Heute in den Feuilletons

Ihre Hoheit, Madame la Banque

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2009. In der Welt empfiehlt Wolf Lepenies gegen die Krise einen guten Balzac. Marek Janowski soll das neue Berliner Superorchester leiten, aber er will gar nicht, meldet der Tagesspiegel. Die Blogs reiten auf der Google Wave mit Echtzeitsuche ins All. Die Berliner Zeitung berichtet: Bertelsmann wird jetzt Buchhändler. In der taz reicht Südkorea Nordkorea die Medikamente. FR und FAZ bringen Herta Müllers Nobelvorlesung: "Hast du ein Taschentuch, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor..."

FR, 08.12.2009

Online veröffentlicht ist die Nobelvorlesung, die Herta Müller in Stockholm gehalten hat. Hier der Anfang: "HAST DU EIN TASCHENTUCH, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Ich hatte keines. Und weil ich keines hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Taschentuch. Ich hatte jeden Morgen keines, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Das Taschentuch war der Beweis, daß die Mutter mich am Morgen behütet. In den späteren Stunden und Dingen des Tages war ich auf mich selbst gestellt. Die Frage HAST DU EIN TASCHENTUCH war eine indirekte Zärtlichkeit. Eine direkte wäre peinlich gewesen, so etwas gab es bei den Bauern nicht. Die Liebe hat sich als Frage verkleidet. Nur so ließ sie sich trocken sagen, im Befehlston wie die Handgriffe der Arbeit. Daß die Stimme schroff war, unterstrich sogar die Zärtlichkeit."

Außerdem: Christoph Schröder war bei einer Lesung Herta Müllers in Tübingen. Martin Altmeyer berichtet über den Kongress "Rückkehr der Gesellschaftstheorie" mit Ulrich Beck, Axel Honneth und Jan Philipp Reemtsma an der Frankfurter Universität. Peter Neitzke beschreibt das ziemlich grauenhaft klingende Programm des Parametrismus, der laut Patrik Schumacher, Partner von Zaha Hadid, der "neue 'International Style' der zeitgenössischen Architektur" werden will (mehr im aktuellen Heft von Arch+). In Times Mager denkt Hans-Jürgen Linke anlässlich der geplanten Zusammenlegung von DSO und RSO über weitere kostensparende Synergien nach: zum Beispiel die Zusammenlegungen der Regierungen in Berlin und Potsdam.

Besprochen werden die Uraufführung von John Neumeiers Choreografie "Orpheus" (sehr zeitgemäß: "Gerade haben Nutten ihm noch mitleidig ein paar Cent in den Geigenkasten geworfen, da wird Straßenmusiker O. schon zum Star", erzählt Sylvia Staude), Dimiter Gotscheffs Inszenierung von "Ödipus, Tyrann" im Hamburger Thalia Theater ("Wer schon mal einen gesehen hat, der fragt sich, ob er viel mehr als ein Selbstzitat ist", meint Frauke Hartmann) und einige lokale Ereignisse in Frankfurt.

Im Aufmacher der heutigen Literaturbeilage bespricht Ina Hartwig die Briefe von Ensslin und Vesper (wir werten die Literaturbeilage in den nächsten Tagen aus.)

Welt, 08.12.2009

Wolf Lepenies empfiehlt gegen die Finanzkrise, Balzac zu lesen: "Neben dem Verlust der alten Glaubensgewissheiten ist der Siegeszug des Geldwesens für Balzac der wesentliche Zug der Zeit. Die Gegenwart wird beherrscht von der 'Allmacht, Allwissenschaft und Allgültigkeit' des Geldes. In der Mitte des 19. Jahrhunderts tritt eine neue Großmacht auf den Plan, gestärkt wie durch ein weltliches Gottesgnadentum: 'Ihre Hoheit, Madame la Banque'. Madame vertritt eine neue Politik - es ist die Politik, die in Zukunft zählen wird: 'die hohe Politik des Geldes'. Bankiers und das Bankenwesen spielen in der 'Menschlichen Komödie' eine zentrale Rolle. Zwei Milieus stehen sich dabei gegenüber: die Finanzwelt und die Realwirtschaft. Der Jäger, so Balzac, gehört dabei nicht der gleichen Familie an wie das Wild. Die Häuser und die Fabriken, die Grundstücke und die Äcker, die Läden und die Geschäfte, die Händler, Handwerker und Rentiers sind für die Finanz-Jongleure das Terrain ihrer möglichen Opfer, sie sind ein Jagdgrund. Die Finanzwelt will dabei alles sein, nur nicht bürgerlich."

Außerdem: In der Randglosse fasst Marko Martin die Aufgeregtheiten vom Fußballwochenende in Kapstadt zusammen. Dankwart Guratzsch hat den ersten Gottesdienst im Rohbau der Leipziger Paulinerkirche als Demonstration erlebt. Besprochen werden John Neumeiers Choreografie "Orpheus" in Hamburg, Dimiter Gotscheffs Wortoper "Ödipus, Tyrann" im Hamburger Thalia Theater und eine Ausstellung zu Romy Schneider im Berliner Filmmuseum.

NZZ, 08.12.2009

Auf der Medienseite wirft (noch nicht online) Heribert Seifert in einer ganzseitigen Generalabrechnung deutschen Zeitungen einen "grobschlächtig-pauschalen Positivkult um das Fremde" vor: "Wie die Schweizer Abstimmung zeigt, kann das dazu führen, dass sich diffuser Zorn auf einem sachlich denkbar ungeeigneten Feld entlädt."

Für das Feuilleton meldet Marion Löhndorf aus London, dass die Kunst dort massenfernsehtauglich geworden ist: In der Castong-Show "The School of Saatchi" dürfen gerade sechs Künstler um die Gunst des Sammlers und Werbemoguls wetteifern. Günter Seufert schildert, wie in der Türkei pünktlich zu Atatürks alljährlich betrauertem Todestag am 10. November ausgerechnet die Nationalisten den Landesvater in Misskredit bringt, indem sie stolz an seine Massaker unter alevitischen Kurden erinnern.

Besprochen werden Margarethe von Trottas Film über das Leben der Hildegard von Bingen, Haydns "Il mondo della luna" mit Nikolaus Harnoncourt im Theater an der Wien, Eileen Changs Roman "Das Reispflanzerlied", J. M. G. Le Clezios Roman "Lied vom Hunger" und Juri Andruchowytschs Gedichte "Werwolf Sutra"

Berliner Zeitung, 08.12.2009

Eine Revolution im Bertelsmann Buchclub annonciert Jörg Sundermeier. Es werden ganz normale Buchläden draus. Die Filiale im Berliner Europacenter macht es vor: "Sie ist komplett neu gestaltet, ein warmes Lila bildet die Grundfarbe, und die Lizenzausgaben des Clubs liegen friedlich Seit an Seit mit aktuellen Bestsellern, Ratgebern und Hörbüchern." Die Filialen firmieren unter dem Namen "Zeilenreich".

Aus den Blogs, 08.12.2009

(Via Blogschau) Ganz Norwegen hat die Geschichte der 18-Jährigen Regine Stokke verfolgt, die in ihrem Blog ihre Krebserkrankung protokollierte - bis sie letzte Woche starb, berichtet John Einar Sandvind in seinem blog BetaTales. Aus ihrem letzten Eintrag: "I can die at any moment now... I have never been so sick in my whole life, and it is an incredibly scary feeling. But at least I am less scared of death now than before. Maybe it is because I am so exhausted and have so much pain."

(Via Gizmodo) Google stellt in einem Youtube-Video die kommende Echtzeitsuche vor, die die Google-Suche von Grund auf ändern wird. Sie soll bereits in einigen Tagen eingeführt werden.



Das ist das Virgin Galactic's SpaceShipTwo mitsamt Mutterschiff, das erste kommerzielle Raumschiff, für reiche Touristen, die die Erde von außen sehen wollen. Gizmodo präsentiert die ersten Fotos.



Das höchst ambitionierte Programm Google Wave, das an die Stelle der E-Mail treten soll, ist bisher eine Enttäuschung, meint MG Siegler in Techcrunch:"Luckily for the Wave team, they have Google backing them. If Wave were a startup, they?d likely be in some trouble right now trying to figure out how best to position themselves. But with Google?s resources, Wave can take its time to find its audience, and most importantly, to let developers build things on top of it." Das Read WriteWeb sieht Wave als einen der "zehn Flops des Jahres".

Gawker hat sich in eine französische Band verliebt, Phoenix, woraufhin die Leser eine schöne Kollektion ihrer französischen Lieblings-Musikvideos zusammengestellt haben.

Tagesspiegel, 08.12.2009

Mit einer Online-Petition und einem recht modern gestalteten Blog wehrt sich das Deutsche Symphonie-Orchester gegen seine geplante allmähliche Abschaffung unter dem Dach des Rundfunksinfonieorchesters, berichtet Jörg Königsdorff, der das erste Konzert des Orchesters nach Bekanntwerden des Plans besuchte. Auch Marek Janowski, der das fusionierte Orchester leiten soll, hat sich mit einer schriftlichen Stellungnahme gemeldet - gegen den Plan: "Sein bis Sommer 2016 laufender Vertrag gelte allein für das RSB, dessen künstlerischer Weiterentwicklung sein 'absolut vorrangiges Interesse' gelte. Er sei über die mittelfristigen Finanzierungsprobleme der ROC informiert, hoffe aber, dass eine Lösung gefunden werden kann, die dem RSB wie auch dem von Janowski 'hoch respektierten' Deutschen Symphonie-Orchester (DSO) langfristige Perspektiven eröffnet."

TAZ, 08.12.2009

Benno Schirrmeister ist hin und weg von den Gemälden Sunmus, die gerade in einer Ausstellung über koreanische Gegenwartskunst im Kunstverein Hildesheim gezeigt werden. Sunmu hat den nordkoreanischen Diktator Kim gemalt, obwohl das eigentlich auch in Südkorea verboten ist. "Überhaupt erklären!, wie erklärst du etwas, was dich begeistert? Es fehlen ja doch die Farben in der Sprache, und die Farben sind schon alles: diese irre Fläche in zuckersüßem Mangarosa und dagegen das zarte Apricot der Bettdecke! Links vorne kniet ein kleines Mädchen in einer südkoreanischen Schuluniform am Krankenlager des Generalsekretärs der Partei der Arbeit. Sein Gesicht, gemalt, so wie die Propagandabilder es transportieren, ist seitlich gekippt: Der große Kopf ruht auf einer leuchtend roten Kissenrolle. Die ist an ihrem linken Ende mit dem Wappen der Partei verziert, Hammer, Sichel und Pinsel, und der Tropf, an dem der Kim Jong Il hängt, trägt als Etikett die Flagge Nordkoreas. Das Mädchen aber dient ihm eine Coca-Cola-Flasche an, eine weitere, mit Adidas-Logo bedruckt, steht bereit. 'Bitte nehmen Sie Ihre Medikamente' ist Karikatur und die aktuelle Reprise einer buddhistischen Teezeremonie." (Bild 3)

Weitere Artikel: Aram Lintzel sieht die Primetime des schwarz-gelben Projekts schon überschritten. Eva-Christina Meier schickt einen Brief aus Chile, wo die Kunstszene für die für die Unterstützung der KP bei der anstehenden Präsidentenwahl mobilisiert.

Besprochen werden Tatjana Trouves Ausstellung "A Stay Between Enclosure and Space" im Migros-Museum in Zürich und Wolfgang Englers Buch "Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 08.12.2009

Leicht gekürzt abgedruckt wird Herta Müllers Nobelvorlesung, vollständig steht sie bei faz.net. Vor der Zeremonie in Stockholm am Donnerstag würdigt Felicitas von Lovenberg die Noblepreisträgerin außerdem auf Seite 1 der Zeitung.

Weitere Artikel: Andreas Kilb erklärt zum wiederholten Male, dass dringlicher als Schlossbaudiskussionen die Debatte über das Konzept des Humboldt-Forums wäre, das für Kilb auf eine "geschichtspolitische Nullnummer" hinausläuft. In der Glosse referiert Jürg Altwegg Klagen über die Degradierung des Fachs Geschichte zum Wahlfach in weiten Teilen der gymnasialen Oberstufe in Frankreich. Ingeborg Harms folgt in ihrer "Aus deutschen Zeitschriften"-Kolumne unter anderem William James und dem Metrum. Auf einer ganzen Seite gibt es Listen mit von FAZ-RedakteurInnen geschätzten Büchern des Jahrs 2009. Auf der Medienseite stellt Thomas Scheen die durchaus regierungskritische Zeitung The Namibian (Website) und ihre Macherin vor.

Besprochen werden Günter Krämers Frankfurter Inszenierung von Ödön von Horvaths "Geschichten aus dem Wiener Wald" und neue Stücke vom Choreografen Michael Clark im Haus der Berliner Festspiele.

SZ, 08.12.2009

Jens Bisky berichtet über eine Frankfurter Tagung zu Grundbegriffen der Sozialwissenschaft ("Risiko", "Anerkennung", "Gewalt"), bei der die drei Titanen Ulrich Beck, Axel Honneth und Jan Philipp Reemtsma gleichzeitig anwesend waren. Susan Vahabzadeh läutet den Beginn einer krisengezeichneten Oscar-Saison ein, nennt einige Kandidaten und konstatiert, dass viele der Favoriten europäisch kofinanziert sind. Johan Schloemann resümiert dänisch-schwedische Verstimmungen um ein Urdokument der dänischen Geschichte, ein Manuskript mit dem "Jütischen Landrecht", das in schwedischen Depots lagert und das dänische Chauvinisten gerne zurück hätten. In der "Zwischenzeit" erzählt Joachim Kaiser, wie Goethe in einem Gespräch über Musik einmal schrecklich dogmatisch wurde. Gottfried Knapp gratuliert dem Maler Arnulf Rainer zum Achtzigsten. Jörg Königsdorf zeichnet ein Profil des neuen Chefs der Berliner Opernstiftung, Peter F. Raddatz. Der Sprachwissenschaftler Henning Lobin antwortet auf die kulturkritischen Erwägungen Thomas Steinfelds über die Powerpoint-Rhetorik (die Steinfeld als Ausdruck des "Totalitarismus einer ökonomischen Weltanschauung" entlarvte). Auf der Literaturseite setzt sich der Brüssler Politologe Francis Cheneval ohne erkennbaren Anlass mit den politischen Theorien des in Florenz lehrenden Philosophen Furio Cerutti auseinander.

Besprochen werden eine große Laszlo Moholy-Nagy-Ausstellung in Frankfurt, Ereignisse des Theaterfestivlas Spielart in München, John Neumeiers Hamburger "Orpheus"-Ballett und Bücher, darunter William Boyds Roman "Einfache Gewitter".

Außerdem gibt?s eine vorweihnachtliche Literaturbeilage. Aufmacher sind Walt Whitmans "Grasblätter".