Heute in den Feuilletons

Na logo! Da kiekste! Ick sach dir!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.09.2011. Der Freitag beobachtet die Dreharbeiten zu David Cronenbergs Film über Freud, Jung und Spielrein im Wiener Cafe Sperl. Die Sparlampe lügt und ihre Propagandisten auch, stellt die taz fest. Brillant findet die FAZ Ai Weiweis Analyse von Peking als "Stadt der Gewalt". In der SZ kritisiert der Historiker Peter Jahn Günter Grass, der in Haaretz behauptet hat, sechs Millionen deutsche Kriegsgefangene seien von den Sowjets liquidiert worden. Die Zeit sieht unsere Demokratie abgeschafft.

Freitag, 01.09.2011

Michael Omasta beobachtete die Dreharbeiten in Wien zu David Cronenbergs neuem Film "Eine dunkle Begierde" um Jung (Michael Fassbender), Freud (Viggo Mortensen) und Sabina Spielrein (Keira Knightley). Eine Szene im Cafe Sperl: "Freud hat eine Tasse schwarzen Kaffees vor sich, Jung bearbeitet mit einer Gabel eine Sachertorte. Er habe ja keine Ahnung, warnt Freud den Freund, auf welch erbitterten Widerstand ihre Arbeit stoßen werde; nicht zuletzt käme es ihren Feinden zupass, dass die Mitglieder des psychoanalytischen Kreises in Wien allesamt Juden seien. Jung sagt, er verstehe nicht, welchen Unterschied das mache. Freud blickt Jung kurz prüfend an, der aber schaut ganz arglos drein, besonders jetzt, mit seinem aparten Bärtchen aus Schlagsahne. 'Das, mein Lieber, ist eine wahrhaft protestantische Bemerkung.'"

Was hat Klaus Wowereit, was Renate Künast nicht hat, fragt Jana Hensel (mehr) angesichts der wachsenden Probleme Berlins und der sinkenden Popularität der Grünen. Die Antwort ist wohl: enorme Dehnbarkeit. "Einer wie Klaus Wowereit, das sieht man auf dem Familienfest in Lübars sehr genau, ist für die Ur-Berliner einer von ihnen. Na logo! Da kiekste! Ick sach dir! Wowereit selbst jedenfalls setzt seinen Dialekt sehr gekonnt ein, wenn er mit den Omas aus Reinickendorf flirtet. Diese Klaviatur will gespielt sein: einerseits sein kleinbürgerliches Milieu verlassen, es bis ins Rote Rathaus beziehungsweise die Talkshow schaffen, andererseits bei den einfachen Leuten nicht als Verräter empfunden zu werden, keinen Sozialneid hervorzurufen."

Und: Ohne Sentimentalität, aber auch nicht ohne Sympathie blickt Michael Angele auf den prekären Akademiker Stolzenburg in Christoph Heins Roman "Weiskerns Nachlass".

NZZ, 01.09.2011

Gabriele Detterer hat in der Kunsthalle Baden-Baden die Ausstellung "Geschmack" besucht und unter anderem gelernt, dass "die Akzeptanz von bad taste allerlei Firlefanz in den Reigen teurer Kunst aufnimmt. Wie das? 'Blocker', die eine spontane negative Reaktion auf Kitsch, Tand und deplaciert Hässliches der contemporary art paralysieren, bestehen aus Visionen und vorausberechnendem Kalkül. Ob man Geschmack an einem Kunstwerk findet oder nicht, bemisst sich eben auch danach, so Pierre Bourdieu, welche Beziehungen sich zwischen dem materiellen Wert des Kunstwerks und dem möglichen kulturellen Gewinn und sozialen Distinktionsvorteil ergeben könnten."

Weiteres: Peter Hagman porträtiert den scheidenden Intendanten der Salzburger Festspiele Markus Hinterhäuser. Besprochen werden Celine Sciammas Film "Tomboy" hat, Andres Veiels RAF-Drama "Wer wenn nicht wir" und Henry Roth' Roman "Ein Amerikaner" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR/Berliner, 01.09.2011

Sehr gelungen fand Anke Westphal George Clooneys Politthriller "The Ides of March", mit dem gestern das Filmfestival von Venedig eröffnet wurde: "Politik hat mehr mit Intrigen, einem faulen Loyalitätsbegriff und folglich Paranoia zu tun als mit der Regierbarkeit eines Staates - so das Fazit von Clooneys Film. Die Demokraten kommen hier nicht besser weg als die Republikaner, bei denen sie nach Dreck wühlen: Hat deren Kandidat nicht Aktien an einer bösen libyschen Diamantenmine? Die kalte Pragmatik, mit der die Figuren ihre Zwecke superorganisiert verfolgen, lässt einen als Zuschauer atem- und fassungslos."

Außerdem: Georg Imdahl erzählt zum heutigen Prozessbeginn in Köln die Geschichte der Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi, seiner Frau Helene und Otto Schulte-Kellinghaus. Paul Nolte beschreibt die deutsche Sehnsucht nach Ordnung vom Kaiserreich bis heute.

Besprochen werden Aleksej Popogrebskijs Film "Russische Zeitenwende" und Jürgen Dehmers Buch über den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule, "Wie laut soll ich denn noch schreien?" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 01.09.2011

"Es lügt eben nicht nur das Licht der Sparlampe, es lügen auch ihre Propagandisten", stellt Brigitte Werneburg nach Lektüre einer Studie zum Thema fest: "Zu Recht nennen Thomas Worm und Claudia Karstedt ihre Untersuchung 'Lügendes Licht'. Denn wenig ist wahr von dem, was die Sparlampe verspricht. Zuerst lügt gleich einmal ihr Licht. Da ihr Spektrum diskontinuierlich ist, mit energiereichem Blau- und abgeschwächtem Rotbereich, verfälscht sie Farben grundsätzlich und gravierend. Das hat gesundheitliche Auswirkungen, beim Essen schlägt die Farbverfälschung buchstäblich auf den Magen. Vor allem hat es aber ästhetische Auswirkungen. Wir sehen die Dinge nicht mehr im rechten Licht."

Weitere Artikel: Cristina Nord sah in Venedig George Clooneys "soliden" Eröffnungsbeitrag "The Ides of March" und Frederick Wisemans "unbedingt sehenswerten" Dokumentarfilm über den Pariser Nachtclub "Crazy Horse". Jörg Sundermeier informiert über den Verkauf der Zeitschrift Literaturen an Ringier; sie wird künftig fünfmal im Jahr als Beilage von Cicero erscheinen. In DVDesk geht's um Mani Ratnams Film "Raavanan". Gabriele Lesser berichtet vom Warschauer Singer-Festival, das sich in diesem Jahr auch auf die Spuren des jüdischen Warschaus begibt. Corinna Stegemann unterhält sich mit Klaus N. Frick, dem Chefredakteur der Science-Fiction-Serie um den Weltraumhelden "Perry Rhodan", die jetzt 50 wird, über Unsterblichkeit, Frauenklischees und bürgerliche Kritik an Unterhaltungsliteratur.

Außerdem gibt es heute eine siebenseitige Beilage zum Thema türkische Einwanderer in Deutschland.

Besprochen werden das neue Album des Londoner Produzenten SBTRKT, Wolfgang Murnbergers Nazi-Filmkomödie "Mein bester Feind" (deren schenkelklopfender Humor Dietrich Kuhlbrodt abgestoßen hat), Ruba Naddas Film "Cairo Time", die DVD von Mani Ratnams Verfilmung des großen indischen Nationalepos Ramayana "Raavanan" und die Studie "Lügendes Licht. Die dunklen Seiten der Energiesparlampe" von Thomas Worm und Claudia Karstedt (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

Welt, 01.09.2011

Wieland Freund sieht mit dem Ipad auch das Ende des PCs und der Gutenberg'schen Schriftgalaxie heranrücken: "Das iPad verfügt nur noch über eine simulierte Tastatur und unter dem Glas des Touchscreens wirkt sie schon jetzt wie ein Museumsstück in einer Vitrine."

Weiteres: Gut gefallen hat Peter Zander George Clooneys in Venedig gezeigter Film "The Ides of March" mit Ryan Gosling: "Keiner in Hollywood ist derzeit so blond, so blauäugig und so gefragt wie er." Richard Kämmerlings glaubt nicht wirklich, dass Wolfgang Herles mit seiner neuen Büchersendung die zerrüttete Beziehung von Literatur und Fernsehen wieder kitten kann. Jenny Hoch feiert erwartungsgemäß den ersten Roman des Berliner Anwalts und Autors Ferdinand von Schirach. Hanns-Georg Rodek informiert über Streitigkeiten zwischen Defa-Stiftung und ihrem bisherigen Vermarkter, dem Progress-Verleih.

Besprochen werden Paul W.S. Andersons 3D-Version der "Drei Musketiere" und die Nazi-Komödie "Mein bester Feind", natürlich mit Moritz Bleibtreu.

Aus den Blogs, 01.09.2011

Bei PCL Linkdump finden wir ein tolles japanisches Beatpop-Video von 1967:

Stichwörter: 1967

FAZ, 01.09.2011

Äußerst beeindruckend findet Mark Siemons einen Text von Ai Weiwei, in dem dieser brillant seine Ratlosigkeit analysiert: "Die Beschreibung Pekings als einer 'Stadt der Gewalt', in der sich keiner um den anderen kümmert und die Schwächsten, die Wanderarbeiter, ihrer Verzweiflung überlassen sind, während die Starken an ihnen verdienen, geht nahezu unvermittelt in diese Schilderungen der eigenen Haft über. Es ist, als gehe es um ein und denselben Ort: einen Ort der völligen Beziehungslosigkeit, an dem die Dinge und die Menschen selbst jede Erinnerung, jedes Eigen-Sein verloren haben." 

Weitere Artikel: Die Filmfestspiele von Venedig haben begonnen. Und Dietmar Dath ist jetzt FAZ-Filmredakteur und schreibt über den "erzkonventionellen und eben darum hochachtbaren" Eröffnungsfilm, George Clooneys "Iden des März", in dem es um schlimme Machenschaften bei den Demokraten geht. Jürgen Kaube schüttelt den Kopf über die "Medienmachtanmaßungsohnmacht" in den Fällen Lahm und Westerwelle. Niklas Maak hat die "Vernissage" des Berliner Landeskriminalamts besucht, bei der zum Prozessauftakt die so überzeugend gefälschten Werke der "Sammlung Jägers" gezeigt wurden. Über Denkmalpflegerstreit am aktuellen Beispiel des Pariser Hotel de Sully berichtet Sabine Frommel. Eher als Exempel fürs Elend der "Reproduktionsmedizin" denn als literarisches Werk nimmt sich Christian Geyer den von einem pseudonymen Autor namens Felix Wegener verfassten Roman "Nichtschwimmer" (der Titel bezieht sich auf des Erzählers lahme Spermien) vor. Auf der Medienseite bemüht sich Detlef Borchers um Klärung der Hintergründe zur bei Wikileaks wohl außer Kontrolle geratenen und im Netz auffindbaren Datei mit den Botschaftsdepeschen.

Besprochen werden ein Kölner Konzert der Red Hot Chili Peppers, die Storyboard-Ausstellung "Zwischen Film und Kunst" in der Deutschen Kinemathek in Berlin, John Hiatts neues Album "Dirty Jeans and Mudslide Hymns", das Computerspiel "Harveys neue Augen", Drew Barrymores Regiedebüt "Roller Girl" (mehr), Giuseppe Piccionis Melo "Giulia geht abends nie aus" (mehr) und Bücher, darunter Willem Frederik Hermans' Novelle "Das heile Haus" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 01.09.2011

Scharf kritisiert der Historiker Peter Jahn Günter Grass, der in einem Haaretz-Interview mit Tom Segev etwas von sechs Millionen in Sowjetgefangenschaft liquidierten Deutschen schwadronierte: "Indem aus einer Million an Hungerfolgen Gestorbenen sechs Millionen von den Russen ermordete Deutsche phantasiert werden, stehen bei Grass der Völkermord an den Juden und das deutsche Leiden auf einer Stufe. Damit ist er zum deutschen Bild der fünfziger Jahre zurückgekehrt... Zwischen Völkermord an den Juden und deutschem Leid findet sich nichts weiter: kein Vernichtungskrieg, nicht die Hunderte samt ihren Einwohnern verbrannten Dörfer, keine zum Hungertod bestimmten Einwohner Leningrads (mindestens 800 000 starben), keine sowjetischen Kriegsgefangenen."

Weitere Artikel: Einen "starken Auftakt" hat Tobias Kniebe bei den Filmfestspielen von Venedig mit George Clooneys Politdrama "Die Iden des März" erlebt. Von neuen Diskussionen zum Thema "Gleichheit" in Frankreich berichtet Joseph Hanimann. Mitprotokolliert findet sich das "Gespräch" (hier im Bild), das soeben zwei Chatbots miteinander führten. (David Mamet sollte sich vielleicht Sorgen machen um sein Monopol auf absurde Haarscharf-aneinander-vorbei-Dialoge.) In der Reihe über "Verschollene Länder" befasst sich Burkhard Müller mit der mirditischen Republik. Jens Malte Fischer gratuliert der Sopranistin Julia Varady zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Walter-Gropius-Ausstellung in der Stiftung Moritzburg in Halle, neu anlaufende Filme, darunter Veit Helmers "Baikonur" (mehr) und Wolfgang Murnbergers Nazikomödie "Mein bester Feind" (mehr) und Bücher, darunter Eugen Ruges Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 01.09.2011

Im Dossier beobachtet Jörg Burger, wie ein Berliner Galerist versucht, Kunst an den reichen Mann zu bringen, zum Beispiel einen Düsseldorfer Immobilienentwickler: "'Der Preis ist Respekt', ruft er in die Runde. 'Hat mir der Neo mal gesagt.'"

Das haben wir nun vom Wegfall der Systemkonkurrenz: entfesselte Märkte, ruft Jens Jessen im Aufmacher des Feuilletons. "Eine Demokratie, die sich darauf beschränkt, Rauchverbote in Gaststätten zu erlassen oder die Helmpflicht von Radfahrern zu diskutieren, also dem gegenseitigen Gängelungsverhalten der Bürger nachzugeben, aber die eine große Macht, die alle gängelt, nicht beherrschen kann, ist das Papier nicht wert, auf dem ihre Verfassung gedruckt ist."

In einem sehr launigen Gespräch unterhalten sich Fußballspieler Philipp Lahm und Schriftsteller Moritz Rinke über die Dramatik bei Aristoteles und Jogi Löw, über Figurenexposition und einen guten Schluss: "Lahm: Kann man bei einem Text in der 89. Minute noch was reißen, wenn Du unzufrieden?" Rinke: "Eigentlich nicht. Vielleicht hohe Bälle."

Weiteres: Thomas Groß begibt sich mit Polizeireporter David Simon auf die Straßen von Baltimore und lässt sich die Regeln des Morddezernats erklären: "Als Ermittler muss man nicht nur einen Tatort betrachten können wie ein abstraktes Gemälde, man muss auch die Gesetze der Befehlskette zu lesen wissen." Peter Kümmel reist mit der Regisseurin Yael Ronen durch Israel, die sich mit ihrem neuen Stück "The Day Before the Last Day" und einer deutsch-israelisch-palästinensischen Truppe dem religiösen Wahn widmet. Ulrich Greiner gratuliert Fritz J. Raddatz zum Achtzigsten. Im Interview spricht der Anwalt und Autor Ferdinand von Schirach über seinen neuen Roman "Der Fall Collini", der auf einem Justizskandal von 1969 beruht. Katja Nicodemus trifft den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki.

Besprochen werden das neue Album "I'm With You" der Red Hot Chili Peppers und Bücher, darunter Navid Kermanis Großroman "Dein Name" und Eugen Ruges "In Zeiten des abnehmenden Lichts" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).