Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2007. In der Zeit erklären sich Günter Grass und Martin Walser in einem dreiseitigen Gespräch ihre gegenseitige Liebe. In Spiegel Online schildert Ahmet Altan das gefährliche Paradox der türkischen Demokratie. In der NZZ beschäftigt sich Sonja Margolina mit den Wurzeln des neuen russischen Autoritarismus. Die Welt zitiert aus einem wissenschaftlichen Gutachten zu Maxim Billers Roman "Esra", über den jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. In der FAZ bekennt Dieter Wellershoff sein Unbehagen über die geplante Kölner Großmoschee.

NZZ, 14.06.2007

Sonja Margolina beschäftigt sich mit den Wurzeln des neuen russischen Autoritarismus. Dabei erinnert sie daran, wie der Terror Stalins und seine Politik der Angst, einer möglichen Bedrohung der Macht durch anstehende demokratische Wahlen vorausging. "Vor diesem Hintergrund mutet die Kreml-Operation 'Präsidenten-Nachfolger', die von einer Verschärfung des Machtkampfes und Repressalien gegen eine harmlose Opposition begleitet wird, an, als wäre das Drehbuch dazu exakt vor siebzig Jahren geschrieben worden. Dass dies in einem völlig anderen historischen Kontext stattfindet, verstärkt nur den Eindruck eines Deja-vu. Wie 1937 steht im Vordergrund der Panik im Kreml die Unmöglichkeit eines demokratischen Machtwechsels. Die bloße Existenz der Verfassung enthüllt den illegitimen Charakter der Macht-Usurpation durch eine nicht gewählte Clique."

Weiteres: Horst Wernicke gedenkt des französischen Dichters Rene Chars, der heute hundert Jahre alt geworden wäre.Gemeldet wird, dass der nigerianische Autor Chinua Achebe in diesem Jahr den Man Booker Prize erhält. Thomas Meder würdigt den verstorbenen Film-, Kunst- und Medienkritiker Rudolf Arnheim.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Ernst Ludwig Kirchner in den Chemnitzer Kunstsammlungen, Robert Gernhardts späte Erzählungen "Denken wir uns", ein Architekturführer zu Mario Chiattone, ein Konzert des Amati-Quartetts in Zürich und der neue Shrek-Film.

Spiegel Online, 14.06.2007

Der türkische Schriftsteller Ahmet Altan schildert ein gefährliches Paradox in der Türkei, das die Demokratisierung des Landes unterlaufen könnte: Die westlich orientierte Minderheit dominiert das Land nicht mehr. "Weil die westlichere zweite Gruppe weiß, dass sie niemals mehr an die Macht kommen wird, wenn sie westliche politische Formen beachtet, wird sie immer antagonistischer zu den westlichen demokratischen Werten.Und weil diejenigen, die dem Westen feindlich gegenüber stehen, wissen, dass sie nur mächtig sind, wenn sie westliche Kriterien beachten, versuchen sie sich, westliche Werte anzueignen und ihre Beziehungen mit dem Westen zu verbessern."
Stichwörter: Westliche Werte, Altan, Ahmet

FR, 14.06.2007

"Zettelkasten-Poeten wie weiland Jean Paul oder Arno Schmidt wären womöglich vor Glück übergeschnappt, hätten sie schon online surfen und, auf der Jagd nach elektronischen Schnipseln, regelmäßige Nutzer eines E-Mail-Archivs sein können," kommentiert Klaus Kreimeier in der neuen "Im-Netz-Kolumne" das Projekt "Email Britain" der British Library, die jüngst die Landsleute aufgefordert hat, Kopien der täglichen elektronischen Post möglichst massenhaft an die Bibliothek zu senden, um einen virtuellen Container des "real life" in UK zu schaffen, in dem alles Liebens- und Hassenswerte, alles Lächerliche und alles Erhabene, alle Flüchtig- und Nichtigkeiten des Kommunikationsalltags aufbewahrt wird.

Andere Themen: Elke Buhr stimmt auf die Documenta 12 ein, die am Wochenende eröffnet wird und porträtiert ihre Macher Ruth Noack und Roger M. Buergel, Daniel Kothenschulte kritisiert Praxis und Auflagen der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), Hans-Jürgen Linke freut sich, dass der Pianist Alexander von Schlippenbach für seine "Twelve Tone Tales" den Jazzpreis des Südwestrundfunks erhalten hat. In der Kolumne Times Mager erklärt Christian Thomas, was die hessische Sektion des BDA und die Frankfurter Laienbewegung gemeinsam haben.

Besprochen werden Marco Bellocchios Film "Buongiorno Notte" (ein "Meisterwerk", findet Sascha Westphal), Sam Gabarskys Film "Irina Palm" (für Heike Kühn "ein bewegendes Schelmenstück", "ein Film von unerwarteter Größe") sowie Stephen Lawless Inszenierung des "Ariodante" bei den Händel-Festspielen in Halle.

Welt, 14.06.2007

Die juristische Auseinandersetzung um Maxim Billers Roman "Esra" ist bis heute nicht ausgestanden. Der Fall liegt jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht, die erste Instanz, die zu Uwe Wittstocks Erstaunen auch wissenschaftliche Gutachten einholt. Wittstock zitiert aus einem Gutachten des Juristen Christian Eichner und des Germanisten York-Gothart Mix, die sehr deutlich dafür plädieren, die Literaturfreiheit über die Persönlchkeitsrechte zu stellen: "In einer genauen Analyse von 'Esra' können Eichner und Mix zeigen, dass in dem Roman Wirklichkeit nicht abgeschildert, sondern nach einer 'literarästhetischen Prgrammatik' geformt wird, dass ihm also der Charakter einer Fiktion beziehungsweise eines Kunstwerks nicht abgesprochen werden kann." Und: "Individuell Erlebtes in literarischen Texten zu tabuisieren, kommt einer Amputation literarischer Inspiration gleich".

Weitere Artikel: Marion Leske spricht mit Kaspar König, dem Kurator der "Skulptur Projekte" in Münster. Florian Stark zitiert neue katalanische Diskussionen um den Buchmessenauftritt als "Gastnation", bei dem keine spanischsprachigen Autoren teilnehmen werden. Manfred Quiring kommentiert neue Moskauer Hardliner-Äußerungen zu Beutekunstfragen. Außerdem berichtet Matthias Heine über eine bei Arte organisierte Abstimmung über die Frage, wer der bedeutendste Dramatiker des Kontinents sei (es dürfte auf Jean Racine hinauslaufen). Besprochen werden der Film "Irina Palm" (mehr hier) mit Marianne Faithfull und neue CDs der White Stripes und der Queens of the Stone Age.

Zeit, 14.06.2007

Der Literaturteil prunkt mit einem dreiseitigen Gespräch mit Günter Grass und Martin Walser. Unter dem Nussbaum in Grass' Garten hat man es sich behaglich gemacht, die beiden turteln miteinander ("Ich liebe ihn" - "Du hast wirklich toll ausgesehen"), verbünden sich gegen die FAZ und Elke Heidenreich und erzählen vom Schreiben, dem Leben und der Liebe. Unmöglich, ein Zitat auszuwählen! Aber gut: Iris Radisch und Christof Siemes fragen Grass noch einmal, warum er erst so spät in seiner Autobiografie, von seiner Einberufung in die SS gesprochen hat. "Walser: 'Heilandsack. Das ist doch seine Sache!' Grass: 'Weil ich Schriftsteller bin. Ich befinde mich doch nicht in der SED, wo ich öffentlich Schuldbekenntnisse ablegen muss. Ich gehöre auch nicht zu einer christlichen Sekte, die sich aufgrund eines Pfingstwunders hinstellt und öffentlich bekennt.' Walser: 'Jetzt brauch ich Zigarillos! Das kann ich nur noch als Raucher bestehen." Dann kommt es zum Alter: "Walser: 'Es war noch nie so unerlaubt, älter zu werden als arbeitender Mensch, wie jetzt! Und wenn ein Älterer liebt, ist es nicht Liebe, sondern 'Altersgeilheit'.' Grass: Meine Erfahrung mit dem, was unter dem Stichwort Altersgeilheit läuft, ist die, dass die erotische Liebe im Alter differenzierter wird, sich verlangsamt.' Walser: Du musst jetzt nicht für die möglichen Freuden des Vollzugs in den späteren Jahren plädieren.' Grass: 'Ich sehe das Alter aber zu meiner Überraschung in diesem Bereich als Gewinn an.'"

Hanno Rauterberg hat sich auf die Große Tour von Venedig nach Kassel begeben und vergleicht die Biennale mit der documenta: "Beide Ausstellungen sind sich verblüffend ähnlich: Beide wenden sich gegen die Übermacht des Marktes, verlangen nach einer Kunst der Ein- und Aufmischung, fragen, was von dem ?Projekt der Moderne? noch übrig sei. Selbst bei der Künstlerauswahl gibt es Überschneidungen. Und doch könnten die zwei Ausstellungen unterschiedlicher kaum sein. Geradezu lehrbuchhaft zeigt sich in Kassel und Venedig, was eine politische Ästhetik auszurichten vermag - und was sie anrichten kann."

Weiteres: Tobias Timm fragt, ob die Länderpavillon überhaupt noch Sinn machen. Thomas Assheuer sucht in einschlägigen Zeitschriften nach der neuen Kunsttheorie, dem großen Aufbruch. Assheuer schreibt auch zum Tod des Philosophen Richard Rorty. Ulrich Greiner begrüßt den Bücherpreis für den "scharfsinnigen Konsvervativen" Martin Mosebach. Raymond Geuss, derzeit Philosoph in Cambridge, versucht sich zu erklären, wie Tony Blair zugleich der "erfolgreichste Labour-Politiker" und ihr "größter Lügner" sein konnte. Wolfram Goertz schwärmt von der Pianistin Gabriela Montero, die auf Zuruf improvisieren kann.

FAZ, 14.06.2007

Auch dem in Köln lebenden Schriftsteller Dieter Wellershoff ist nicht recht wohl beim Gedanken an die geplante Großmoschee im Stadtteil Ehrenfeld, und er bekennt, dass ihn "Filmaufnahmen muslimischer Großveranstaltungen, bei denen Massen gleichgekleideter Männer, dicht aneinandergedrängt, mit der Stirn auf dem Boden lagen, immer befremdet und abgestoßen (haben). Ich empfand diese hingestreckten Menschenleiber als eine kritische Masse unberechenbarer Energien, die von der lautsprecherverstärkten Stimme des Imans beherrscht und zu Teilen eines mächtigen Gesamtwillens verschmolzen werden." Weiter hinten legt Patrick Bahners anlässlich des heutigen nächsten Sitzungstags höchst detailliert die diffizilen Streitfragen dar, die beim letzten Zusammentreten der Islamkonferenz zum Scheitern des Konsenses führten.

Weitere Artikel: Andreas Kilb berichtet von einer Tagung, auf der über das im geplanten Berliner Stadtschloss geplante Humboldt-Forum diskutiert wurde. Sehr angetan zeigt sich Heinrich Wefing von Andreas Mecks nun vorgestelltem Entwurf für das Bundeswehr-Ehrenmal (Bilder). Ein bisschen unheimlich sind Edo Reents die Liebesbande alter Männer, wie gerade von Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker bei Maischberger oder den sich in Medienschelte ergehenden Martin Walser und Günter Grass im Zeit-Gespräch demonstriert. Frank Pergande informiert über einen Streit zwischen dem bebra-Verlag und seinem Erfolgsautor Tom Wolf sowie über die Hamburger Pläne zu einer "Kunstmeile". In Sachen Baldin-Sammlung scheint, wie Michael Ludwig berichtet, die Rückgabe jetzt wieder in den Bereich des Möglichen gerückt. Lorenz Jäger gratuliert Bob Dylan zum Erhalt des Asturien-Preises. Auf der letzten Seite porträtiert Tobias Döring den diesjährigen Man Booker-Preisträger Chinua Achebe. Cord Riechelmann war in Tasmanien unterwegs und hat sich dort auch das Gefängnis von Port Arthur angesehen, das ganz den Benthamschen Panoptikums-Prinzipien entspricht.

Auf der Kino-Seite führen Alexander Horwath, Leiter des Wiener Filmmuseums und Film-Kurator der diesjährigen documenta, und der Filmemacher Harun Farocki ein Gespräch über Kunst und Kino und alles, was dazwischenliegt. Horwath verteidigt dabei die Institution Kino: "Du sagst, über kurz oder lang wird das Kino ein Ausstellungsraum werden - ich finde, das Kino ist ein Ausstellungsraum und ist von Beginn an einer gewesen, und zwar der Ausstellungsraum, der diesem Medium adäquat ist." Peter Körte weist auf einen virtuellen Rekonstruktionsversuch des alten Rom hin, der in Teilen im Internet zu besichtigen ist.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Theodor Hilsdorf im Münchner Stadtmuseum, Marco Bellocchios Film "Buongiorno, notte - Der Fall Aldo Moro", die Konzerte des Bergener Nattjazz-Festivals und ein Buch, Joanna Olczak-Ronikiers Familiengeschichte "Im Garten der Erinnerung" (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 14.06.2007

Die taz erscheint im neuen Gewand auf. Bunt ist die Seite und nicht mehr ganz so übersichtlich. Aber es scheint noch alles online zu sein, man muss es nur finden.

"Die Kreuzigung in der Nacht, mit Fackellicht und Scheinwerfern: das gab's noch nie bei den Passionsspielen in Oberammergau", schreibt Wolf Schmidt in der zweiten taz über Querelen im Vorfeld der Passionsspiele 2010. "Und soll es auch nie geben, meinen die Mitglieder einer Bürgerinitiative, die 655 Unterschriften gesammelt hat - und so einen Bürgerentscheid erzwingen konnte. Rund 4.000 Oberammergauer dürfen nun mit ihrem Kreuz bestimmen, zu welcher Uhrzeit der Heiland hingerichtet wird."

Andere Themen: auf der Meinungsseite erläutert Renee Zucker, warum die ausgelaufene Fernseh-Serie "Die Sopranos" ebenso genau wie erbarmungslos die Geschichte ihrer Generation erzählt, im Feuilleton unterhält sich Claudia Lenssen am Rand des 3. Festivals des Deutschen Films mit der Schauspielerin Katja Riemann, die mit dem Preis für Schauspielkunst 2007 ausgezeichnet worden ist.

Besprochen werden Thomas Arslans neuer Film "Ferien", Marco Bellocchios Film "Buongiorno, notte - Der Fall Aldo Moro", die Neuauflage des Albums "Daydream Nation" Sonic Youth aus dem Jahr 1988 und der Prachtband "Andy Warhol - Portraits" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

SZ, 14.06.2007

Thomas Steinfeld stimmt auf einen vom Goethe-Institut veranstalteten Kongress zum Thema "Die Macht der Sprache" ein, der morgen in Berlin beginnt und erklärt die Sprachdebatten zu Untertanendebatten. Rainer Werner Fassbinders Kameramann Xaver Schwarzenberger verteidigt die unter seiner Federführung entstandene Rekonstruktion von "Berlin Alexanderplatz". Doris Kuhn schickt einen Bericht aus Ludwigshafen vom 3. Festival des deutschen Films. Miriam Stein und Dirk Peitz befragen den Sänger und Songschreiber Rufus Wainwright über sein neues Album "Release the Stars". Alexander Menden informiert über wachsende Elternkritik am Prüfungswahn in englischen Schulen. Ijoma Mangold sorgt sich um die literarische Zukunft Daniel Kehlmanns nach einer Million verkaufter Bücher von der "Vermessung der Welt". Christoph Schröder lüftet das Geheimnis, wer aus dem offiziellen Gastland Katalonien zur diesjährigen Buchmesse nach Frankfurt kommt.

Besprochen werden die Skulpturen-Projekte Münster, ein YouTube-Video mit einem angetrunkenen Sarkozy in Heiligendamm (das im französischen Fernsehen nicht gesendet werden durfte), die Sahel-Oper "Bintou Were" beim Holland Festival in Amsterdam, Edgar Wrights "Hot Fuzz - Zwei abgewichste Profis" ("Jede Szene eine Anekdote, jedes Bild ein Gag. Auftrumpfend oder subtil, je nach Lage der Dinge", schreibt Rainer Gansera begeistert - es gibt auch ein Interview mit dem Regisseur), Elisabeth Wicki-Endriss' Dokumentarfilm über Bernhard Wicki "Verstörung - Und eine Art von Poesie" und Bücher, darunter Hanna Johansens Roman "Der schwarze Schirm" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).