Stoff nach ist, während er alle Form selbst hinzutut: ein Haufen Ton in der Hand des Töpfers, plastisch und verhandelbar. Das Werkzeug zu seiner Gestaltung ist die Sprache (...). Alle Auseinandersetzung der Geschlechter und um das Geschlecht hat sich darum als ein Kampf der Worte vollzogen, genauer: als ein Krieg der Wörter; denn hier wächst dem einzelnen Namen und Begriff überwältigende Macht zu."

Tim Neshitov spürt dem bewusst in Szene gesetzten Motiv der Einsamkeit in den Bildern nach, die Putin von sich lanciert: "Der einsame Wladimir Putin in Petersburg ist eher der Patriarch im Herbst seiner Macht. ... Putin erinnert in seiner politischen Symbolik eher an Monarchen, Bäder in Mengen sind nicht seins."

Außerdem: Kia Vahland amüsiert sich auf Twitter über die Kapriolen von @NeinQuarterly, der mit seinen Darreichungen intellektueller Schwermut über PayPal-Spenden sogar Geld verdient. Eva-Elisabeth Fischer resümiert das Berliner Festival Tanz im August. Joachim Hentschel schreibt den Nachruf auf die Musikerin Almut Klotz, die unter anderem bei den Lassie Singers gespielt hat, mit denen wir zum Abschied noch einmal nach Hamburg fahren:



Besprochen werden die 12. Triennale der Kleinplastik in der Alten Kelter in Fellbach, eine Aufführung von Benjamin Brittens "War Requiem" in Salzburg, das neue Album von Julia Holter (hier im Stream), zwei Mozart-Aufführungen in Innsbruck und Drottningholm und Bücher, darunter Philip Hoares "Leviathan oder der Wal" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Klein eingerückt auf den politischen Seiten eine Korrektur. Die SZ hatte eine Leserbriefseite zu den Problemen der Bahn mit einem Foto der Gleisanlagen von Auschwitz illustriert. "Aufgrund eines redaktionellen Fehlers ist auf der Leserbrief-Seite am Montag zur Illustration der Probleme am Mainzer Hauptbahnhof ein Bild vertauscht worden. Statt des vorgesehenen Fotos wurde ein Bahngleis auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau auf der Seite abgebildet. Wir bedauern diesen Fehler und bitten um Entschuldigung."