Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2004. Die New York Times bringt einen Essay Susan Sontags zu den Folterbildern von Abu Ghraib, den die SZ dankenswerter Weise gleich übersetzt. Die NZZ begleitet China auf seinem Weg in die Moderne. In der FAZ gratuliert Gert Voss dem Regisseur George Tabori zum Neunzigsten. Die Reaktionen auf die Goldene Palme für Michael Moores Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11" sind sehr zwiespältig.

SZ, 24.05.2004

Die SZ hat schnell reagiert, viel Platz frei geschaufelt und aus dem famosen New York Times Magazine Susan Sontags (mehr) Essay "Regarding the Torture of Others" übernommen, in dem Sontag über die Folterbilder von Abu Ghraib und die Aktionen und Reaktionen der Bush-Regierung nachdenkt:

"Die Bush-Administration und ihre Verteidiger sind mehr mit dem PublicRelations-Desaster - der Weiterverbreitung der Bilder - beschäftigt als mit der komplexen Schuldfrage in Bezug auf die verantwortlichen Führungskräfte und mit den kriminellen Methoden, die durch diese Aufnahmen ans Licht kamen. Als erstes ist die Realität auf die Bilder verlagert worden: Die US-Regierung zeigte sich schockiert und angewidert von den Aufnahmen - gerade so, als ob diese Bilder selbst das Entsetzliche wären und nicht das, was sie zeigen. Auch das Wort Folter wurde sorgsam vermieden. Die Gefangenen seien möglicherweise 'missbraucht', schließlich auch 'gedemütigt' worden - mehr wurde nicht eingeräumt." Und Sontag setzt hinzu: "Worte verändern, Worte verstärken oder reduzieren. Das angestrengte Vermeiden des Wortes 'Genozid' während des Abschlachtens Hunderttausender Tutsis in Ruanda durch ihre Hutu-Nachbarn wies darauf hin, dass die amerikanische Regierung damals nicht beabsichtigte, etwas dagegen zu unternehmen. Die Weigerung, die Vorkommnisse in Abu Ghraib - und in anderen Gefängnissen im Irak und in Afghanistan, oder in Guantanamo Bay - als Folter zu bezeichnen ist so unerhört wie die Weigerung, das Geschehen in Ruanda einen Genozid zu nennen." Im New Yorker (Inhaltsverzeichnis) gibt es heute keine neuen Enthüllungen durch Seymour Hersh.

Versöhnlicher als ihre Kollegen, aber auch ein wenig resigniert beurteilt Susan Vahabzadeh das Festival in Cannes und die Goldene Palme für Michael Moore. "Am Ende sind Moores angedeutete Verschwörungstheorien, dass mehr dran ist an der Verbindung zwischen Bush und den Saudis, vielleicht gar nicht so übel - davon kann er nichts beweisen, aber genau deswegen kann man wenigstens darüber streiten. Moore neigt dazu, fertige Meinung zu präsentieren, statt sein Publikum zum Selberdenken zu animieren: er erteilt den Befehl zur Subversion." (Wir verweisen im übrigen auf ein sehr langes und aktuelles Moore-Porträt im Observer vom Wochenende).

Weitere Artikel: Zum Geburtstag von George Tabori (mehr) lässt uns Regisseur Michael Verhoeven (mehr) an seinen Erlebnissen mit dem geschätzten Kollegen teilhaben. "Er nennt Brecht allen Ernstes naiv. 'Das musst Du mir erklären, George', sage ich. 'Naivität, wie ich sie verstehe, ist die Kraft an etwas zu glauben. Brecht habe alles, woran er geglaubt habe, in politische Taten umgesetzt. Dafür bin ich zu skeptisch. Meine Kraft ist geringer, sie besteht allein in meiner Neugier.'" Sebastian Handke berichtet von einer Berliner Tagung über globale Ikonen. Ein Autor mit dem irritierenden Kürzel "Aber" spekuliert, dass die heute notorische Jubelgeste der Sportler rein den Medien geschuldet ist. Katharina Mütter stellt Es Baluard vor, das neue Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst in Palma de Mallorca. Auf der Literaturseite enthüllt Renate Müller-Buck, dass Friedrich Nietzsche fast bei Josef Breuer, einem bekannten Wiener Nervenarzt, in Behandlung gegangen wäre. Gregor Lüthy liest die Frühlingsausgabe der Literaturzeitschrift "die horen", die den Nebenfiguren im Hamlet gewidmet ist. Skeptisch resümiert Johannes Willms auf der Medienseite den ersten deutsch-arabischen Mediendialog in Abu-Dhabi. Und Maike van Schwamen hat erfahren, dass der erste Erotikkanal für Frauen "Playgirl TV" demnächst auch in Deutschland starten könnte.

Die beiden Besprechungen widmen sich Hans Werner Henzes "Elegie für junge Liebende" in der Regie von Christian Pade an der Berliner Staatsoper ("Missglückt", meint Jörg Königsdorf) und einer CD mit Barocklyrik, gelesen von Günter Grass und Peter Rühmkorf (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

NZZ, 24.05.2004

Auf einer ganzen Seite analysiert Urs Schoettli Chinas Weg in die Moderne, der durch eine "Reihe von konträren Wirklichkeiten" erschwert wird: "China ist Entwicklungsland und aufstrebende Industriemacht zugleich, es reklamiert für sich nach wie vor eine sozialistische Gesellschaftsordnung, weist aber gleichzeitig das am schnellsten wachsende Reichtumsgefälle in Ostasien auf. Die Menschen sollen in ihrem Leben immer mehr Entscheidungen selbständig treffen ... gleichzeitig werden sie weiterhin an einem straffen politischen Gängelband geführt." Der scharfe Kontrast sollte Europäer jedoch nicht dazu verführen, diese Widersprüchlichkeiten als "chinesische Amoralität" zu kritisieren, meint Schoettli. Besser sei es anzuerkennen, das er "Ausdruck eines seit Jahrtausenden gepflegten Pragmatismus ist". In die schlimmste Barbarei fiel China immer dann, wenn es sich von diesem Pragmatismus abwendete - etwa bei Maos "Sprung nach vorn" oder der "Kulturrevolution".

Christoph Egger resümiert die Filmfestspiele in Cannes und stellt noch einige chinesische Filme vor, die nicht prämiert wurden. Und Sibylle Birrer resümiert die 26. Solothurner Literaturtage: Genossen hat sie besonders "die 'Table ronde' über 'Essay und Essayismus', anlässlich deren sich sprachliche Feinarbeiter und Scharfdenker wie Hans Magnus Enzensberger und Christoph Hein mit Dieter Bachmann und Jacques Pilet trafen ... Mit sichtlichem Vergnügen zwirbelten die Herren innerhalb dreißig Minuten ihre vorherigen Positionen von den Enden, Mitten und Anfängen her neu, dachten laut und sich gegenseitig ergänzend nach - und mit Genuss konnte man also verfolgen, wie sich die essayistische Denk- und Arbeitsweise exemplarisch und selbstredend auf der Bühne vollzog."

Besprochen werden eine Retrospektive des Fotografen Bill Brandt im Londoner Victoria & Albert Museum, Olga Neuwirths Vertonung von David Lynchs "Lost Highway" ("Gescheitert auf hohem Niveau", heißt es in der Überschrift) und Choreografien von Kurt Jooss und Martin Schläpfer mit dem "ballettmainz".

FR, 24.05.2004

Ungewöhnlich, diese Goldene Palme für Michael Moore, aber das geht schon in Ordnung, meint Daniel Kothenschulte in seiner Bilanz des Filmfestivals von Cannes. "Wenn man ehrlich ist, dann gab es dieses eine, richtungsweisende Meisterwerk, als das Gus van Sants 'Elephant' im letzten Jahr einen miserablen Wettbewerb überstrahlte, diesmal einfach nicht. Aber es gab auch genug Filme - und das ist für die Kinozeit, in der wir leben, schon allerhand -, die man gleich ein zweites Mal sehen möchte."

Was für ein Glück, dass George Tabori (mehr) ausgewandert ist, schreibt Istvan Eörsi (mehr) in seinem Geburtstagsgruß für den Landsmann. Denn "in Zwangssituationen fallen stilistische Entscheidungen besonders schwer. Inhaltliche Anpassung kann schändlich sein, aber stilistische Anpassung geht meistens tiefer und kann die Persönlichkeit vernichten." Peter Michalzik dankt Tabori für die künstlerische Heilung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Times mager lang tröstet Christoph Schröder seine Mitbürger über den profanen Abstieg der Eintracht in die zweite Liga. Auf der Medienseite lässt die ARD-Geburt "Wie fit ist Deutschland?" Uwe Ebbinghaus an Ionesco und Beckett denken.

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Henrik Ibsens "Die Frau vom Meer" am Schauspiel Frankfurt (in "bewährter 'Kill-Bill'-Dramaturgie", berichtet Florian Malzacher), ein Konzert von Elvis Costello zur Eröffnung der Ruhrtriennale-Saison 2004 in Bochum, Hannes Heers Reflexionen über das "Verschwinden der Täter" der Wehrmachtsverbrechen des Zweiten Weltkriegs und zwei Habermas- Bücher: ein Band politischer Schriften und Rolf Wiggershaus' Biografie (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 24.05.2004

"Zweifelhaft" kommt Cristina Nord die Entscheidung für Michael Moore und seinen Film "Fahrenheit 9/11" in ihrem Cannes-Resümee auf der Tagesthemenseite vor. In ihrer Beurteilung schließt sie sich Jean-Luc Godard an. "Moore, so Godard während der Pressekonferenz zu seinem eigenen Film 'Notre Musique', helfe Bush, anstatt ihm zu schaden. Die Methoden des Agitprop reichen eben nicht aus, um eine filmische Reflexion zu entfachen, erst recht nicht, wenn sie Agitpop werden. Einen Denkprozess regt dieses linke Infotainment nicht an." (Der ehemalige Leiter des Dziga-Vertov-Kollektivs muss es ja wissen!) Dazu noch einmal eine Liste der Preisträger und ein paar interessante Reaktionen aus der amerikanischen Medienlandschaft. Und Niklaus Hablützel leidet mit Quentin Tarantino, der bekannte, Filme aus dem Internet zu ziehen und dafür gescholten wurde.

Wladimir Kaminer (mehr) erzählt auf der zweiten Meinungsseite vom Neuanfang des tschetschenischen Teils seiner Familie im Kaukasus. "Die Gänse liefen ständig weg, die eine wurde dann von Big Bill, die andere von einem kaukasischen Geier gefressen. Mit dem restlichen Geflügel war es umgekehrt: Keiner wollte die Hühner umbringen. Die Kinder fingen sofort an zu weinen, wenn jemand aus der Familie mit einem Messer auf den Hof ging. Also starben die Hühner langsam an Altersschwäche. Die Bauern lachten sich halbtot. 'Kein Wunder, dass die Tschetschenen euch verjagt haben!', lästerten die Dorfbewohner."

Ansonsten überwiegt das klassische Rezeptionsfeuilleton: Dietmar Kammerer jubelt über den Film "South of the Clouds", in dem Regisseur Zhu Wen seinen Protagonisten ein zweites Leben beginnen lässt. "Engagiert, aber sehr angepasst" kommt Matthias Urbach dagegen die Öko-Action "The Day After Tomorrow" von Roland Emmerich vor. Jan-Hendrik Wulf spürt auf einer Berliner Tagung Bildern nach, die zwischen den Kulturen wandern. Dirk Knipphals äußert Befremdung angesichts der inneren Widersprüche von McDonald's.

Schließlich TOM.

Welt, 24.05.2004

"Westeuropa schadet sich selbst, wenn es die Einwanderung aus den neuen EU-Staaten behindert", meinen die beiden Wirtschaftswissenschaftler Alberto Alesina und Francesco Giavazzi in einem Beitrag auf den Forumsseiten. Wenn sich die EU noch länger abschottet, prophezeien sie, wird sie später nur noch die Verlierer bekommen: "Tatsächlich ist im Falle der russischen Auswanderer genau dies eingetreten: Die Qualifiziertesten von ihnen sind bereits in die USA gezogen. Europa war nicht in der Lage, viel mehr als einige verrufene Oligarchen anzulocken, die sich an der Riviera niedergelassen haben, sowie eine Hand voll quirliger Straßenmusikanten."

FAZ, 24.05.2004

Andreas Kilb ist mit der Goldenen Palme für Michael Moores Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11" (Ausschnitte), der Verbindungen zwischen den Bush- und dem bin-Laden-Clans nachgeht, nicht sehr zufrieden: "Moore praktiziert in seinem Film eine Art von dokumentarischer Propaganda, die um so durchschlagender ist, als sie echte Fundstücke aus der multimedialen Schatztruhe mit erzwungenen visuellen Pointen verknüpft; aber ein Schritt nach vorn in der Geschichte der Kinematographie ist 'Fahrenheit 9/11' nicht."

Der Schauspieler Gert Voss schreibt eine wunderschöne und auch für Laien verständliche Liebeserklärung auf den neunzigjährigen Regisseur George Tabori und seine Art des Work in progress: "Du warst todtraurig, wenn die Theaterarbeit beendet war durch die Premiere, als würde eine Zugreise in einem Sackbahnhof enden."

Weitere Artikel: In der Leitglosse beschäftigt sich Paul Ingendaay mit der königlichen Qualifikation der frisch verheirateten Laetizia Ortiz. Gemeldet wird Bernhard Haitinks vorzeitiger Rücktritt als Chefdirigent der Dresdner Staatskapelle. Jordan Mejias verweist auf Susan Sontags Artikel im New York Times Magazine. Wolfgang Schneider resümiert eine Tagung zu Walter Kempowski in Bielefeld. "m.p." stellt Dieter Dorns Pläne für das Bayerische Staatsschauspiel vor.

Auf der Medienseite stellt Stefan Niggemeier neueste Perversionen des Privatfernsehens am Nachmittag (Fiction oder Reality, wer weiß das noch?) Und Gina Thomas schildert den neuen Generaldirektor der BBC, Mark Thompson als Mann, der die BBC mit "eiserner Entschlossenheit" durch die Legitimationskrise führen wird, die der Anstalt durch die alle zehn Jahre fällige Neuformulierung des Gesetzes über ihren Status bald wieder bevorsteht.

Auf der letzten Seite berichtet Katja Gelinsky über eine Allianz der erzreaktionären amerikanischen Evangelikalen mit den sonst so verhassten Naturwissenschaftlern, die die Bush-Regierung in einer gemeinsamen Erklärung vor der globalen Erwärmung warnen. Und Regina Mönch porträtiert Rüdiger Schmid-Grepaly, der das Philosphenkolleg in Nietzsches Villa Silberblick bei Weimar erfand und leitet.

Besprochen werden ein Auftritt Elvis Costellos auf der Ruhrtriennale, Philip Kaufmans Film "Twisted" (die Kritik gerät Michael Althen vor allem zur Hommage auf Ashley Judd), Thomas Bischoffs Inszenierung von Lautreamonts "Gesängen des Maldoror" am Schauspiel Frankfurt, Hans Werner Henzes "Elegie für junge Liebende" an der Berliner Staatsoper (Eleonore Bünings Kritik fängt so an: "Früher gab es politische Zeitopern. Zur Zeit gibt es nur noch Opernpolitik."), eine Ausstellung des "schmalen, faszinierenden Oeuvres" (so Konstanze Krüwell) von Albert Eckhout im Mauritshuis in Den Haag und Sachbücher, darunter Peter Sloterdijks neues und mit 916 Seiten gewohnt wortreiches Werk " Schäume. Sphären. Plurale" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).