Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2003. In der Zeit warnt Ulrich Greiner vor ehrgeizigen Literaturkritikern wie Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki. In der SZ warnt Richard Chaim vor der Ermordung Arafats. In der FR warnt Wolfgang Templin westdeutsche Amtsträger vor der cleveren Marianne Birthler. Die NZZ warnt vor der Aufnahme des Christentums in die Präambel der EU-Verfassung. Die taz warnt nicht vor Stephen King, sondern freut sich seinen National Book Award.

Zeit, 18.09.2003

Fritz-J.-Raddatz-Nachfolger Ulrich Greiner legt im Literaturteil einen irgendwie bizarren Artikel über seinen Vorgänger und über Marcel Reich-Ranicki vor, die bekanntlich die Literaturkritik der sechziger bis achtziger Jahre beherrschten - Anlass ist das Erscheinen von Raddatz' Memoiren. Greiners fassungslose Frage ist, wie es die beiden schaffen konnten, "zwei der wichtigsten Positionen des Literaturbetriebs zu besetzen und für viele Jahre zu... Instrumenten ihres Ehrgeizes zu machen". Unter anderem erklärt er es damit, dass sie beide den Künsten "übergroße Bedeutung" zumaßen und dass sie beide als Emigranten ein Kompensations- und Heimatbedürfnis in der Literatur erfüllten. Und so kam es zu einer "wundersamen Blüte des deutschen Feuilletons". Sich selbst zieht Greiner dennoch vor: "Der nachfolgenden Generation... wäre es kaum in den Sinn gekommen, sich selber wichtiger zu nehmen als die Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte."

Im Feuilleton lehnt der große polnische Philosoph Leszek Kolakowski (mehr hier und hier) in scharfen Worten ein "Zentrum gegen Vertreibungen" ab: "Es stimmt zwar, dass im Zusammenhang mit dem jetzt diskutierten Museumsprojekt im Moment keine territorialen oder anderen Ansprüche erhoben werden. Es soll aber ein großes Denkmal entstehen, das jederzeit dazu dienen könnte, eventuell auftretende Ansprüche publikumswirksam zu unterstützen."

Weitere Artikel: Der Regisseur Andreas Dresen kommt in einer Besprechung von Michael Winterbottoms Film "In this World" über das Flüchtlingselend zu schamvollen Erwägungen: "Ich drehe selbst Filme und bin nicht nach Afghanistan oder Pakistan gereist, um mich mit der Situation der Kriegsopfer zu beschäftigen. Ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen." Thomas E. Schmidt schickt eine Reportage aus Bombay über das wirtschaftliche Glück Indiens und das gleichzeitige Unglück der Religionskonflikte. Derselbe Schmidt spießt in der Leitglosse auch das Reality-TV Projekt "1900 - Leben im Gutshaus" auf, in dem heutige Menschen das Leben auf ostelbischen Latifundien nachleben sollen: "Redakteure der Tageszeitung Die Welt sollen sich bereits... als Junker beworben haben, wurden aber allesamt dem Gesinde zugeschlagen." Die Modetheoretikerin Barbara Vinken sähe es gern, wenn der deutsche Staat die Kopftücher bekennend-moslemischer Lehrerinnen tolerierte. Kerstin Grether bereitet uns moralisch-innerlich auf die Deutschlandtournee von Christina Aguilera vor. Konrad Heidkamp schreibt einen kleinen Nachruf auf Johnny Cash. Hanno Rauterberg stellt das von Future Systems entworfene Kaufhaus Selfridge's in Birmingham vor, das an ein geschmolzenes Horton-Kaufhaus erinnert.

Besprochen werden Messiaens Oper "Saint-Francois d'Assise" in der Bochumer Jahrhunderthalle und Brechts "Dickicht der Städte" an der Berliner Schaubühne.

Aufmacher des Literaturteils ist Ursula März' Besprechung von Uwe Timms autobiografischem Buch "Am Beispiel meines Bruders" (Leseprobe). Im Leben-Ressort erklärt Christoph Stölzl, "was von den vier schönsten bayerischen Vorurteilen zu halten ist".

SZ, 18.09.2003

"Viele Beobachter, selbst solche, die Israel mit Sympathie begegnen, schütteln den Kopf angesichts der Ankündigung, man wolle Arafat ausweisen oder gar töten", schreibt der deutsch-jüdische Schrifststeller und Journalist Richard Chaim Schneider in einem Artikel, der den destruktiven israelischen Antagonismus zwischen einem demokratischen, säkularen Staat und einer absoluten, religiösen Wahrheit untersucht. "Wie dumm muss eine Regierung sein, die nicht begreift, welche Gegenreaktion solche Aussagen auslösen? Entscheidungen wie diese lassen darauf schließen, dass in der israelischen Politik, um nicht zu sagen in der israelischen Gesellschaft, ein Hang zum kollektiven Selbstmord zu finden ist. Immer noch wird Israel als einzige Demokratie des Nahen Ostens bezeichnet, doch diese ist in Gefahr unterzugehen. Nicht, weil der Zionismus eine gescheiterte Ideologie ist, sondern weil er sich in den vergangenen Jahrzehnten von seinen säkularen Wurzeln entfernt hat und von religiösen und nationalistischen Gruppen okkupiert worden ist."

"Hier wird nicht die Einführung von Fußnoten in Spielfilmen gefordert", verteidigt der Historiker Wolfgang Benz (mehr hier) seine Einwände gegen Margarethe von Trottas Film "Rosenstraße", doch "wozu der Löwenmut der tapferen Frauen in der Rosenstraße, die der SS 'Mörder' entgegenschrien, die sich durch nichts einschüchtern ließen, wenn der Beischlaf der jungen Schönen aus altem Adel mit dem hochkarätigen Nazi die Freilassung der Gefangenen bewirkte? Ist mit solcher Geschichtsklitterung (denn Goebbels hatte mit der Rosenstraße nichts zu tun und hätte dort auch nichts bewirken können) nicht der Widerstand der Frauen in der Rosenstraße verhöhnt und entwertet?" Hier schreibt dann Fritz Göttler eine richtige Filmkritik.

Weitere Themen: Jens Bisky kommentiert die jüngste OECD-Studie und die Bildungsmisere der Deutschen. Franziska Augstein schreibt aus London über Tendenzen des politischen Theaters und seine Autoren im postkolonialen Großbritanien. Anlässlich der Berliner Asien-Pazifik-Wochen berichtet Arno Orzessek über die junge indische Kunstszene. Anke Sterneborg schickt einen Bericht vom Filmfest in Toronto. Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler haben mit Gore Verbinski über seinen Film "Fluch der Karibik" gesprochen. Helmut Schödel lästert über den östereichischen Nestroy-Preis.

Besprochen werden Michael Winterbottoms Flucht- und Asylfilm "In This World", die Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker, die mit ihrem Eröffnungskonzert gleichzeitig den 40. Geburtstag ihres Hauses feierten, und Bücher, darunter Ulla Hahns Roman "Unscharfe Bilder", sowie die Studie "Festkultur des Mittelalters" von "der salzpurger scholare und doctor Christian Rohr" wie die in lupenreinem Mittelhochdeutsch verfasste Kurzkritik kund und zu wissen tut (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 18.09.2003

In Sachen Cleverness und innovativer Formelsprache kann es Marianne Birthler nach Ansicht des Ex-DDR-Bürgerrechtlers Wolfgang Templin mit jedem altbundesdeutschem Politprofi aufnehmen. "Sie verpackt die bittere Pille der Zumutung für westdeutsche Amtsträger in Zuckerwatte: Es sei kein Misstrauensbeweis wenn man jemandem zumute, sich überprüfen zu lassen, sondern eine vertrauensbildende Maßnahme, ja eine 'Ehrensache'." Doch Birthlers Beteuerung, dass die bundesdeutsche Geschichte nicht neu geschrieben werden müsse, kauft Templin ihr nicht gänzlich ab. Erste Auswertungen der Rosenholz-Dateien bestätigen seiner Ansicht nach das vom Historiker Hubertus Knabe gezeichnete Bild "einer bundesdeutschen Demokratie, die sich des Charakters ihres Gegenübers nicht vollständig bewusst war, die seiner Einfluss- und Zersetzungsarbeit Tür und Tor öffnete. Dabei mischten sich Leichtsinn, Fahrlässigkeit und Verdrängung mit Geldgier, Geltungssucht, Abenteuerlust und ideologischer Verblendung."

"Wenn man Nebel umdreht, hat man Leben", stellt der österreichische Schriftsteller Franzobel (mehr hier) lakonisch fest um sogleich zum anti-österreichischen Schlag auszuholen. "Nebel, von dem man in Österreich noch gar nicht weiß, wie man ihn ausspricht, ob man nun korrekterweise Nöwe, Nebe, Nebö oder Näuwäu sagt, hat die Bildung von Eigenbrötlern gefördert, Briefbombenattentäter, Weltmaschinenbauer, Haiderwähler, Nebelfänger... Und nun wird offenbar, was da alles auf der Nebelsuppe dahergeschwommen ist, was die Menschen im Schutze des Nebels alles angerichtet haben, die Verhüttelung und Verparkplatzisierung der Landschaft, die Zurüstung mit Einkaufszentren und die Übertragung der Alpen auf den menschlichen Körper, die Vermuskelbergerung." Sie ahnen bereits, worauf Herr Franzobel hinauswill? Auf den "muskulös überkandidelten" Arnold Schwarzenegger.

Weitere Themen: Sacha Verna berichtet über die Aufregung, für die in New York die Entscheidung der National Book Foundation diese Woche in der amerikanischen Literaturwelt sorgte, den meistgelesenen Horrorautor aller Zeiten, Stephen King, jetzt mit der "Medal for Distinguished Contribution to American Letters", einer Art Orden fürs Lebenswerk auszuzeichnen. Verena Mayer befasst sich in ihrer Berliner Gerichtsreportage mit Frau Böhm, die von Frau Schlage Schläge bekam. In der Kolumne Times Mager befasst sich Volker Schmidt mit Fusselakkumulation im Bauchnabel. Und hier wird eine Bitte des US-Schriftstellers Jonathan Franzen an das deutsche Volk ausgerichtet.

Besprochen werden Margarethe von Trottas Film "Rosenstraße", Michael Winterbottoms Doku-Drama "In This World", Christoph Schlingensief Aktion "Church Of Fear", die jetzt Station in Frankfurt macht ("eine der bestfunktionierenden sozialen Plastiken, die je aus einem Kunstkontext heraus entstanden sind").

TAZ, 18.09.2003

Dass Stephen King dieses Jahr mit dem National Book Award ausgezeichnet worden ist, findet Dirk Knipphals voll in Ordnung. "Damit ist eine fast 40-jährige Konstellation komplettiert, die ein zähes Nachleben führt: emphatische Erweiterungsgesten, die auf das Einreißen der Grenze zwischen E- und U-Kultur setzen, auf der einen, ebenso emphatische Hege des Kanons auf der anderen Seite. Fragt sich, warum es so schwer ist, aus dieser Konstellation herauszufinden."

Ansonsten reines Rezensionsfeuilleton heute: Besprochen werden: Michael Winterbottoms Migrations-Film "In This World", Margarethe von Throttas Film "Rosenstraße", Ridley Scotts Gaunerkomödie "Tricks", Andrew Flemmings Komödie "Ein ungleiches Paar" und James Mangolds Thriller "Identität".

Und noch TOM.

NZZ, 18.09.2003

Soll in der Präambel der künftigen EU-Verfassung das Christentum als Grundlage der Gemeinschaft aufgeführt werden, wie der Papst fordert? Hanno Helbling ist nach einem Blick in die Geschichte skeptisch, ob das eine gute Idee ist: "Dass Kirchen im Lauf der Zeit verschiedenen Staatsformen ihren Segen erteilt haben, wobei die Demokratie erst vergleichsweise spät an die Reihe kam, könnte zur Warnung dienen: vor der möglichen Fehlbarkeit ihres politischen Urteils und noch mehr vor der Illusion, dass der religiöse Bezug in einem Verfassungstext eine 'Garantie' darstelle."

Knut Henkel schwärmt für kolumbianische Musik. Vor allem, weil sich da gerade ein junger Musiker namens Juanes aufmacht, mit sozialkritischen Texten die internationalen Bühne zu erobern. Und das ganz unaufdringlich: "Mit seiner Einstellung und seinen Texten steht Juanes für eine neue Generation kolumbianischer Musiker, die ihren eigenen Sound entwickeln und Wert darauf legen, was und worüber sie singen".

Weitere Artikel: Joachim Güntner fasst den Streit um die RAF-Ausstellung zusammen. Besprochen werden die Marcel-Breuer-Retrospektive in Weil am Rhein, die neue CD von Erykah Badou "Worldwide Underground" und Bücher, darunter der kubanische Kriminalroman "Ein perfektes Leben" von Leonardo Padura (Leseprobe), die "Rock-Klassiker" aus der Reclam Arte Edition und die gesammelten Essays von Istvan Eörsi: "Der rätselhafte Charme der Freiheit. Versuche über das Neinsagen." (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 18.09.2003

Hans-Peter Riese bedauert Amerikas Reservisten, die sich nach dem Willen ihrer Regierung jetzt mit einem ganzen Jahr statt 6 Monaten Dienst im Irak für ihre kostenlose Ausbildung revanchieren sollen. Eleonore Büning beschreibt, wie die Berliner Orchester sparen und mit je einem "großen symphonischen Werk des französischen Klangfarbenhexenmeisters Henri Dutilleux" in die Saison starten. G.R.K. meldet den Tod des Komponisten Sergio Ortega. Felix Philipp Ingold schreibt zum Tod des tschechischen Dichters und Übersetzers Josef Hirsal. Auf der Filmseite beschreibt Michael Althen das Kinotagebuch der amerikanischen Präsidenten, das der langjährige Filmvorführer des Weißen Hauses veröffentlicht hat. Bert Rebhandl stellt den indischen Regisseur Satyajit Ray vor, dessen Filme gerade im Berliner Arsenal in einer Retrospektive gezeigt werden. Auf der letzten Seite schreibt Wolfgang Burgdorf über die Ausstellungen zum Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Nils Minkmar hat in Berlin zugesehen, wie sich Günter Walraff alte Filme über sich angesehen hat. Und Patrick Bahners grübelt über Alexander Kluges in der SZ aufgestellte Behauptung: "Hellmut Becker, Adorno, dreißig andere und ich als Rechtsberater wären früh im Juli 1914 in der Lage gewesen, diesen Frieden zu verteidigen."

Besprochen werden eine Ausstellung von HAP Grieshabers Figurenwelten in der Städtischen Galerie Karlsruhe, Christoph Schlingensief mit seiner Church of Fear in Frankfurt, Lone Scherfigs Filmkomödie "Wilbur wants to kill himself" und Bücher, darunter Judith Kuckarts Erzählband "Die Autorenwitwe", Sach- und Reisebücher (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).