Heute in den Feuilletons

Ich sehe den Autor, ich sehe die Überschrift

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.09.2011. taz und Welt (und eigentlich auch alle anderen) erliegen dem traurigen Charme  Aki Kaurismäkis. Der Tagesspiegel hat den Venedig-Sieger schon gekürt. Der Freitag bringt eine Sonderausgabe zum 11. September: Hamed Abdel-Samad beleuchtet darin die Rolle der Medien im Arabischen Frühling. Michael Arrington twittert: "My life feels very strange to me." Und die Zeit beklagt 1. den Kapitalismus, 2. den Totalitarismus der Mittelklasse, 3. das Ende der Kindheit und 4. alles bloß Materielle für nur 4 Euro an führenden Bahnhofskiosken.

Tagesspiegel, 08.09.2011

Besser als Abel Ferraras Altmännerfantasien in "4:44 Last Day on Earth" hat Christiane Peitz in Venedig der chinesische Wettbewerbsbeitrag "People Mountain People Sea" von Cai Shangjun gefallen, dem sie den Goldenen Löwen wünscht: "Ein Rache-Feldzug eines einfachen Arbeiters, er will den Mörder seines Bruders töten. Ein Höllentrip, immer weiter hinunter, zu den Ärmsten der Armen, zuletzt in ein illegales Bergwerk, eine rabenschwarze grausame Welt ohne Hoffnung - die Nachtseite der boomenden Wirtschaftsmacht China. Verbotene Bilder: Manchmal braucht Realismus den Mut, auch auf eigene Gefahr hin zu zeigen, was nicht an die Öffentlichkeit soll."
Stichwörter: Venedig, Ferrara, Abel

TAZ, 08.09.2011

Dominik Kamalzadeh unterhält sich mit Aki Kaurismäki über seinen neuen Film "Le Havre", der in Frankreich spielt und den er selbst ein Märchen nennt. Kaurismäki bekennt darin: "Je skeptischer ich selbst werde, desto optimistischer sind meine Filme. Das ist seltsam, wo ich doch ein zynischer Mensch bin. Ich kann mir keinerlei Zukunft für die Menschheit ausmalen. Doch da ich dieses Faktum akzeptiert habe, dachte ich, man könnte zumindest optimistischere Filme machen." Hier die Besprechung.

Außerdem: Als eine "fast taktile Erfahrung" empfand Cristina Nord in Venedig Andrea Arnolds Bronte-Verfilmung "Wuthering Heights" und Abel Ferraras Wettbewerbsbeitrag "4:44 Last Day on Earth" als "gutes Gegengift gegen die in letzter Zeit so in Mode gekommenen Angstlustfantasien in Sachen Apokalypse". Luisa Degenhard schreibt zum 24. Todestag des Reggae-Sängers Peter Tosh. Auf der Medienseite freut sich Dominik Schottner darüber, dass das US-Kultmagazin Wired ab heute auch in einer deutschen Version erhältlich ist.

Besprochen werden Corinna Belz' "bemerkenswert unfeierliche und aufschlussreiche" Filmdoku "Gerhard Richter Painting" und Mathieu Amalrics Film "Tournee" über fünf New-Burlesque-Tänzerinnen und einen Stripteaseboy.

Und Tom.

Welt, 08.09.2011

Auch Matthias Heine huldigt dem unentrinnbaren Charme Aki Kaurismäkis und seiner traurigen Menschenretter in "Le Havre": "Bei ihm macht Armut nicht hässlich und gemein wie etwa bei Brecht, sondern gut und schön - zumindest innerlich schön, denn die Gestalten in 'Le Havre' tragen meist wieder diese unfassbar skurrilen und zugleich lebensnahen Kaurismäki-Proletarierer-Frisuren."

Weiteres: Lucas Wiegelmann kommentiert den Rückzug von Siemens als Hauptsponsor in Bayreuth. Manuel Brug erzählt, wie die klassische Musik auf Nine Eleven reagierte (nämlich mit viel Kitsch). Wieviel Gleichheit und wieviel Tempolimit müssen wir noch aushalten, will Ulf Poschardt im Interview von dem Theologen Jochen Wagner wissen, wieder und wieder, bis Wagner zurückfragt: "Meinen Sie gar, der Wohl- oder Unwohlstand des Einzelnen sei getreues Abbild seiner Leistung, und die gesellschaftliche Schicht spiegele naturrechtlich das Sein der Person in ihren Werken oder Konsumstandards wieder?"

Freitag, 08.09.2011

Der Freitag bringt eine Sonderausgabe zum Jahrestag des 11. September. Hamed Abdel-Samad schildert darin den Einfluss von Sendern wie Al-Dschasira und Al-Arabiya und des Internets auf den Gang der Dinge: "Alles begann mit einer Handykamera. Die Bloggerin Lina Mhenni postete eine Aufnahme von der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Bouazizi auf Facebook. Al-Dschasira entdeckte die Aufnahme und nahm den Kampf gegen den tunesischen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali auf. In Tunesien war die Zensur viel schlimmer als in Ägypten. Al-Dschasira galt als einzige zuverlässige arabische Informationsquelle und konnte nun den verlängerten Arm der neuen Medien bilden. Die Propaganda von Ben Alis staatlichen Medien verlor an Wirkung."

NZZ, 08.09.2011

Nach zwei Jahren hat sich das Robert-Walser-Zentrum als Institution etabliert, meldet Alexandra von Arx. Bernd Flessner schreibt zu 50 Jahre Perry Rhodan.

Besprochen werden der jetzt auch in der Schweiz anlaufende diesjährige Berlinale-Gewinner "Nader und Simin" von Asghar Farhadi, die Verfilmung von Charlotte Brontës Klassiker "Jane Eyre", eine Studie der Literaturwissenschaftlerin Kerstin Schnoor zum kulturellen und literarischen Leben der deutschen Juden im Nationalsozialimus und Gary Shteyngarts neuer Roman "Super Sad True Love Story" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FR/Berliner, 08.09.2011

Gestern begann das Internationale Literaturfestival in Berlin, der marokkanisch-französische Autor Tahar Ben Jelloun sprach zur Eröffnung recht allgemein über die Aufgabe des Schriftstellers: "Wir sollten uns auch vor jenen hüten, die vorgeben, alles verstanden zu haben, und maßgeschneiderte Erklärungen parat haben. Das sind Fanatiker, Dogmatiker, denn sie leben nur von Gewissheiten. Schreiben bedeutet Zweifeln, ständige Unsicherheit. Wir müssen wissen, dass die Wahrheit rund ist, uns entgeht oder uns Illusionen vorspiegelt. Die Wahrheit wird oft zum Schatten, sie schwebt über unseren Köpfen, und wenn sie hervorbricht, überwältigt uns ihr Licht."

Besprochen werden Mathieu Amalrics Burlesque-Film "Tournee" (den Alexandra Seitz für "ein außerordentlich geglücktes Beispiel für Regie als unsichtbare Kunst" hält), Will Glucks Komödie "Freunde mit gewissen Vorzügen", Corinna Belz' Doku "Gerhard Richter Painting", Rossinis "Petite messe solennelle" in der Version der Berliner Theatergruppe Nico and the Navigators und Erwin Kochs gesammelte Reportagen "Was das Leben mit der Liebe macht" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 08.09.2011

Zwei interessante Tweets vom heutigen Donnerstagmorgen. Gawker meldet, dass Michael Arrington, Gründer des Blogs Techcrunch, gefeuert wurde.



Und Michael Arrginton schickt wenig später folgenden Tweet:

Stichwörter: Blogs, Gawker

FAZ, 08.09.2011

Lena Bopp porträtiert den Kölner palästinensischer Abstammung Abdul-Rahman Alawi, der als Pensionär einen Verlag gegründet hat, in dem er arabische Autorinnen übersetzen lässt: "Fast alle weben, mal mehr, mal weniger direkt, die besondere Situation der Frauen in die Erzählungen ein. Den Vorwurf, welcher der deutschen Gegenwartsliteratur gern entgegengebracht wird, dass sie sich nämlich zu wenig für gesellschaftspolitische und zu viel für persönliche Belange interessiere, kann man dieser Prosa jedenfalls nicht machen." (Mehr zum Verlag, der zur Zeit leider keine funktionierende Internetadresse hat, im Deutschlandradio)

Weitere Artikel: Impressionen vom Beginn der Shoppingsaison in Moskau liefert Kerstin Holm. Warum die Tatsache, dass es einer neuen Studie zufolge siebeneinhalb Millionen Analphabeten in Deutschland gibt, kaum Aufregung verursacht, kann Regina Mönch in der Glosse nicht recht begreifen. In Venedig hat Dietmar Dath in den letzten Tagen vor allem Andrea Arnolds "Wuthering Heights"-Verfilmung gefallen, in der Heathcliff als Schwarzer besetzt ist. Der linke und christliche CDU-Mann Norbert Blüm hält seiner Partei eine kleine Predigt, in der er das christliche Moment anmahnt: "Die Trinität, die in der neoliberalen Wirtschaftsreligion verehrt wird, heißt: Kostensenkung, Privatisierung, Deregulierung." Wie Angela Merkel gestern im Bundestag das eine ("Krise") und das Gegenteil auch ("Weiter so") zu sagen hatte, beschreibt Jürgen Kaube als neues Zeichen für die Krise "der politischen Rede". Dieter Bartetzko erfreut der Blick durch den Bauzaun aufs Frankfurter Städel.

Auf der Kinoseite vermeldet Verena Lueken das Ausreiseverbot für den iranischen Regisseur Mojitaba Mirtahmasb, der in Cannes noch seinen mit Jafar Panahi gedrehten Film "This Is Not a Film" vorstellen konnte. Eine Reihe mit marokkanischen Filmen im Berliner Arsenal resümiert Hans-Jörg Rother. Auf der Medienseite erklären sich Harald Schmidt und sein Produzent Fred Kogel zu Schmidts SAT.1-Rückkehr: Einspieler werden weniger wichtig, "zentral sind die Elemente Stand-up, Tisch, Musik, Gast".

Besprochen werden Konzerte des Berliner Musikfests, die Ausstellung zur Geschichte des deutschen P.E.N. in der Heinrich-Böll-Stiftung, zu deren Eröffnung auch Liao Yiwu zugegen war, zwei neue Einspielungen von Instrumentalmusik Jean-Philippe Rameaus und Bücher, darunter Jens Steiners Debütroman "Hasenleben" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.09.2011

In einem sehr zur Sprunghaftigkeit neigenden Interview mit Christopher Keil erklärt der jetzt wieder bei Sat.1 latenighttalkende Harald Schmidt, was ist, wird und kommt. Und auf die Frage nach seinem Medienjunkietum meint er: "Stark reduziert, ich bin zehn Jahre weiter, das heißt: Ich sehe den Autor, ich sehe die Überschrift, dann weiß ich, was kommt und spare mir den Artikel. Das geht alles wesentlich schneller als früher."

Weitere Artikel: In einem knappen Kommentar zur Verlängerung der Schutzfrist für Musikaufnahmen von fünfzig auf siebzig Jahre versucht Jens-Christian Rabe den Spagat zwischen Kritik an Politik ("Kniefall vor den Konzernen") und Commons-Aktivisten ("das geht deutlich zu weit"). Von Weltuntergang um Punkt 4:44 Uhr bei Abel Ferrara und einem schwarzen Heathcliff bei Andrea Arnold weiß Susan Vahabzadeh aus Venedig zu berichten. Catrin Lorch stellt Philipp Kaiser vor, den neuen Leiter des Museum Ludwig in Köln. Das in seiner Geburtsstadt Ornans eröffnete Museum für Gustave Courbet hat Christine Tauber besucht. Jens Bisky resümiert das nicht ganz unerfolgreiche Wirken des Berliner Kultursenators Klaus Wowereit (und vor allem seines Staatssekretärs Andre Schmitz), hält aber auch fest, dass weder Politiker noch Künstler gut vorbereitet sind auf das Ende der "komfortablen Zeiten". Andererseits: "Soll alles, was einmal seine Zeit hatte, auf ewig erhalten werden? Darf in der Kultur nichts enden?" Von der Münchner Ausgabe des Fantasy Filmfest berichtet Hans Schifferle. Anke Sterneborg spricht eine Spalte lang mit Aki Kaurismäki zum Start seines neuen Films "Le Havre". Jürgen Berger hat das Osnabrücker Theaterfestival "Spieltriebe", Bernd Graff die "Ars Electronica" in Linz besucht. 

Besprochen werden Mathieu Amalrics New-Burlesque-Film "Tournee" und Bücher, darunter Gregor Sanders Erzählungsband "Winterfisch".

Zeit, 08.09.2011

Leser, das Ende naht! Rettet die Kindheit, ruft es auf Seite 1 der Zeit. Hacker heben die Internetwelt aus den Angeln, warnt die Wirtschaft. Unsere kapitalistische Zukunft ist Krieg, sind sich Arundhati Roy und Iris Radisch im Feuilletongespräch einig: Im Moment herrsche noch ein "Mittelklasse-Totalitarismus", aber die Zukunft - "das werden Kriege der Eliten gegen die Armen sein." Und zwar überall: "In Europa, in Amerika, in China, in Indien gibt es eine Elite, die nur noch nach unten kämpft. Ihr geht es um Herrschaft, um Realpolitik, um Energie. Woher nimmt China seine Rohstoffe, um seine Wachstumsmaschine immer weiter zu füttern? Es wird Krieg dafür führen müssen. Woher nimmt Indien seine Rohstoffe? Im Augenblick von seinen Ärmsten in den Wäldern."

Weitere Artikel: In Cannes hat Katja Nicodemus einen "cineastischen Meteoriten" einschlagen gesehen: Sono Sions apokalyptischen Film "Himizu". Abgedruckt wird ein Auszug aus Nina Pauers Buch "Wir haben keine Angst" über die Neurosen der Dreißigjährigen, die ein Leben als permanente Castingshow führen. Der Jurist Reinhard Merkel glaubt, dass der UN-Sicherheitsrat den Nato-Einsatz in Libyen nicht hätte autorisieren dürfen. Thomas Groß trifft den von Alzheimer gezeichneten Countrysänger Glen Campbell, der mit "Ghost on the Canvas" ein letztes Album herausgegeben hat. Peter Kümmel wünscht sich für die nächste Theatersaison weniger Zombis und mehr Feuer auf den Bühnen. Martin Tschechne kündigt ein neues Projekt des Künstlers Christo an: die Verhüllung des Arkansas River.

Besprochen werden unter anderem Sibylle Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" und etliche Neuerscheinungen zum 11. September (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).