Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.06.2007. In der FAZ erklärt Necla Kelek, warum der Bau einer Moschee keine Frage der Glaubensfreiheit, sondern eine politische Frage ist. Die Welt berichtet über Proteste in Polen gegen die Streichung von Goethe, Kafka, Dostojewski und Gombrowicz von den Lehrplänen. Die NZZ untersucht die Rolle Russlands im Kosovo. Der Tagesspiegel recherchiert zum Streit um Fassbinders Nachlass. In der FR sehnt man sich nach Altstadt. Die SZ aktiviert uns Massenpublikum indirekt für die kommende Documenta.

Welt, 05.06.2007

Gerhard Gnauck berichtet von Protesten in Polen gegen den neuen Kanon von Bildungsminister Roman Giertych: Goethe, Kafka, Dostojewksi oder der schwule Gombrowicz fliegen raus. Rein kommen Kapuscinski, Szymborska, Henryk Sienkewicz, Papst Johannes Paul II oder der katholische Kollborateur Jan Dobraczynski: "Der wohl originellste Protest kam von der Vereinigung der Nachfahren des Nobelpreisträgers Sienkiewicz (1846-1916). Sie baten den Minister in einem Brief, 'die Streichung der Werke unseres Großvaters, Urgroßvaters und Ururgroßvaters' aus dem Kanon zu veranlassen. Auf der Liste der Verfemten sei Sienkiewicz in besserer Gesellschaft."

Weiteres: Nach einem Blick auf die Kirchenein- und austritte kann Uwe Wittstock den Glauben an eine Renaissance des Christentum nicht wirklich teilen - trotz einschlägiger Bestseller: "Nach den fünf Tibetern und der Aromatherapie nun also Kloster, Papst und Pilgerreise."Matthias Heine erzählt genüsslich in der Randspalte, wie Gert Voss und Claus Peymann gerade öffentlich übereinander herfallen - "wie die Volksgruppen im Ex-Jugoslawien". Uwe Schmitt berichtet, dass die Kommunistische Partei der USA ihr Archiv an die New York University übergeben hat. Sensationelle Funde (Ethel Rosenberg war unschuldig!) sind aber nicht zu erwarten. Eckhard Fuhr schildert, mit welch "munterem Idealismus" in der Kulturhauptstadt Luxemburg die ausgedienten Industrieanlagen in kulturellen Beschlag genommen werden. Und Dankwart Guratzsch freut sich, dass die lange vom Verfall bedrohte Kirche St. Geogen in Wismar dank zahlreicher Spenden wieder fest und imposant steht.

Besprochen werden Mozarts "Tito" mit Philippe Jordan in Berlin, Brittens "Death in Venice" mit Ian Bostridge in London und Christoph Weinerts Bismarck-Porträt im NDR.

TAZ, 05.06.2007

Christiane Kühl war im Berliner HAU-Theater beim zehntägigen Festival "Umweg über China" - wie auch ein Buch von Francois Jullien heißt, der Sinologe wurde, damit er Europa besser versteht. Die Entwicklung Chinas hat jedenfalls mit der Osteuropas nichts zu tun, meint Kühl mit Blick auf den "1958 geborenen Videokünstler Wang Jianwei. Absolut alles sei früher für seine Generation entschieden worden. Die treibende Kraft hinter ihrer Arbeit heute sei dagegen die Wahlfreiheit: 'Nicht, dass man sich für das eine oder das andere entscheiden kann - dass ich mich für mich entscheiden kann. Wir haben uns gerade erst entdeckt.' Für das HAU entwickelte er die Videoinstallation 'Cross Infection: From Masses ? to Masses', die auf diese Erfahrung referiert, wenn sie Aufnahmen marschierender uniformierter Schulkinder Bildern heterogenen Stadtlebens gegenüberstellt: ein Junge, der minutenlang seine Frisur im Schaufenster richtet".

Weitere Artikel: Die Autorin Dilek Güngör, die gerade ihren Roman "Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter" veröffentlicht hat, erzählt im Interview, wie man in Schwäbisch-Gmünd aufwächst und wie sie ihre Familie in der Türkei entdeckte. In der Kolumne theorie und technik spürt Isolde Charim dem "Sommer auf dem Land"-Gefühl nach. Alexander Cammann liest politische Zeitschriften, die sich der RAF, Anarchie und Wolfgang Kraushaar widmen. Bert Rebhandl blättert skeptisch im Almanach, mit dem Suhrkamp seinen neuen Verlag der Weltreligionen vorstellt.

Schließlich Tom.

FAZ, 05.06.2007

Sehr skeptisch sieht die Soziologin Necla Kelek den Moscheebau in Köln. Keineswegs, argumentiert sie, geht es dabei ausschließlich um Fragen der Religionsfreiheit oder -gleichbehandlung: "Moscheen sind selbst nach muslimischer Lesart keine Sakralbauten wie Kirchen oder Synagogen, sondern 'Multifunktionshäuser'. Das wird gern verschwiegen. So wie der Islam eben keine Kirche ist. Der Islam begreift sich nicht nur als spirituelle Weltsicht, sondern als Weltanschauung, die das alltägliche Leben, die Politik und den Glauben als eine untrennbare Einheit sieht. Eine verbindliche theologische Lehre gibt es nicht. In diesem Sinne haben viele Islamvereine in Deutschland die Funktion einer Glaubenspartei, einer politischen Interessenvertretung. Deshalb ist die Frage des Moscheebaus auch keine Frage der Glaubensfreiheit, sondern eine politische Frage."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru erklärt, warum der Pilgerzug ultraorthodoxer Rabbiner zum Tempelberg eine Provokation darstellt. Die Träger des Heinz Meier-Leibnitz-Preises für Nachwuchsforscher erklären Christian Schwägerl, was sie ändern würden, wären sie einen Tag lang für die Forschungspolitik zuständig. In seinen "Lexikalischen Grenzgängen" befasst sich Joseph Hanimann heute mit deutsch-französischen Unterschieden in der Benennung Obdachloser. In der Glosse fragt sich Hannes Hintermeier, ob Jürgen "Welt AG" Schrempp wirklich der richtige Mann ist, als Vorsitzender der "Südliches Afrika Initiative der Deutschen Wirtschaft" (SAFRI) den Süden Afrikas zu retten. Gina Thomas gratuliert dem britischen Dramatiker David Hare zum Sechzigsten. Julia Voss hat sich in der Lononder White Cube-Galerie Damien Hirsts diamantenbesetzten Totenschädel angesehen. Auf einen heißen, über ganz Europa verteilten Kunstsommer bereitet uns Thomas Wagner vor. Auf der Medien-Seite berichtet Jörg Bremer von Morddrohungen gegen palästinensische Fernsehmoderatorinnen - weil sie gegen die strenge islamische Kleiderordnung verstoßen.

Besprochen werden die neue CocoRosie-Platte "The Adventures of Ghosthorse and Stillborn", die von Philippe Jordan dirigierte Mozart-Oper "Clemenza di Tito" in der Staatsoper Unter den Linen ("Mittelmaß", bedauert Elenore Büning, nur Elina Garanca als Sesto triumphierte), Inszenierungen von Carlo Goldonis "Krach in Chiozza" in Bonn und von Theodor Storms "Schimmelreiter" in Köln, eine Ausstellung zum Werk des großen Comic-Künstlers Carl Barks im Karikaturmuseum Krems und ein Band mit neu übersetzten Erzählungen und Reportagen des dänischen Autors Hermann Bang (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 05.06.2007

Andreas Ernst nimmt die serbisch-russische Allianz im Streit um das Kosovo in den Blick, die sich den UN-Plänen zur Unabhängigkeit der albanischen Provinz widersetzt. Dass die Russen Revanche für die Demütigung von 1999 nehmen wollen, scheint ihm nicht abwegig: "Die Übermacht des Westens schien grenzenlos. Es blieb nur Raum für eine symbolische, aber spektakuläre Geste. Als sich in der Nacht auf den 12. Juni 1999 ein Vorauskontingent der britischen Armee in Skopje für den Einmarsch in Kosovo bereit machte, schlug die Nachricht wie eine Bombe ein, dass eine Kolonne russischer Schützenpanzer bereits in Pristina angekommen und auf dem Marsch zum Flughafen sei. Die Russen hatten sich, unbemerkt von der Aufklärung der Nato, aus der internationalen Friedenstruppe in Bosnien ausgeklinkt und waren quer durch Serbien nach Pristina gebraust. Dies führte wenig später zur berühmt gewordenen Befehlsverweigerung des britischen Feldkommandanten Mike Jackson. Als der amerikanische Oberbefehlshaber Wesley Clark den Rauswurf der Russen aus dem Flughafen anordnete, widersetzte sich Jackson angeblich mit den Worten, er werde nicht für diesen Flughafen den dritten Weltkrieg anzetteln. Doch der russische Triumph blieb schal. Irgendwann zogen die russischen Schützenpanzer ab. "

Georges Waser berichtet vom Streit um das Bild eines jungen Mädchen, bei dem ungewiss ist, ob es sich um ein Porträt der britischen Nationalikone Jane Austen handelt. Besprochen werden Riccardo Zandonais Oper "Francesca da Rimini" im Zürcher Opernhaus und Bücher, darunter Jean Amerys erst jetzt veröffentlichter Debütroman "Die Schiffbrüchigen" und bisher nur auf Englisch erschienene Bücher zur Rolle der amerikanischen Geheimdienste von Tennent H. Bagley und dem ehemaligen CIA-Direktor George Tenet (mehr in unsrere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 05.06.2007

Der Architekt Jo Franzke ("Der Autor gehört zu den bedeutenden deutschen Architekten. Seine Architektur besticht durch eine kompromisslos-noble Eleganz", erläutert die streng objektive Redaktion) wirbt für sein Konzept einer neuaufgebauten Altstadt in Frankfurt. "Wir sind vom jüngsten Forschungsstand ausgegangen, der vom Stadtplanungsamt in Auftrag gegebenen baulich-historischen Dokumentation. Auf Grundlage dieser Arbeit haben wir Plätze und Straßenzüge sowie die verschiedenen Häuser und ihre Parzellen untersucht und das Wesentliche herausgearbeitet: Proportionen, Achsen, Fensterstellungen, Giebel, Dachformen und Materialität, Lage." In einem zweiten Artikel erläutert Christian Thomas die sich durch den Abriss des "Technischen Rathauses" bietende Gelegenheit.

Weitere Artikel: Harry Nutt resümiert den Berliner Kongress "Perspektive Europa" und setzt ihn Zusammenhang mit den Rostocker Ereignissen. Nur im Irak sterben mehr Journalisten als in Mexiko, berichtet Klaus Ehringfeld auf der Medienseite - die Drogenmafia untergräbt die Pressefreiheit. In "times mager" beharrt Ina Hartwig nach Teilnahme an einem Kolloquium in Lyon darauf, dass sie als Literaturkritikerin ihre "innere Freiheit" behält, auch wenn sie Teil des Literaturbetriebs ist.

Tagesspiegel, 05.06.2007

Christiane Peitz macht sich die Mühe, die verfahrene Lage im Streit um die Rechte am Erbe Rainer Werner Fassbinders zu klären. Das erweist sich freilich als alles andere denn einfach: "Wer nachfragt, gerät in einen Wirbelsturm der Erregungen, eine Spirale des Hasses. Man beschimpft einander als besitzgierig und pathologisch und bezichtigt sich wechselseitig der Lüge. 'Eine kleine Maus', sagt die eine. 'Das Fräulein Lorenz', sagt die andere. Manchmal klingen die Sätze, als stammten sie aus einem Fassbinder-Film. Sätze wie: 'Sie hat seine Leiche gegessen, und dann ist sie enorm geworden.' Also bitte, die Fakten. Wer nach ihnen forscht, gerät in ein schier unentwirrbares Gestrüpp von widersprüchlichen Aussagen und Erinnerungen. Zum Beispiel die Sache mit der Heirat. Ein Dokument über eine Hochzeit von Juliane Lorenz mit Fassbinder scheint es nicht zu geben, sonst hätte Lorenz die Debatte damit beenden können."

SZ, 05.06.2007

Eine Doppelseite widmet sich der kommenden Documenta. Holger Liebs unterhält sich mit den Kuratoren Roger Buergel und Ruth Noack. Buergel verkündet bündig: "Wir wollen einem Massenpublikum Komplexität schmackhaft machen. Und zwar in Form einer indirekten Aktivierung, nicht im Sinne direkter Politisierung." Wofür wir in unserer Eigenschaft als Masse natürlich dankbar sind!

Liebs schreibt auch ein einführendes Glossar zu der Veranstaltung, und Jörg Heiser stellt drei Künstler vor, die auf dieser Documenta entdeckt werden sollen: Saadane Afif (mehr hier), Charlotte Posenenske (mehr hier) und Lee Lozano (Bilder).

Weitere Artikel: Andrian Kreye verweist nach den Krawallen von Rostock auf den Neo-Anarchisten und -Primitivisten John Zerzan (Website) als Theoretiker der Bewegung. Alexander Menden verkündet, dass wegen Platzmangels in Westminster ein Denkmalstopp verkündet wurde. Thomas Urban meldet, dass Dostojewski nach kurzfristiger Streichung wieder auf polnischen Lehrplänen stehen darf. Auch bei Goethe und Kafka stehen die Chancen gar nicht schlecht. Alex Rühle verfolgte ein Fußballspiel der Schriftstellernationalmannschaft.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotos Wolfram Hahns, der Kinder beim Fernsehen mit charakteristisch leerer Miene aufgenommen hat, in Berlin, "La clemenza di Tito" an der Berliner Staatsoper, die vor allem durch das Debüt Elina Garancas bestach (Wolfgang Schreiber verspürte ein "vollkommenes musikalisches Glücksgefühl"), ein Konzert von Linkin Park bei Rock am Ring, der Footballfilm "Invincible" und Bücher, darunter eine Malaparte-Anthologie.

Auf der Seite von Jetzt.de interviewt Jakob Schrenk den Soziologen Ulrich Beck über Chancen und - natürlich - Risiken der Globalisierungskritik. Auf der Medienseite zitiert Hans Leyendecker Herbert Grönemeyer, der nach der Enthüllung einer angeblichen Mauschelei zwischen Bob Geldof und Angela Merkel, welche die Mäßigung des superkritischen Grönemeyer im Sinn hatte, erwartungsgemäß empört ist.