Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2007. In der NZZ erzählt Frank Castorf, wie er seinen Schutzgott Obatala gefunden hat. Die taz warnt vor einer Konzentration auf Muslime, obwohl serbische, italienische und griechische Einwandererkinder enorme Bildungsdefizite haben. In der Welt feiert Rüdiger Safranski das Glück der freien Beweglichkeit in seiner Freundschaft mit Peter Sloterdijk. Die FR kritisiert einen Antimoderneaffekt der Unesco. In der SZ sucht der Dichter Jan Wagner den spielerischen Bruch der Regeln.

NZZ, 26.06.2007

Dirk Pilz besucht Frank Castorf in Berlin, wo ihm der Intendant der Volksbühne erzählt, er sei bei seinem letzten Aufenthalt in Lateinamerika Mitglied der Santeria-Gemeinschaft geworden. Das ist eine "dem brasilianischen Candomble verwandte Religion", zu deren Riten Trance-Tänze, Tieropferungen und Trommelorgien gehören, weiß Pilz. Der Intendant ist entspannt. "Frank Castorf hat jetzt seinen persönlichen Schutzgott gefunden: Obatala, der Schöpfergott. 'Hoffnung auf ein anderes Denken' findet Castorf in Lateinamerika. 'Dort gibt es wenigstens den Versuch, den Gedanken an die Möglichkeit einer Revolution zuzulassen, die den Blick auf jenseits unserer westlichen Demokratie öffnet.' Der Kontinent erinnere ihn 'an die alten Vitalitätsquellen, aus denen wir die Energie in Anklam oder den ersten Jahren an der Volksbühne gezogen haben'. Eine neue Vitalität. Castorf denkt dabei auch an seine jetzige Volksbühne. Ja, es sei schon richtig, er habe sich zu wenig um das Haus gekümmert."

Weiteres: Sieglinde Geisel stellt die neue Ausgabe der Zeitschrift Schreibheft vor. Kerstin Stremmel schreibt zum Tod des Fotografen Bernd Becher. Gabriele Detterer schreibt zum Tod des italienischen Bildhauers und Kunstheoretikers Luciano Fabro.

Besprochen werden: Schumanns Szenen aus Goethes Faust, ausgestattet von Hermann Nitsch im Rahmen der Zürcher Festspiele ("Nein, das war keine gute Idee, Hermann Nitsch für die 'Faust-Szenen' zu engagieren", ruft Alfred Zimmerlin) und Bücher, darunter Krisztian Grecsos Debutroman "Lange nicht gesehen.", Dzevad Karahasans Erzählband "Berichte aus der dunklen Welt" und Fred Wanders Roman "Hotel Baalbek" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 26.06.2007

Mark Terkessidis attestiert der CDU einen Multikulturalismus, der Kultur mit Religion gleichsetzt. "'Integriert' wird man daher primär als 'Muslim' und nicht etwa als Bürger. Dabei rutschen alle anderen Gruppen und Probleme unter den Tisch. Die Fokussierung auf 'die Muslime' verhindert, dass viele Probleme auf der Agenda überhaupt auftauchen: Der extrem hohe Anteil von Schülern serbischer Herkunft auf der Sonderschule; die Bildungskatastrophe der Personen mit italienischem Hintergrund oder die unproportional hohe Arbeitslosigkeit der griechischen Einwanderer trotz guter Bildungsabschlüsse."

Weiteres: Christian Broecking beschreibt die Sorgen der New Yorker Jazz-Szene, die um einen subventionierten Auftrittsort kämpft. Besprechungen widmen sich der Werkschau von Robert Gober im Schaulager Basel und John Holloways und Edward P. Thompsons Studie zur Arbeitsdisziplin "Blauer Montag".

In der zweiten taz besucht Erik Heier die Proben der Berliner Revue "Lass krachen, Alter!" mit Laiendarstellern. Auf der Medienseite schildert Susanne Knaul die Lage im Fall des in Gaza entführten britischen Journalisten Alan Johnston.

Und Tom.

Welt, 26.06.2007

Der Philosoph Rüdiger Safranski gratuliert seinem Freund und Kollegen Peter Sloterdijk zum sechzigsten Geburtstag - naturgemäß in recht persönlichen Worten: "Sloterdijk denkt über Räume nach, sein Denken sellbst aber ist auch geräumig. Deshalb erfahre ich in der Freundschaft mit ihm das Glück der freien Beweglichkeit. Man kommt bei ihm ganz einfach weit herum und fast überall hin. Ich bin nach wie vor auf jedes neue Buch von ihm gespannt und wenn es dann zur Welt kommt, ist es immer wie ein Geschenk."

Weitere Artikel: Der Publizist und Fotografie-Experte Klaus Honnef erinnert an den verstorbenen Fotokünstler Bernd Becher. Gerhard Gnauck informiert über die Grundsteinlegung für das "Museum der Geschichte der polnischen Juden" in Warschau. Uwe Wittstock kommentiert die Übernahme der Karstadt-Buchhandlungen durch Thalia und sieht durch die Konzentration im Buchhandel vor allem die Verlage in Bedrängnis gebracht. Die neue Entwicklung - bzw. die von Sachsen als Erpressungsversuch aufgefasste Schonfrist - in Sachen Waldschlösschenbrücke stellt Dankwart Guratzsch dar. Auf eine Roger M. Buergel-Maschine im Internet weist Matthias Heine hin. Auf der Forums-Seite insistiert der Wirtschaftsberater Oliver Marc Hartwich darauf, dass der Neoliberalismus auch in Deutschland eine mindestens bis zu Wilhelm von Humboldt zurückreichende Tradition hat.

Besprochen werden Hermann Nitschs Züricher Inszenierung von Robert Schumanns "Faust-Szenen" und ein Buch, nämlich Adriano Prosperis Kindsmord-Studie "Die Gabe der Seele".

FR, 26.06.2007

Die Unesco verhält sich im Fall der Dresdener Waldschlösschenbrücke mit ihrem Ultimatum recht unflexibel, meint Christian Thomas. "Es mag an der Fixierung liegen, mit der auf einen Tunnel gestarrt wird. Warum keine grandiose Brückenlösung, warum nicht das Bekenntnis zur Architekturmoderne, für das gerade die deutsche Brückenbaukunst weltweit prächtigere Beispiele geliefert hat (darunter ganz besonders das Büro Schlaich Bergermann und Partner)... Mittlerweile zeichnet sich immer deutlicher die Frage ab, ob in der Unesco, neben ihrem offensichtlichen Historismus, ein Antimoderneaffekt waltet, der einer fürsorglichen Belagerung gleichkommt."

Weiteres: Der Schriftsteller Reinhard Jirgl schreibt zu Alfred Döblins letztem Roman "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende". Hans Christof Wagner gratuliert Radio Dreyeckland, dem ältesten nicht-kommerziellen Radiosender Deutschlands, zum Dreißigsten. Ulf Erdmann Ziegler schreibt den Nachruf auf den Fotografen Bernd Becher. In einer times mager berichtet Harry Nutt von strengen Jackett-Regeln auf der documenta. Besprochen wird eine Aufführung von Friedrich Dürrenmatts "Der Besuch der Alten Dame" durch Rimini Protokoll in Zürich.

SZ, 26.06.2007

Auf der Literaturseite charakterisiert der Lyriker Jan Wagner in einem ganzseitigen Essay eine neue Generation deutscher Dichter, der auch er angehört. So kommt der Reim bei ihnen wieder zu seinem Recht. "Nicht nur als unterlegte, im besten Fall unaufdringliche, vielleicht gar unsichtbare Struktur, sondern auch als kompositorisches Mittel. Zu diesem wird er, wenn man ihn nicht als zu erfüllende Vorgabe und Pflicht, sondern als Assoziationen und Abwege provozierenden, kreativen Störfaktor im Schreibprozess betrachtet. Wo Lippen mit Lappen korrespondieren und auf Uppsala Obstsalat serviert wird, ist der Weg vom Maskara zum Massaker nicht weit, und wo sich etwa Natur auf Natter reimt, lässt sich gedanklich diskret vom Busen der Natur zur Natter am Busen fortschreiten - und, sieht man genau hin, der spielerische Bruch der Regel just im Augenblick ihrer Etablierung beobachten."

Weitere Artikel: Im Feuilleton erwartet Günter Kowa nicht, dass bis zur von der Unesco gesetzten Frist im Oktober eine Alternative zur Dresdener Waldschlösschenbrücke gefunden wird. Sonja Zekri reist nach Algier, wo Albert Camus immer noch als französischer Kollaborateur und deshalb als vergessen gilt. Stefan Koldehoff weiß, dass Wenzel Jacob die Bonner Bundeskunsthalle wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten verlassen muss und Christoph Vitali als Interimsgeschäftsführer bestellt wurde. Eva-Elisabeth Fischer lässt das Holland Festival für Musiktheater Revue passieren. Im Filmfest-Gespräch mit Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler erklärt Alexander Kluge das 90-Minuten-Kino zum Hinsetzen zur historischen Ausnahme. Vahabzadeh stellt ein paar Filme vor. "eye" meldet, dass es Maxim Biller mit zwei Kurzgeschichten in den New Yorker geschafft hat. Paul-Philipp Hanske stellt das französische Elektrolabel mit dem unfranzösischen Namen Ed Banger vor. Joachim Kaiser kann in einer "Zwischenzeit" von Musik als Medizin nur abraten. "Dem Eroica-Trauermarsch, der archaischen Gewalt von Strawinskys 'Psalmensinfonie', Mozarts Melancholie ist kein geschwächter Rekonvaleszent wirklich gewachsen."

Besprochen werden Anselm Kiefers Installation Sternenfall" im Grand Palais Paris, die Revue "Lass' krachen, Alter!" mit Laiendarstellern im Theaterhaus Berlin Mitte, Aufführungen von "Nabucco" und "Aida" in der Arena von Verona, Auftritte des Dirigenten Roger Norrington und der Geigerin Hilary Hahn in München und als Hörbuch "Die Geschichte vom Franz Biberkopf" von Alfred Döblin.

FAZ, 26.06.2007

Frank Schirrmacher kommt nicht darüber hinweg, dass der Bundespräsident eine aus dem "Umkreis von Udo Walz" mit seiner Anwesenheit adelte und dann auch noch nett zu ihr war. Ziemlich viel Unzufriedenheit herrschte, wie Florian Balke berichtet, bei einer Begegnung von Autoren, Verlagsvertretern und professionellen Literaturvermittlern zum Thema Lizenzverkäufe deutscher Autoren ins Ausland. Adrienne Lochte hat bei der Verleihung der Lichtenberg-Medaille der Universität Göttingen einen aufgewühlten Philosophen Peter Bieri erlebt. Den vorläufigen Gnadenbescheid in Sachen Dresdener Waldschlösschenbrücke kommentiert in der Glosse Dieter Bartetzko. Beim Blick in deutsche Zeitschriften hat Ingeborg Harms Auseinandersetzungen mit Religion und Atheismus entdeckt. Lorenz Jäger gratuliert dem Philosophen Peter Sloterdijk zum Sechzigsten. Mark Siemons meldet kurz, dass Franziska Meltetzkys Film "Frei nach Plan" den Hauptpreis beim Filmfestival von Schanghai gewonnen hat. Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Platthaus den Autor Reinhard Jirgl, der gerade das Amt des Stadtschreibers von Bergen-Enkheim antritt. Kerstin Holm informiert ausführlich über die Moskauer Museumsszene.

Auf der DVD-Seite werden unter anderem eine neue Edition von Fritz Langs Stummfilm "Spione" und eine Dreierbox mit Robert-Mitchum-Filmen empfohlen.

Besprochen werden Thomas Hürlimanns und Volker Hesses neue Version des "Einsiedler Welttheaters", Hermann Nitschs Inszenierung von Robert Schumanns "Faust-Szenen", das neue Art Brut-Album "It's a bit complicated", ein Konzert von Blonde Redhead in München, eine Ausstellung mit Gemälden von Norbert Frensch in Kaiserslautern und Literatur, nämlich Carlos Eugenio Lopez' Roman "Abgesoffen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).