Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.10.2004. Die FAZ sieht mit den "wilden Streiks" von Bochum das Ende der Konsensrepublik gekommen. In der SZ warnt Leon de Winter vor einem neuen, islamistisch geprägten Antisemitismus. Die FR informiert über ein Manifest von Neurowissenschaftlern, das der Willensfreiheit noch eine Chance gibt. Die taz macht sich Gedanken über die Unterschiede zwischen einer Kultur des Buches und einer des Fernsehens. Alarmierendes aus China in der NZZ: Zu viele Männer, zu wenige Frauen.

FAZ, 19.10.2004

Nicht weniger als ein deutliches Signal für das Ende der bundesdeutschen Konsensrepublik erkennt Andreas Platthaus in den "wilden Streiks" von Bochum. "Was, was man mit einem Begriff aus der alten, der korporativen Bundesrepublik nun 'wilden Streik' nennt, ist ein Warnsignal, das alle Beteiligten an der empfindlichsten Stelle trifft. Den Gewerkschaften wird ihre Machtlosigkeit vorgeführt. General Motors bekommt die Folgen eines weltweit vernetzten Konzerns zu spüren, wo der Ausfall eines Produktionsteils zur Stillegung eines anderen führen kann. Und die Politik erhält ein Misstrauensvotum, weil sie fünfzig Jahre lang vom Konsensmodell gelebt und es gefördert hat."

Weitere Artikel: Gegenwind aus zwei Richtungen gab es bei den Resümees des Schwerpunkts zu arabischer Literatur bei der Buchmesse, wie Stefan Weidner berichtet. Verblüfft zeigt man sich dabei von der Kritik der arabischen Exilautoren an ihren nicht emigrierten Kollegen. Kerstin Holm berichtet von den Befürchtungen ukrainischer Schriftsteller, das Land könnte bei der bevorstehenden Wahl ein zweites Weißrussland werden. Niklas Maak berichtet von einem Kongress im Palast der Republik zur Zukunft des Palasts der Republik, die nach Meinung der Teilnehmer nicht in seinem Abriss bestehen sollte. Auch über die Ergebnisse einer Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker in Berlin werden wir informiert. Eine Ausstellung zu "Turner und Venedig" hat der Venedig-Korrespondent Dirk Schümer besucht.

Außerdem: Martin Halter hat in Freiburg einen dahinplätschernden "Ödipus" und eine spannende "Antigone" gesehen. Ein großer Publikumserfolg mit viel "zünftigem Handwerker-Denken" waren die Tage Neuer Musik in Donaueschingen - auf der "Prüfliste der Sparkommissare" steht das Festival dennoch. Spannungslos dagegen das NDR-Sinfonieorchester unter Christoph von Dohnanyi. Edo Reents bespricht die neue Platte von Nancy Sinatra (ihre Website). Andreas Platthaus gratuliert dem Soziologen Dirk Kaesler zum 60. Geburtstag und Patrick Bahners dem Merseburger Domkapitel zum 1000. Heinrich Detering schreibt den Nachruf auf den dänischen Dichter Per Hojholt. Gemeldet wird, dass die British Library nun mit der Sammlung von E-Mail-Korrespondenzen von Dichtern und Denkern beginnt. Wir erfahren auch, dass sich der Völkermörder Radovan Karadzic als Romanautor zurückgemeldet hat.

Und noch mehr: Martin Kämpchen macht sich Gedanken über den von V.S. Naipaul verkündeten Schreibstopp. Dass sich in einem Anfall provinzieller Geistesverwirrung ein PDS-Politiker in Neukirchen-Seelscheid mit der NPD verbündet hat, wird von Andreas Rosenfelder glossiert. Auf der Medien-Seite gratuliert Paul Ingendaay der spanischen Tageszeitung "El Pais" zur zehntausendsten Nummer. Besprochen werden ein Roman von Helene Lenoir und eine forensische Studie, die Friedrich Schiller das Denken eines Serienkillers bescheinigt. (Mehr dazu in der Bücherschau.)

NZZ, 19.10.2004

Von einem "alarmierenden Männerüberschuss" in China berichtet der Aufmacher. Der Grund ist die Kombination der traditionellen Höherschätzung des Mannes mit der nun Folgen zeitigenden Ein-Kind-Politik: "Statistische Angaben der Regierung zeigen, dass in China für je 100 Mädchen 117 Knaben geboren werden. In der reichen südchinesischen Provinz Guangdong sind es gar 130 Knaben je 100 Mädchen. Es wird geschätzt, dass bis 2020 dreissig bis vierzig Millionen Männer zum Junggesellenleben keine Alternative haben werden. (...) Doch die ganze Entwicklung nahm völlig neue Dimensionen an, als die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung allgemein zugänglich wurde. So lassen die Statistiken darauf schliessen, dass bei weiblichen Föten die Abtreibungsquote viel höher liegt als bei männlichen. Dies erklärt, weshalb relativ reiche Gebiete eine besonders hohe Knabenquote aufweisen."

Weitere Artikel: Carole Gürtler stellt die im Hinterland der Cote d'Azur gelegene private Kunstsammlung Fondation Maeght vor. In Bern verspielt die Regie Roland Schimmelpfennigs Stück "Die Frau von früher", bedauert Beatrice Eichmann-Leutenegger. Sonst nur Besprechungen, so von Elias Khourys Palästina-Roman "Das Tor zur Sonne" und dem Roman "Cola Cola Jazz" von Kangni Alem. An Sachbüchern wird eine Studie von Siegfried J. Schmidt zur Unternehmenskultur und eine Untersuchung zum Umgang mit dem Nazi-Bauerbe rezensiert. (Mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)

TAZ, 19.10.2004

In der Kolumne Sozialkunde eruiert Dirk Baecker, was Nagib Machfus in der Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse mit seiner These gemeint haben könnte, wonach es eine "natürliche Koalition zwischen Schrift- und Buchkultur gegen die Kultur des Fernsehens" gebe. Nach einem kleinen Exkurs stellt Baecker klar: "Nichts könnte größer sein als der Unterschied zwischen einer Schriftkultur und einer Buchdruckkultur. Die eine setzt auf das Erleben des gesprochenen, die andere auf die Kritik des geschriebenen Wortes. Und erst am Bildschirm des Computers finden sie zueinander."

Weiteres: Helmut Höge hat sich in die Lektüre russischer Klassiker - darunter Puschkin und Tolstoi - gestürzt, um die "Unbarmherzigkeit des aktuellen Tschetschenienkriegs" besser zu begreifen. Sebastian Fellmeth berichtet über das Goethe-Institut in Hanoi, das sich seine Veranstaltungen staatlicherseits zwar nicht genehmigen lassen muss, aber dennoch Probleme hat. Und in tazzwei arbeitet sich Marco Stahlhut an Robbie Williams ab, der - gerade 30-jährig - schon mal Erinnerungen vorlegt.

Besprechungen: Jan-Hendrik Wulf stöbert in den neuen Ausgaben von Literaturen, in der sich "alles um Liebe dreht", und dem Schreibheft, das dem lyrischen Werk von Herman Mellville gewidmet ist. Katrin Bettina Müller sah im Berliner HAU-Theater die New Yorker Performancegruppe Big Art Group.

Und hier Tom.

FR, 19.10.2004

Christine Pries informiert unter der Überschrift "Neue Bescheidenheit" über ein Manifest (Text hier), das elf führende Neurowissenschaftler in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Gehirn & Geist veröffentlicht haben. "Bei allen Fortschritten, die die Neurobiologie im letzten Jahrzehnt gemacht hat, sei die Beantwortung der großen Fragen, zu denen neben der Vorstellung des freien Willens auch die des Bewusstseins und der Ich-Erfahrung gehören, in den nächsten zehn Jahren eher unrealistisch. Ja: 'Selbst ob wir sie bis dahin auch nur sinnvoll angehen können, bleibt fraglich. Dazu müssten wir über die Funktionsweise des Gehirns noch wesentlich mehr wissen.'"

Harry Nutt kommentiert die Krisen bei Opel und Karstadt und die gegenwärtigen "Erzählungen vom Niedergang", die sich vor allem in Talkshows von Christiansen bis N24 stark von einer gefühlten Unternehmenskultur leiten ließen. Florian Malzacher berichtet vom "Teatergarasjen" in Bergen, dem inzwischen wichtigsten Theaterfestival Norwegens. Außerdem zu lesen ist ein launiger Hinweis auf die Lesereise von Thomas Brussig, auf der dieser sein neues Buch "Wie es leuchtet" präsentiert (606 Seiten. "Und das für nur 19 Euro 90, wo findet man das noch?"). In Times mager stöhnt Hilal Sezgin über Logik und binäres Rechnen.

Suggestiv das Plakat, "furios" der "Beginn der Schau" urteilt Oliver Herwig über die Ausstellung "ArchiSkulptur - Dialoge zwischen Architektur und Plastik seit dem 18. Jahrhundert" in der Fondation Beyeler in Basel. Besprochen werden außerdem die als "temporärer Eingriff" bewertete Installation "Durchnässt" von Ayse Erkmen in der Rotunde der Schirn Kunsthalle Frankfurt, ein Konzert des Jazzsaxofonisten James Carter in Darmstadt und ein Frankfurter Abend der ersten Konzertreise der NDR-Sinfoniker mit ihrem neuen Leiter Christoph von Dohnanyi. Und Roman Luckscheiter blättert in den jüngsten Ausgaben der Zeitschriften Sprache im technischen Zeitalter, Wespennest und die horen.

SZ, 19.10.2004

In einem sehr persönlichen Text formuliert der Schriftsteller Leon de Winter (mehr) seine Befürchtungen, dass es in Europa erneut zu antisemitischen Übergriffen kommen könne. "Ich fürchte, dass die Islamisten ihren Judenhass direkt oder indirekt auf andere übertragen. Ich fürchte, dass man, wenn in Europa ein vernichtender Anschlag stattfinden sollte, die Juden bezichtigen wird, sie hätten das mit ihrem arroganten jüdischen Staat provoziert. Ich fürchte, dass die Geschichte, diese endlose Kette von Skandalen, so funktioniert. Der Skandal des Antisemitismus ist quicklebendig. Das wittere ich. Ich habe einen Riecher dafür."

Weitere Artikel: Tobias Moorstedt beschäftigt sich mit neuen Fernsehformaten, die dem modernen Menschen aus seiner "modischen und technischen Unmündigkeit" helfen sollen: das Stichwort dafür lautet "Dekotainment". Im Aufmacher bespricht Bernd Graff das Computerspiel "Doom 3", eine "opulent aufbereitete Liquidierungsorgie", die die "neue Gewalt der Bilder" belege. Wolfgang Schreiber resümiert die Donaueschinger Musiktage, die diesmal von Komponisten angelsächsischer Länder und einem "rätselhaft" bleibenden Stück von Stockhausen dominiert wurden. Helmut Mauro beklagt die beim Brand in der Anna-Amalia-Bibliothek vernichteten Musikmanuskripte. Fritz Göttler berichtet über viel französisches und asiatisches Kino auf der diesjährigen Viennale. eye informiert über eine Debatte, die sich in den USA um "Doping im Orchestergraben" dreht: Musiker schlucken reihenweise Betablocker gegen Lampenfieber. Außerdem kommentiert auch die SZ das heute erscheinende "Manifest" von elf Gehirnforschern in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Gehirn & Geist. Zu lesen ist schließlich ein Nachruf auf den dänischen Lyriker Per Hojholt.

Besprochen werden eine Ausstelllung des polnischen Künstlers Pawel Althamer im Bonnefantenmuseum in Maastricht, eine Inszenierung von Tom Peuckerts Stück "Dionysos Deutschland" am Freiburger Theater, Bizets "Carmen" unter der Leitung von Constanin Carydis in München und Bücher, darunter die gerade in Frankreich erschienenen, bisher unveröffentlichten Geschichten vom "Petit Nicolas" bzw. "Kleinen Nick" (IMAV) des Duos Sempe/Goscinny, eine neue Biografie über Friedrich den Großen, Carl-Johann Vallgrens Roman "Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe" und eine Neuübersetzung von Laurenzo Vallas "Von der Lust oder Vom wahren Guten" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr)