Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.01.2006. Die taz stellt das nächste große Ding vor: Türkisch-deutsche Arabesk-Musik. In der Welt erzählt Andrej Kurkow von seinem ersten Jahr mit dem ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko. In der SZ kritisiert der ägyptische Schriftsteller Ahmad al-Aidi die Angst der deutschen Verleger vor oppositionellen Autoren. Und der Figaro zeigt einen interkulturellen Dialog zwischen John Galliano und der katholischen Kirche.

NZZ, 24.01.2006

Uwe Justus Wenzel hat sich bei der Eröffnungsveranstaltung des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts über den ersten Gastprofessor Fritz Stern und dessen lakonische Selbstcharakterisierung gewundert. "Was ist der Unterschied zwischen dem lieben Gott und den Historikern? Gott kann die Vergangenheit nicht ändern." Klaus Englert besichtigt Max Dudlers Diözesanbibliothek in Münster mit einem "schlauchförmigen Bibliothekssaal, der beim ersten Anblick fast wie eine Offenbarung wirkt". Lilo Weber meldet, dass die Kompanie "Rosas" der belgischen Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker ihre Heimstatt am Brüsseler Opernhaus verliert.

Besprochen werden der Auftakt der Salzburger Mozartwoche mit Doris Dörries "farcenhafter" Version von "La finta giardiniera", und Bücher, darunter Eugenijus Alisankas Gedichtband "aus ungeschriebenen geschichten", Muriel Sparks "vergnügtes vademecum" für angehende Autoren und Roman "Der letzte Schliff" sowie Gert Hofmanns Erzählband "Zur Phänomenologie des Snobs" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 24.01.2006

Der Figaro zeigt in einer sehr hübschen Bilderstrecke einen interkulturellen Dialog zwischen John Galliano und der katholischen Kirche.
Stichwörter: Galliano, John

FR, 24.01.2006

Ina Hartwig stellt in der Times-Mager-Kolumne fest, dass Orhan Pamuk mit der Einstellung des Verfahrens gegen ihn wegen "Verunglimpfung des Türkentums" nicht freigesprochen wurde: "Zum Jubilieren besteht kein Grund - zumal etliche Intellektuelle derzeit in der Türkei vor Gericht stehen, worauf Pamuk, der gewiss Prominenteste, hinzuweisen nicht müde wird."

Weitere Artikel: Niels Werber setzt sich mit Udo di Fabios Buch "Die Kultur der Freiheit" und dem intellektuellen Profil der Großen Koalition auseinander. Elke Buhr kommentiert etwas schadenfroh, dass Österreich nun fünf Klimt-Gemälde an die Erbin der ursprünglichen Besitzer zurückgeben muss, die einst von den Nazis enteignet wurden.

Besprochen werden Catherine Davids "Middle East News"-Wochenende in Berlin, Pascal Dusapins Oper "Faustus, the Last Night" in der Berliner Staatsoper, Astor Piazzollas Oper "Maria de Buenos Aires" in der Komischen Oper in Berlin, das neue Album der amerikanischen Songwriterin Cat Power sowie jede Menge Mozart-Bücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 24.01.2006

Daniel Bax stellt das nächste große Ding vor: Türkisch-deutsche Arabesk-Musik! Ihre Stars sind Murat "Muhabbet" Ersin ("Sie liegt in meinen Armen") und das Duo Mehmet und Murat (mehr), die sich "im Internet schon eine richtige Fanbasis erarbeitet" haben. "In türkischen Chatforen findet man hingebungsvolle Lobeshymnen meist weiblicher Fans auf sie. Das liegt sicher an ihrem Mut zum großen Gefühl, um nicht zu sagen Kitsch. Denn Zeilen wie 'Wo bist du / Du weißt genau, ich liebe dich / Wo bist du / Du weißt genau, ich brauche dich / Wo bist du / Lass mich bitte nicht allein / Ich liebe dich und sonst keine' sind an Pathos kaum zu überbieten. So klingt es also, wenn türkische Männer zu sehr lieben."

In der Reihe über die Neue Bürgerlichkeit denkt Mark Terkessidis über den Begriff der "Eigenverantwortlichkeit" nach. Zwar reden alle darüber, wie wünschenswert diese sei, aber in der Wirklichkeit wird sie nicht honoriert. "Deutschland misstraut man dem Individuum so sehr, dass zu viel Initiative letztlich eher als Bedrohung wahrgenommen wird", wie Terkessidis aus eigener Erfahrung weiß. "Eigeninitiative führt zu gar nichts. Gerade an der Universität haben in den letzten Jahren oft genug intellektuell mittelmäßige Typen Stellen bekommen, die sich beharrlich hochgedient haben. Erfolg haben diejenigen mit den richtigen Beziehungen, die den richtigen Stallgeruch verströmen und mit dem Flow gehen. Kein Wunder, dass dieser Filz für Arbeiterkinder, Frauen, Migranten und andere Minderheiten selbst bei ausgezeichneten Leistungen völlig undurchlässig ist."

Weitere Artikel: Christian Böcking schreibt über den Tour-Auftakt des Jazz-Pianisten Brad Mehldau. Gerrit Bartels fragt sich, ob der Luchterhand Verlag die Veröffentlichung von Ulrike Draesners München-72-Roman "Spiele" nicht zielgerichteter auf Spielbergs "München"-Filmstart hätte abstimmen sollen.

In der tazzwei erklärt sich Robert Misik Angela Merkels derzeitige Beliebtheit mit der Tatsache, dass sie auf "männliche Machtgesten" verzichtet. Und Dorothea Hahn schreibt über Mukhtar Mai, eine Pakistanerin, die es wagte, ihre Vergewaltiger vor Gericht zu bringen. Die Geschichte hat sie jetzt in einem Buch erzählt, das demnächst auf Deutsch unter dem Titel "Die Schuld, eine Frau zu sein" erscheint. Auf der Meinungsseite kommentiert Jürgen Gottschlich die Einstellung des Verfahrens gegen Orhan Pamuk in der Türkei.

Besprochen werden: eine Ausstellung mit Fergus Greers Fotos des Entertainers, Modedesigners, Musikers, Tänzers, Kostümbildners, Performers, Boy George- und Madonna-Vorbildes Leigh Bowery im Düsseldorfer NRW-Forum Kultur und Wirtschaft.

Schließlich Tom.

Welt, 24.01.2006

Der in Kiew lebende Schriftsteller Andrej Kurkow erzählt von seinem "ersten Jahr mit dem ukrainischen Präsident Viktor Juschtschenko". Ihm ist nämlich etwas aufgefallen: "Viktor Juschtschenko ist ein Don Quijote, der gegen Russland und gegen seine einheimischen Feinde kämpft, die im Parlament sitzen. Überdies ist sein Schicksal tragischer als jenes Don Quijotes. Denn Juschtschenko hat keinen Sancho Pansa. Er ist dort oben ganz allein. Das Volk liebte und unterstützte ihn anfangs; jetzt bedauert es ihn eher, als dass es ihn liebt. Das Volk wollte einen entschlossenen Präsidenten, den seine Feinde fürchten. Das erste halbe Jahr lang fürchteten sie ihn tatsächlich. Aber dann begannen sie zu denken: 'Wovor fürchten wir uns eigentlich? Juschtschenko ist doch ein guter, stiller Romantiker.'"

Weiteres: Als "virtuos geschmettertes und gegröltes" rohes Lied hat Reinhard Wengierek Sergi Belbels Familiensaga "Wildfremde" am Schauspiel Leipzig erlebt: "Kloppen und zwischendurch kurz Küssen und wieder Kloppen. Wilder und wiederum herzzerreißender Verismus." Uwe Schmitt sinniert über das amerikanische Unwort des Jahres 2005 "Truthiness", was man vielleicht als "gefühlte Wahrheit" übersetzen könnte. Michael Pilz fragt sich angesichts derzeitiger Temperaturen, warum die Popkultur eigentlich Coolness glorifiziert. Dankwart Guratzsch berichtet von den Frankfurter Römerberggesprächen, die dem "Umbau der Stadt" gewidmet waren. Besprochen wird auch Jossi Wielers Inszenierung von Glucks "Alceste" in Stuttgart.

FAZ, 24.01.2006

Im Aufmacher macht Dietmar Dath die Amerikaner für die iranische Atompolitik verantwortlich, da sie den Iranern die irakischen Experten in die Arme getrieben und sich zuvor schon der Niederschlagung des Sozialismus schuldig gemacht hätten, weshalb nun auch Wissenschaftler und Bauteile auf dem alternativlos gewordenen freien Markt frei zirkulieren. Wolfgang Günter Lerch kommentiert die vom türkischen Justizministerium beschlossene Einstellung des Prozesses gegen Orhan Pamuk ("Man geht kaum fehl in der Annahme, dass das international verheerende Echo auf das Vorgehen der türkischen Justiz die Entscheidung des Ministers erheblich gefördert hat.") Freddy Langer porträtiert den Fotografen William Klein (Bilder), dem in Paris eine Retrospektive gewidmet wird. Dirk Schümer amüsiert sich in der Leitglosse über den Plan, in Venedig ein Erotikmuseum zu eröffnen. Martin Halter freut sich über die Rückkehr von Cellinis gestohlenem Salzfässchen in die Wiener Albertina. Gina Thomas schreibt zum Tod des britischen Numismatikers und Exzentrikers Philip Grierson. Karol Sauerland resümiert polnische Diskussionen über die Wandlung Adam Michniks, der als einstiger Dissident heute Verständinis für die Einführung des Kriegsrechts im Jahr 1981 zeigt.

Auf der DVD-Seite werden Neueditionen von Filmen Dziga Vertovs, Ernst Lubitsch' und Angela Schanelecs besprochen. Und Andreas Platthaus vermisst eine Pasolini-Edition. Auf der Medienseite fordert Michael Hanfeld einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss im Fall Osthoff. Auch auf der Technik-und-Motorseite befasst sich eine Glosse mit fehlenden DVD-Editionen: Deutsche Stummfilmklassiker muss man aus den USA reimportieren und dann erst mal den Ländercode knacken.

Auf der letzten Seite erinnert Jordan Mejias an eine von Saint Louis ausgehende Expedition vor 200 Jahren, in der zum ersten Mal der Westen des Landes erkundet wurde. Tilmann Lahme schildert den Fall eines nicht namhaft gemachten Rostocker Germanisten, der wegen Diebstahls kostbarer Bücher aus der Uni-Bibliothek zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt wurde und nun in die Berufung gehen will. Und Andreas Kilb lauschte einer Lesung Salman Rushdies aus seinem neuen Roman in Berlin.

Besprochen werden ein Liederabend des Schauspielers Clemens Sienknecht in Basel, Bellinis "Norma" mit Edita Gruberova in München, Astor Piazzolas Oper "Maria de Buenos Aires" an der Komischen Oper Berlin, Christopher Hamptons Dramatisierung der "Gefährlichen Liebschaften" in Dortmund und eine CD der übriggebliebenen Punkband TV Smith.

SZ, 24.01.2006

"Wenn ein Ägypter an Deutschland denkt, assoziiert er damit automatisch Mercedes-Benz-Limousinen. Und das Goethe-Institut, das die ägyptische Intelligenz gern aufsucht, um kostenlos edlen Wein zu trinken, gute Küche zu genießen und gleichzeitig bedeutenden Kulturveranstaltungen zu lauschen," schreibt der ägyptische Schriftsteller und Karikaturist Ahmad al-Aidi zur Eröffnung der 38. Buchmesse in Kairo, deren erster Ehrengast überhaupt die Deutschen sind. "Auffällig war jedoch, dass der ägyptische Merit-Verlag im deutschen Programm unberücksichtigt blieb. Dieser unabhängige Verlag legt in diesem Jahr 50 neue Titel aus den Bereichen Literatur, Politik und Soziologie vor (eine Rekordzahl im Vergleich mit anderen ägyptischen und arabischen Verlagen), fünf davon sind deutsche Bücher, die mit deutscher Unterstützung übersetzt werden - 2004 und 2005 waren es insgesamt 25! Der Verlagschef Mohammed Haschim war in den vergangenen drei Jahren auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast, aber er ist ein Oppositioneller... Es scheint, dass die Deutschen, die sich nicht scheuten, ihn nach Frankfurt einzuladen, nun plötzlich Angst davor haben, einen oppositionellen Kulturschaffenden als Gast bei sich auftreten zu lassen und den Gastgeberstaat damit zu verprellen."

Das Gerede über Christoph Schlingensief als begabten Wirrkopf dürfte nun zu Ende sein", meint ein begeisterter Helmut Schödel nach der Premiere von "Area 7. Matthäusexpedition" am Wiener Burgtheater. "Man hatte, zugegeben, auch als Freund seiner Arbeiten zwischendurch reichlich Gelegenheit, sich an die Stirn zu fassen. Was jetzt allerdings vorliegt, ist ein Weltentwurf. Spätestens nach diesem Kraftakt in Wien gehört er, was man in der bildenden Kunst ganz anders als in der Theaterkritik längst begriffen hat, zu den großen deutschen Künstlern."

Weitere Artikel: Merten Wortmann schickt Eindrücke vom dreitägigen Gastronomie-Gipfeltreffen Madrid Fusion. Wolfgang Schreiber schlägt einen gewagten assoziativen Bogen von Mozarts Geburtstag zu Guiseppe Verdis Todestag am 27. Januar. Alexander Kissler berichtet über den Finanzstreit zwischen dem Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt und der Synagogengemeinde Halle, bei dem es um zweieinhalb Mllionen Euro geht. Kissler kommentiert auch Umberto Ecos Erziehungstipps gegen das Zusammengoogeln von Seminararbeiten. Oliver Elser schreibt über die Tagung "Zukunft lokaler Kunstmuseen", zu der das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) am vergangenen Wochenende nach Wien geladen hatte. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Münchner Filmemachers und Produzenten Franz Seitz. Johannes Wilms preist Michelangelo Antonionis Film "Blow Up" als Teil 47 der hauseigenen DVD-Reihe an. Im Übrigen wird vermeldet, dass in Köln am 3. Februar Deutschlands erste "Kunstklappe" für reumütige Kunstdiebe eröffnet wird.

Auf der Medienseite informiert Carla Palm über die Krise des US-Nachrichtenmagazins "Time", das seine Informanten nicht beschützt und zuwenig Rendite macht.

Besprochen werden Catherine Davids Kunstwochenende "Middle East News" am Berliner HAU, Francis Poulencs Oper "Die Brüste des Teiresias", Bohuslav Martinus' Oper "Ariadne" an der Kölner Oper, die zwei DVDs "The Corporation" von Mark Achbar und "Kolp" von Roland Suso Richter, und Bücher, darunter Silvia Szymanskis Roman "Hotel Central" und ein Fotoband über Thomas Bernhard (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).