Heute in den Feuilletons

Mal sehen, was wird

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2008. In der NZZ spricht Büchnerpreisträger Josef Winkler über die Schwierigkeit, heimliche Mächte zu zertrümmern. Die taz porträtiert den flamboyanten türkischen Starautor Murathan Mungan. Die FR beklagt die heitere Lethargie in Berlins Szenevierteln. Die Welt erinnert an den Novemberpogrom von 1938. In der FAZ erzählt Frank Schirrmacher aus seinem Leben als Truthahn.

NZZ, 01.11.2008

Ein sehr schönes Gespräch führt Paul Jandl in Literatur und Kunst mit dem österreichischen Schriftsteller Josef Winkler, dem am Wochenende der Büchnerpreis verliehen wird. Es geht um das Leben auf dem Land, den Tod als Lebensthema und den Kampf gegen die Patriarchen: "Vielleicht hätten viele, und vor allem österreichische Schriftsteller, nicht geschrieben, wenn es den Patriarchen nicht gegeben hätte. Aber die Patriarchen, unter denen wir aufgewachsen sind, gibt es vielleicht tatsächlich nicht mehr. Es gibt Autoritäten, die viel unfassbarer sind, die ihre Macht viel heimlicher ausüben. Wir hatten unsere Autoritäten direkt vor Augen, sie waren da. Und so konnten wir auch lernen, sie zu bekämpfen. Ich weiß nicht, ob die Autoritäten im heutigen Gefüge der Gesellschaft angenehmer sind. Sie sind anonymer und sind deshalb auch nicht zu zertrümmern. Und wir wissen nicht, mit welcher Wucht diese unsichtbaren Kräfte auf unsere Kinder dreinschlagen. Ich habe meinen Schmerz noch benennen können."

Der Kunsthistoriker Martino Stierli blickt darauf zurück, wie sich unser Bild von Stadt im Laufe der Zeit hat. Elisabeth Wellershaus wirft einen Blick auf interkulurelle Ansätze des britischen Theaters. Abgedruckt wird Klaus Völkers Laudatio auf den den britischen Theatermacher Simon McBurney und sein "Theatre de Complicite".

Im Feuilleton nimmt Uwe Justus Wenzel kritisch unter die Lupe, was für nebulöse und fabulöse Theorien unter der Flagge der Zukunftsforschung segeln. Marcus Stäbler meldet, dass die Hamburger Elbphilharmonie mindestens 100 Millionen Euro teurer werden dürfte als geplant: "Das vermeintliche Wahrzeichen droht zum Symbol für eine fahrlässige, teilweise chaotisch anmutende Planung zu werden." Andrea Köhler beendet den amerikanischen Wahlkampf. Die Samstagfrage nach dem Schweizerischen beantwortet Heinz Holliger heute mit einigen Gegenfragen. Besprochen wird Marc Forsters neuer James-Bond-Film "Quantum of Solace".

TAZ, 01.11.2008

Daniel Bax hat sich mit drei prominenten türkischen SchriftstellerInnen getroffen. Neben Perihan Magden und Elif Shafak ist auch der "schwule und flamboyante Starautor" Murathan Mungan darunter, den Bax so beschreibt: "Heute, mit 53, ist er einer der populärsten Autoren des Landes, der auch Texte für Popsongs schreibt und selbst eine Art Popstar ist. Er bemüht gern blumige Metaphern, die im Deutschen etwas kitschig klingen: 'Die Kindheit ist wie ein Himmel, der sich über einem erstreckt.' Und er betont, dass er aus der kulturellen Vielfalt des untergegangenen Osmanenreichs schöpfe. Aber jetzt lebe er in Istanbul, blicke von dort auf die Welt und sei ein 'fanatischer Fan' von Rammstein, den Toten Hosen und Depeche Mode. Mit dem Scharia-Islam kann er nicht viel anfangen - außer dass er auch gern vier Männer heiraten würde, witzelt er."

Weitere Artikel: Ulrich Gutmaier erklärt, warum es sich beim angeblich so progessiven "Elterngeld" um ein "rückwärts gewandtes, wenn nicht gar rassistisches Projekt" handelt. Den österreichischen Autor Josef Winkler, der an diesem Wochenende den Büchner-Preis erhält, stellt Christoph Schröder vor. Als nicht unbedingt gelungenen "Drahtseilakt" beschreibt Barbara Schweizerhof die dritte Ausgabe des vor drei Jahren ambitioniert gestarteten Filmfestivals von Rom. Brigitte Werneburg hat sich auf der diesjährigen Berliner Kunstmesse Art Forum umgesehen. Für die Berlin-Kultur hat Ulrich Gutmaier die Punk- und Postpunk-Legende Malcolm McLaren zum Gespräch gebeten. Auf der Tagesthemen-Seite liefert Sebastian Moll einen Stimmungsbericht aus dem New Yorker Stadtteil Harlem vor der Wahl. Anett Keller kritisiert das neue Anti-Pornografie-Gesetz in Indonesien als gefährlichen und "massiven Rückschritt".

In der zweiten taz erklärt Hoffenheims Trainer Ralf Rangnick im Interview, wie Fußball auf der Höhe der Gegenwart aussieht: "Darum geht es immer wieder: die Mischung, die Balance zu finden zwischen einem Maximum an Flexibilität, also für den Gegner möglichst nicht zu packen zu sein. Und einem Mindestmaß an Ordnung und Symmetrie, um nicht vom Gegner überspielt zu werden."

Im Dossier des taz mag geht es in Artikeln zu Wilhelm II. und dem arg verwackelten Bildmaterial als Erinnerungshemmnis u.a. um das Ende des Ersten Weltkriegs vor neunzig Jahren.

Besprochen werden nur Bücher, unter anderem Fred Lichts Debütroman "Villa Ginestra" und Karl Schlögels historische Studie über "Terror und Traum - Moskau 1937" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

FR, 01.11.2008

Die Publizistin Mely Kiyak beschwert sich über ihre allzu indolente Peer Group der gut Gebildeten, aber prekär Beschäftigten: "Meine Altersgenossen zeichnet kein besonderes politisches Interesse aus. Während deutsche Soldaten nach Afghanistan geschickt wurden, saßen die Kollegen frohgemut um 11 Uhr wochentags beim Frühstück für 5 Euro in den Berliner Szenevierteln. Während der letzten Wochen die gleiche heitere Lethargie. Ich weiß nicht, liegt es am fehlenden Wissen, das durch scheinbare Ignoranz versteckt wird, oder ist es die Nachwirkung der einschneidenden Erfahrung, nach dem Studienabschluss keine sozialversicherungspflichtigen Anstellungen angeboten zu bekommen oder zu finden? Jedenfalls schlummert meine Generation friedlich vor sich hin... Es ist eine Generation, die vor lauter Mal-sehen-was-wird-Attitüde gar nicht auf die Idee kommt, dass wir als junge, gut ausgebildete Menschen eine große Macht hätten, wenn wir nur wollten."

Weitere Artikel: Elke Buhr hat sich auf der Berliner Kunstmesse Art Forum umgesehen. Tobi Müller besucht die Musikerin Barbara Morgenstern in Berlin Mitte. Marcia Pally singt zum Abschied ein Loblied auf George W. Bush. In einer Times Mager staunt Arno Widmann, dass Schmidt & Pochers Playmobil-Version von Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte das Werk zur Kenntlichkeit zu entstellen verstand. Rene Martens stellt den neuen ARD-Programmdirektor Volker Herres vor.

Besprochen werden ein Auftritt der Blue Man Group in Frankfurt, die Künstler-Reisen-Ausstellung "I Love Tahiti" in Münster und Stefan Kleins Studie "Da Vincis Vermächtnis" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 01.11.2008

Die Literarische Welt druckt einige Augenzeugenberichte aus dem Buch "Novemberpogrom 1938" vorab. Aus Wien berichtet ein Fritz Grünwald: "Das Mob ist überall mit freudigen Gesichtern zu sehen, haben sie doch eine große Tat vollbracht."

Weiteres: Jenni Roth besucht den amerikanischen Dramatiker Edward Albee und seine Katze Abigail. Besprochen werden unter anderem Dave Eggers "Weit gegangen. Das Leben des Valentino Achak Deng": die Geschichte eines sudanesischen Jungen, der Darfur überlebte, Tobias Hülswitts Roman "Dinge bei Licht", zwei Bücher über Darwin und Jules Barbey d'Aurevillys Roman "Die alte Mätresse".

Im Feuilleton berichtet Wieland Freund über die unter strengsten Geheimhaltungsmaßnahmen aufgenommene zweite Hörbuchversion des gesamten "Harry Potter". Gelesen werden die Bände von Felix von Manteuffel. Michael Pilz berichtet von einer Pressekonferenz mit Jerry Lee Lewis, der auf Tour kommt. Norbert Jessen beschreibt Ausgrabungsfunde in Jerusalem, darunter die bisher älteste hebräische Inschrift. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des Filmregisseurs Gerard Damiano.

Besprochen werden Christof Loys Inszenierung von Gustave Charpentiers Oper "Louise", Alfred Brendels Abschiedskonzert in Berlin, eine Aufführung von "Nathan der Weise" in Usbekistan.

FAZ, 01.11.2008

Im Aufmacher begeistert sich Frank Schirrmacher für das Buch "Der schwarze Schwan" des Risikoforschers Nassim Nicholas Taleb, der die Finanzmärkte mit einem Truthahn vergleicht: "Ein Truthahn wird tausend Tage lang gefüttert. Jeden Tag registriert die statistische Abteilung seiner Gehirnregion, dass die menschliche Rasse sich um sein Wohlergehen sorgt, und jeden Tag erhärtet sich diese Feststellung mehr. An einem schönen Mittwochnachmittag, einen Tag vor 'Thanksgiving', erlebt der Truthahn eine Überraschung."

Weitere Artikel: Edo Reents schickt den Kollegen der SZ einen Gruß, die gestern aus der Sendlinger Straße an den Stadtrand von München ziehen mussten. Jürgen Dollase untersucht die Defizite der klassischen Spitzenküche. Paul Ingendaay berichtet aus Spanien, dass der ehemalige Leiter der Guggenheim-Stiftung, Thomas Krens, wegen seiner Ankaufspolitik für das Museum in Bilbao unter schweren Beschuss geraten ist. Oliver Tolmein verteidigt in der Debatte um eine Neuregelung der Patientenverfügungen das Recht auf Beratung. Jordan Mejias liest amerikanische Zeitschriften, die sich schon auf eine Niederlage John McCains einstellen. Auf der letzten Seite erlebt Andreas Kilb mit der Schließung des Flughafens Tempelhof einen Berliner "Tag der Tränen". Wolfgang Sandner gatuliert dem Jazz-Komponisten Herb Geller zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite trommelt Patrick Bahners für den Lesesaal der FAZ, in dem Harald Schmidt Hans-Ulrich Wehlers "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" mit Playmobilmännchen nachgestellt hat. Wenig freundliche Worte findet Andreas Platthaus für Maybrit Illners Krisen-Talk mit Friedrich Merz und Oskar Lafontaine.

Besprochen werden die Kandinsky-Ausstellung "Absolut abstract" im Münchner Lenbachhaus, die Aufnahme "Foden ho svara stilt" des norwegischen Komponisten Geirr Tveitt, das aktuelle Album "Murs for President" des Rappers Nick Carter (mit dem Jonathan Fischer die Obamaisierung des Raps vollzogen sieht), Carl-Loewe-Aufnahmen und Paolo Contes neues CD "Psiche" und Bücher, darunter Mirko Bonnes Gedichte "Die Republik der Silberfische", Anya Ulinichs "Petropolis" und Jan Weilers Satire "Drachensaat" als Hörbuch (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Wochenend-Beilage Bilder und Zeiten bereitet uns Tobias Rüther darauf vor, dass mit der Neuverfilmung von "Wiedersehen in Brideshead" auch V-Ausschnitt und Oxford-Karo wieder in Mode kommen werden. Abgedruckt ist eine Rede von Louis Begley, der seine Sympathie für Barack Obama bekundet und auf die noch immer die USA durchziehende Rassenschranke verweist: "Ich verabscheue Rassismus. Trotzdem habe ich wie die meisten Leute in meiner Umgebung keine schwarzen Freunde, beim Dinner in meinem Haus sind nie Schwarze, und ich werde nicht von Schwarzen nach Hause eingeladen."

In der Frankfurter Anthologie stellt Peter von Matt Hölderlins Gedichte "An Diotima" vor:

"Schönes Leben!du lebst, wie die zarten Blüten im Winter,
In der gealterten Welt blühst du verschlossen, allein..."

SZ, 01.11.2008

Eine SZ gibt es heute nicht. Die Bayern feiern Allerheiligen.