Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.06.2004. In der FR versucht der Philologe Helmut Müller-Sievers zu erklären, warum wir die Amerikaner lieben müssen. In der NZZ warnt Sonja Margolina vor Kulturtheoretikern, die sich über den Sozialismus und seine sterblichen Überreste hermachen. Die taz erklärt, warum Scheitern sinnvoll und das Schrumpfen der Stadt Dessau schön ist. In der FAZ enthüllt Amir Hassan Cheheltan: Das ganze iranische Volk ist gefälscht.

FR, 15.06.2004

Im ersten Beitrag einer Textserie zum amerikanischen Wahlkampf versucht der seit 14 Jahren in Chicago lebende Professor für Deutsche und Klassische Philologie, Helmut Müller-Sievers, zu erklären, warum man "die Amerikaner lieben" muss und weshalb das gerade den Deutschen heute so schwer gelingen will: "Ein Faktor in dieser Abwendung ist sicherlich, dass die Liebe zu Amerika, als sie noch vorhielt, immer zu stürmisch, zu unwissend, zu leichtfertig gewesen ist... Tiefe und vitale Beziehungen zur amerikanischen Kultur hätten verhindert, dass sich ein Land oder ein ganzer Kontinent enttäuscht von seinem Partner abwendet. Wir alle lieben ja immer noch Italien, obwohl das Land momentan auch von ziemlich finsteren Gestalten regiert wird."

Der österreichische Schriftsteller Franzobel beschreibt Irrsinn und Triumph seiner Teilnahme am Internationalen Marathon in Prag. Hier der Triumph: "Im Pulk war ein Hobbyläufer namens Bruckner oder Brahms, den habe ich von Berlin oder London gekannt. Achtmal habe ich ihn überholt. Jedes Mal hat er mich wieder gefragt: 'Wo kommst denn du schon wieder her? Haben wir uns heute nicht schon mal gesehen?' Der hat geglaubt, er träumt." Trotzdem und auf immer unbegreiflich: Warum nur tun Menschen so was?

Weiteres: Barbara Wündisch erinnert an die Gründung des Jüdischen Frauenbunds vor hundert Jahren, Thomas Veser skizziert die Probleme von Archäologen in Akko, der israelischen Hafenstadt aus der Zeit der Kreuzzüge, die auf die Weltkulturerbeliste der Unesco gesetzt wurde, und in Times mager bemängelt Stefan Keim an den ersten Ruhrfestspielen unter der Leitung von Frank Castorf fehlende Vielfalt sowie "Auslastungszahlen ungefähr in Höhe der Wahlbeteiligung bei der Europawahl". Und auf der Medienseite untersucht Sebastian Moll, wie die amerikanischen Leitmedien inzwischen ihre Bush-freundliche "Hofberichterstattung" vergangener Zeiten "geißeln".

Besprochen werden schließlich eine Ausstellung mit zwei "bezwingenden" Fotoserien von Hans-Christian Schink im Berliner Gropius-Bau, die Uraufführung der Oper "Die Schnecke" von Moritz Eggert und Hans Neuenfels am Nationaltheater Mannheim und ein Konzert der New Yorker Band Television in der Berliner Volksbühne.

NZZ, 15.06.2004

In Berlin fand gerade der Kongress "The Post-Communist Condition" statt. Die Konferenz, geleitet von Boris Groys, wollte der Frage nachgehen, wie die Kultur der osteuropäischen Länder auf den Zusammenbruch des Kommunismus reagiert hat. Die Konferenz selbst war für Sonja Margolina eher Destruktion als Dekonstruktion: Die Zerstörung der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" in Russland - Ausstellungsmacher und Künster stehen zur Zeit wegen "Beleidigung der Würde von Personen in ihrem Verhältnis zum orthodoxen Christentum" vor Gericht - "wurde von Swetlana Boym als Happening, als religiöser Modernismus gedeutet - die Freude, einen theoretischen Mehrwert aus dem kuriosen Vorfall schlagen zu können, schwang dabei mit. Dieser Umgang mit Realität und Geschichte ist exemplarisch für die ganze Gattung der Kulturtheoretiker, die sich über den Sozialismus und seine sterblichen Reste hermachen, um die Phänomene in einem 'metatheoretischen Diskurs' zu dekonstruieren. Allerdings ist Kultur in den meisten postsozialistischen Staaten nicht auf Performance und Installation zu reduzieren. Sie bleibt eine Kultur der Entwürdigung und Anomie, der Verfügungsgewalt über den Mitmenschen. Das Bedürfnis, sie durch nebulöse Metaphern zu 'entwirklichen', zeugt von verkappter Angst vor der Wirklichkeit."
Begleitet wird die Konferenz von der Ausstellung "Privatisierungen. Zeitgenössische Kunst aus Osteuropa" in den Berliner Kunst-Werken.

Weitere Artikel: Gieri Cavelty berichtet über die Literaturveranstaltung "Symphonie der Wasserfälle" im Maderanertal. Besprochen werden die "Inszenierung eines Textschnipselkonvoluts von Gesine Danckwart" bei den Wiener Festwochen, Richard Strauss' Oper "Daphne" in der Wiener Staatsoper und Bücher, darunter die Essays von Juri Andruchowytsch und Andrzej Stasiuk in "Mein Europa" und Joakim Garffs Kierkegaard-Biografie (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 15.06.2004

Ein Spezial widmet sich heute der Stadt Dessau in Sachsen-Anhalt. Nina Apin etwa untersucht die Schönheit des Schrumpfprozesses, in dem die nicht abgewanderten Einwohner bereit seien, "ihre Heimat neu zu erfinden". Jens Hinrich wandelt dagegen auf den Spuren des jüdische Philosophen Moses Mendelssohn, der als Junge von Dessau nach Berlin wanderte, und hat getestet, wie sich diese 143 Kilometer Fußweg heute anfühlen. "Ich verfranse mich wie Hänsel und Gretel. Nur der Kompass hilft mir nach Jeseriger Hütten. 'Die Veränderungen in der Natur geschehen mehr nach einer krumen als nach einer graden Linie,' schreibt Mendelssohn im 'Phädon'." Bauhausarchitektur-Experte Thomas Danzl erläutert in einem "Dialog" die unterschiedlichen denkmalpflegerischen Ansätze für die so genannten "Meisterhäuser", zu lesen sind des weiteren ein kleiner Abriss über die Utopien des Bauhauses, ein historisch ausgreifender Bericht über das Anhaltische Theater Dessau, das einmal das "Bayreuth des Nordens" gewesen ist, das Porträt eines Mannes, der Türklinken, genauer: den Gropius-Drücker sammelt und ein Bericht über das alljährliche Kurt-Weill-Musikfestival (mehr hier).

Und nun zur Kultur: Im Interview erläutert der Berliner Kultursenator Thomas Flierl, inwiefern "Scheitern auch Sinn machen" kann (tut es zwar garantiert nie, weil es einen solchen höchstens ergeben kann, aber das anzumerken ist in etwa so sinnlos, "wie wenn man einem Ochsen ins Horn pfetzt", wie meine Mutter zu sagen pflegt). Flierl meint jedenfalls folgendes dazu: "Selbst gescheiterte Utopien sind Teil der Menschheitserfahrung, und aus welch anderen Zusammenhängen soll eine sich selbst aufklärende Gesellschaft schöpfen, wenn nicht aus ihren Zuversichten und aus ihrem Scheitern. Im Bereich der Kultur ist nichts umsonst, selbst wenn es mitunter oft als kulturelle Tat erscheint, sich davon etwas zu befreien."

Jörg Becker erinnert zum sechzigsten Todestag an den Historiker Marc Bloch, und wir lesen einen Nachruf auf Norbert Karl, den Wiener, der Anfang der Neunziger das Hamburger Nachtleben neu erfunden hat und der Clubszene nun sehr fehlt.

Besprochen werden ein "Inszenierungsversuch" von Giuseppe Verdis "Don Carlo" an der Berliner Staatsoper, ein Konzert des "begnadeten Michael Jackson-Darstellers" Usher im Berliner Velodrom, und das Daumenkino widmet sich dem Liebesdrama "Reconstruction", dem Debütfilm des dänischen Regisseurs Christoffer Boe.

Und hier Tom.

SZ, 15.06.2004

In zehn Kapiteln erläutert Willi Winkler, wie es möglich ist, bei der Werkschau von Martin Parr (mehr) in den Hamburger Deichtorhallen "nicht in den Farben des Fotografen zu ertrinken". Beispielsweise Punkt Zehn: "Oder Hamburg. Draußen regnet es noch immer. Martin Parr wäre jetzt fröhlich pfeifend in seinen Taucheranzug gestiegen, hätte die extralangen Schwimmflossen angelegt und die missmutig triefenden Passanten fotografiert, grau in grau in schwarz. Und mitten dazwischen hätte er, weißgottwoher, einen knallroten Fleck entdeckt. Die Welt ist schön."

Weitere Artikel: Andrian Kreye erinnert an eine Schiffskatastrophe vor hundert Jahren, als mit der "General Slocum" ein Großteil der Gemeinde von New Yorks "Kleindeutschland" umkam. Fritz Göttler berichtet über Hintergründe des Krachs bei Disney um Michael Moores "Fahrenheit 9/11". Alexander Kissler weiß von einigen deutschen EU-Abgeordneten, die in einem Brief den US-Präsidentschaftskandidaten John Kerry von den Nachteilen des Klonens überzeugen wollen. Jens Bisky zieht nach fünfjährigem Bestehen eine Bilanz des Hermann-von-Helmoltz-Zentrums für Kulturtechnik in Berlin, und Stefan Rebenich gratuliert dem Berliner Botanischen Garten zum hundertsten Geburtstag. Sebastian Handke resümiert einen Berliner Kongress, auf dem nach dem Post-Kommunismus gefahndet wurde. Stefan Tschirpke besuchte das Lenin-Museum im finnischen Tampere, dem "Manchester des Nordens". In der "Zwischenzeit" denkt Wolfgang Schreiber darüber nach, wie viel Musik eigentlich in der "Fernsehsportart Fußball" drin ist, und "midt" listet einige verstörende "Identitätsverwirrungen" dieser Tage auf.

Auf der Medienseite wird ein Gerücht amtlich: Giovanni di Lorenzo, noch Tagesspiegel, wird Chefredakteur der Zeit in Hamburg. Seine Vorgänger Josef Joffe und Michael Naumann werden schreibende Herausgeber.

Besprochen werden ebenfalls die Uraufführung der Oper "Die Schnecke" von Moritz Eggert und Hans Neuenfels am Nationaltheater Mannheim, Christian Stückls Opernregiedebüt mit Beethovens "Fidelio" in Köln, eine "lauwarme" Veranstaltung der Experimentierbühne des Kieler Schauspiels mit dem Stück "Halb so wild" aus der Feder von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, die Filme "The Perfect Score" von Brian Robbins und "Catch That Kid" von Bart Freundlich.

Und natürlich Bücher, darunter Klaus Theweleits Buch über den Fußball als Realitätsmodell, Alistair MacLeods Erzählband "Die Insel" die bisher nur auf Englisch erschienene Studie "War against the Weak" über Eugenik in den USA, ein Band über die Aufarbeitung deutscher Gewalttaten der Jahre 1941-1944 in Griechenland, die jüngste Ausgabe der Zeitschrift transversal, in der die Schriften des jüdischen Neurologen Max Sichel über die "jüdische Nervosität" analysiert werden, sowie ein Hörbuch über die Gangsterparodiereihe des br "Dickie Dick Dickens" (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 15.06.2004

Alles gefälscht im Iran, erzählt der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan, sogar gefälschte Medikamente sind in Umlauf. Und "das Gerücht von der Existenz eines gefälschten Volks gewann in dem Augenblick an Substanz, in dem die Konservativen verlautbaren ließen, das iranische Volk habe mit seiner überwältigenden Beteiligung an den Parlamentswahlen einen Mythos geschaffen, und als die Reformer im Gegenzug erklärten, die Bevölkerung habe die aktive Teilnahme an den Wahlen verweigert. Ganz offensichtlich ist eines dieser beiden Völker gefälscht."

Im Aufmacher nimmt Jürgen Kaube vor dem heutigen Klassiker Deutschland-Niederlande einige soziologisierende Fußballtheorien a la Theweleit (mehr hier) über nationale Mentalitäten, die sich in der jeweiligen Spielweise ausdrückten, unter die Lupe und kommt zu dem Ergebnis: "Das Hin und Her des Balls lässt sich nicht sinnhaft und schon gar nicht moralisch oder soziologisch verrechnen. Die Strecken vom eigenen zum fremden Tor sind lang, viele Spieler stehen im Weg, die strategischen Möglichkeiten sind ungezählt, die Situation für den einzelnen Spieler ist zumeist viel unübersichtlicher als in anderen Ballspielen, und der Untergrund ist uneben."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus hält in der Leitglosse an dem Recht fest, Buschmänner Buschmänner zu nennen, auch wenn sie sich selbst anders nennen. Gerhard Koch gratuliert dem Regisseur Joachim Herz zum Achtzigsten. Paul Ingendaay schickt Eindrücke von der Madrider Buchmesse. Marc Degens hat den Erlanger Comicsalon besucht. Arnold Bartetzky beklagt eine neue Abrisspolitik in Leipzig, die verfallende Gründerzeitenbauten durch grüne Flecken ersetzt - nun soll auch die neoklassizistische "Kleine Funkenburg" geschleift werden.

Auf der Medienseite berichtet Elke Bihusch aus Vilnius, dass immer mehr Filme und Fernsehfilme in den baltischen Staaten gedreht werden - jetzt auch die Fantasy-Schmonzette "Das Blut der Templer" für Pro 7. Und Dieter Bartetzko schreibt einen Nachruf auf die jung verstorbene Schauspielerin Jennifer Nitsch.

Auf der letzten Seite stellt Birgit Svensson das Internetliteraturforum Midad vor, ein von der Bundeskulturstiftung gefördertes Projekt der Goethe-Institute der Nahost-Region, die deutsche Autoren als Stadtschreiber in Metropolen des Nahen Ostens schicken (und umgekehrt). Und Lorenz Jäger schreibt ein Profil über die "europäische Nichtwählerin".

Besprochen werden die Oper "Die Schnecke" von Hans Neuenfels und Moritz Eggert in Mannheim, eine Ausstellung mit Fotografien Henri Cartier-Bressons in Berlin, eine Ausstellung von Skulpturen Magdalena Abakanowicz' im Schloss Gottorf und ein Auftritt der Band Metallica in Gelsenkirchen.