Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.03.2003. Es ist Krieg, und die Feuilletons gehen hin. In der NZZ fragt Barbara Ehrenreich nach der Biologie des Krieges. In der SZ schreibt Herfried Münkler zu seiner Anatomie. In der FAZ skizziert Martin van Creveld den möglichen Verlauf. Die taz verfolgt ab heute regelmäßig die Berichterstattung in den arabischen Medien. Die FR diagnostiziert eine Talibanisierung der USA.

NZZ, 21.03.2003

Die amerikanische Soziologin Barbara Ehrenreich ("Arbeit poor") fragt, was die Menschen eigentlich zum Krieg treibt - ist es der Instinkt? Sie kommt zu einer anderen Antwort: "'Suchtverhalten' wäre nur ein blasser und konturloser Begriff, um das unauflösbare Verhältnis zwischen Menschheit und Krieg zu benennen; richtiger ließe sich von 'Parasitentum' reden. Der Krieg kann ohne Menschen... nicht existieren, und er wächst und gedeiht auf unsere Kosten. Wo und wie immer ein Krieg beginnt, da setzt er sich fest und zeugt sich fort - mit der widerwärtigen Zählebigkeit einer Kreatur, die am Hals der lebenden Beute hängt und sich von menschlichem Mühen, Mut und Blut ernährt."

Weitere Artikel: Roman Bucheli kritisiert in einem Kommentar sowohl den amerikanischen Kriegswillen, als auch das Verhalten Deutschlands und Frankreichs. Abgedruckt wird ein Gedicht, das Ali al-Shalah, der Leiter des Schweizerisch-Arabische Kulturzentrum in Zürich, zum Kriegsbeginn geschrieben hat. In der letzten Strophe besingt er "Eine Heimat, deren Wahrzeichen wir sind. Sie hat das Wesen der kurdischen Liebhaber, den Verstand der Sunniten und die Traurigkeit der Schiiten. Eine Heimat wir. Eine Heimat ich."

Besprochen werden Ausstellungen über Oscar Niemeyer und Richard Meier in Frankfurt, Tschaikowskys Oper "Pique Dame" in Genf, ein Konzert mit Lorin Maazel in Zürich.

Auf der Filmseite werden das Filmmusical "Chicago", die Comic-Verfilmung "Daredevil", der Dokumentarfilm "Le tube" von Peter Entell sowie eine Frankfurter Ausstellung zum Indianerfilm (mehr hier) besprochen.

Auf der Medienseite porträtiert "kk" den Medienmogul Haim Saban, der nun das Kirch-Imperium besitzt, und ein ungezeichneter Artikel resümiert recht ausführlich den Streit in der Süddeutschen Zeitung.

SZ, 21.03.2003

Die SZ steht ganz im Zeichen des Krieges: Zu seiner Anatomie schreibt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (mehr hier): "Wo sich auf der einen Seite satellitengesteuerte Elektronik findet und auf der anderen Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln, wird der Krieg zu einem Kampf um Symbolik. Wer vermag die Gegenseite mit seinen Mitteln und Möglichkeiten, seiner Opfer- und Todesbereitschaft mehr beeindrucken? Als ein solches Ringen um die dominanten Symbole hat der 3. Golfkrieg bereits vor Wochen begonnen. Dabei ist bemerkenswert, dass das irakische Regime auf Paraden von Selbstmordattentäter vertraut hat. Die sowjetische Militärtechnologie, auf die es im 2. Golfkrieg von 1991 noch setzte, hat offenbar ihre symbolische Bedeutung verloren."

Der Soziologe Wolf Lepenies pfeift im Walde und sieht gerade jetzt die Stunde Europas schlagen. Die Europäer müssten nur ihre Zerrissenheit, ihren Pessimismus und ihr Dauerbrüten überwinden, dann könnten sie schon aus der gegenwärtigen Krise sogar gestärkt hervorgehen. "Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht die Teilung Europas, sondern die Teilung des Westens. Europäische Regierungen sind uneins - die europäischen Gesellschaften aber vereint die Ablehnung eines amerikanischen Krieges, der auch gegen das Völkerrecht geführt wird. Zerbrochen ist die AEU - die Amerikanisch-Europäische Union. Sie wird auch auf absehbare Zeit nicht zu reparieren sein, weil sie bereits nach dem Ende des Kalten Krieges von Vordenkern in Washington aufgekündigt wurde."

Andreas Zielcke sieht in der amerikanischen Invasion einen "strafbaren Angriffskrieg": "Wirklich ungeheuerlich ist das amerikanische Unterfangen aber nicht, weil es gegen allen Einspruch eine beispiellose Unbelehrbarkeit und Selbstherrlichkeit an den Tag legt. Ungeheuerlich ist es, weil es das Völkerrecht auf eine Weise verletzt, die den Krieg zu einem Verbrechen macht."

Weitere Artikel: Die Leipziger Buchmesse hat engagiert, betroffen und in hoher Konzentration der Abscheu vor dem Krieg gehuldigt, weswegen Ijoma Mangold sie - gleich hinter der vielzitierten Wahrheit - als weiteres Opfer des Krieges platziert sehen möchte. Wolfram Wette zeichnet nach, wie Saddam Hussein in der Rhetorik des Krieges zu "Hitlers Wiedergänger" wurde. Susan Vahabzadeh weiß zwar immer noch nicht, ob die Oscar-Verleihung am Sonntag stattfinden wird, glaubt aber, dass die Zeremonie auf jeden Fall ein Trauerspiel wird. Ralf Berhorst befasst sich mit den Arbeiten des Historikers und Terrorismusforschers Walter Laqueur, der zur Zeit im Berliner Wissenschaftskolleg gastiert.

Besprochen werden ein Beethoven-Konzert des "radikalsten und spannendsten Denkers unter den großen Pianisten", Ivo Pogorelich (mehr hier), in München, die Ausstellung "DisORIENTation" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, Christine Jeffs? neuseeländischer Film "Rain" sowie Bücher über den Ersten und Zweiten Weltkrieg (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 21.03.2003

Ganze elf Seiten zum Irakkrieg hat die kleine taz gestemmt, die mit einem großlettrigen "Stoppt Bush" eingeleitet werden.

Im Feuilleton betrachtet der in Paris lebende libanesische Publizist Selim Nassib ab heute regelmäßig den Irakkrieg aus der Perspektive des Nachrichtensenders al-Dschasira. Er hat einen interessanten Wandel festgestellt, der sich auch in den politischen Kommentaren niederschlägt: Die Araber sind nicht mehr allein. "Die Araber sind nicht mehr in der Position, allein auf ihrem guten Recht zu bestehen, sich als Opfer zu fühlen und vor Wut zu heulen über das 'Komplott', das der Rest der Welt wie gewöhnlich gegen sie geschmiedet hat. Zum ersten Mal sind sie auf der guten Seite. Und dieser Unterschied drängt die Paranoia zurück, den Verfolgungskomplex, das Gefühl, erniedrigt und nicht verstanden zu werden, dieses Gefühl, das der Ausgangspunkt für den Rückzug auf sich selbst und den Aufstieg eines Islamismus ist, der auf enttäuschter Liebe fußt."

Der Berner Zeitgeschichtler Stig Förster gibt dem liberalen Geist die Schuld daran, dass in militärischen Fragen mit Vorliebe auf armeefreundliche Experten zurückgegriffen wird. "Von Ausnahmen abgesehen, haben sich allzu lange Zeit nur wenige kritische Geister ernsthaft mit Militär- und Sicherheitsfragen beschäftigt. Auch heute noch stehen etwa Militärhistoriker und Militärhistorikerinnen unter dem Verdacht, heimliche Waffennarren zu sein und im stillen Kämmerlein mit Plastikpanzern zu spielen."

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller empfiehlt die Austellung "DisORIENTation" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, die junge arabische Künstler aus Ägypten, Syrien, Jordanien, Palästina und dem Libanon präsentiert - und damit Bildern "jenseits der medialen Markierungen der Krisenregion". Christian Broecking porträtiert den "institutionalisierten Revolutionär" und Tenorsaxofonisten Wayne Shorter (mehr hier), der seiner Ansicht nach zu den wichtigsten Musikern und Komponisten des modernen Jazz gehört. Arno Frank bespricht das neue Album von Placebo "Sleeping With Ghosts".

Und schließlich Tom.

FR, 21.03.2003

Michael Mayer stellt nicht weniger als eine Talibanisierung der USA fest: "Tatsächlich ist Bushs Rhetorik idealtypisch für jedweden Fundamentalismus, der per se keine Nuancen kennt, weder Abwägung noch Ausgleich; der also im Kern immer apolitisch ist. Sein neomessianisches Eiferertum, mit dem er dem Bösen unentwegt den Kampf ansagt, lebt von der Kontamination politischer und religiöser Kategorien. Das Böse im theologischen Sinne ersetzt die Instanz des Feindes im politischen Sinne, der als Feind noch auf gleicher Augenhöhe Anerkennung forderte und dessen Kapitulation jedwede Kriegshandlung gegen ihn beendet. Dieses Böse, das in Bushs Reden seit dem 11. September inflationär zu wuchern begann, ist das Movens seines Tuns und Trachtens. Nicht dessen Kapitulation ist das Ziel, sondern die Vernichtung."

Harry Nutt macht sich daran, die Bilder vom ersten Kriegstag zu interpretieren, etwa die allenthalben ausgestrahlte Rede von Saddam Hussein mit altmodischer Brille und Notizblock: "Das Rückständige begegnet dem Computergesteuerten. Das Böse, so war mit viel Sinn fürs Psychologische wiederholt gemutmaßt worden, solle ein Gesicht erhalten. Der Krieg, so viel zeichnet sich ab, beginnt als doppelt makabres Spiel mit den Fratzen des Bösen."

Weitere Artikel: Der Kolumne Times Mager ist der Humor abhanden gekommen, sie bringt stattdessen Reaktionen auf den Krieg. Martina Meister bilanziert das erste Jahr der Bundeskulturstiftung als recht erfolgreich. Navid Kermani (mehr hier) beschäftigt sich mit dem Moralkodex der Iraner. Gemessen an dem puritanischen Bild, das man sich gerne von ihnen macht, hält er sie für erstaunlich pragmatisch. Daniel Kothenschulte porträtiert den "Erfinder der Farbfotografie" William Eggleston, dem das Kölner Museum Ludwig gerade eine Ausstellung widmet. Roland Burgard fragt, warum deutsche Architekten im internationalen Maßstab versagen.

Besprochen werden Thomas Vinterbergs elegische Apokalypse "It's All About Love" und politische Bücher: Rudi Dutschkes Tagebücher "Jeder hat sein Leben ganz zu leben" sowie mehrere Neuerscheinungen zu Berlusconis Italien (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.03.2003

Trotz der amerikanischen Überlegenheit dürfte der Sieg nicht so leicht sein wie beim letzten Golfkrieg, meint der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld: "1991 zogen sich die Iraker freiwillig aus Kuweit-Stadt zurück, um nicht vom 7. US-Korps eingekreist zu werden, das von Westen her vorrückte. Folglich wurde in der Stadt kaum gekämpft. Diesmal dürfte Saddam Hussein entschlossen sein, Bagdad um jeden Preis zu halten. Dies könnte, falls die Republikanische Garde mehr oder weniger intakt bleibt, zu schweren Kämpfen führen. Hier wird die amerikanische Überlegenheit weniger ins Gewicht fallen als anderswo."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko erinnert daran, in welchem Kulturland der Krieg stattfindet: "Im Zweistromland tat die Menschheit den Schritt vom Nomadentum zu Ackerbau und Viehzucht, zwischen Euphrat und Tigris wurde das Rad erfunden, wuchsen in der Folge die ersten Metropolen." Michael Siebler zählt 100.000 durch den Krieg bedrohte Kulturstätten. Im Kommentar findet Christian Geyer, dass Angela Merkel in der vorgestrigen Bundestagsdebatte um den Golfkrieg "die nun wirklich jämmerlichste Rede seit Beginn ihrer politischen Verlautbarungen" gehalten habe. Auf der Wissenschaftsseite zitiert Horst Rademacher eine Studie zur Emigration der begabteren Studenten, nach der "bis zu 18.000 deutschgebürtige Personen mit Hochschulabschluss und befristeter Arbeitserlaubnis in der Forschung und Entwicklung in Amerika tätig sind".

Christian Schwägerl fürchtet, dass die Europäische Union die Embryonenforschung entgegen den Empfehlungen dieser Zeitung neu zur Diskussion stellt. "Lac" meldet, dass die Fürstin Esterhazy 334 Beutebücher, die einst von den Russen requiriert worden waren, zurückerhielt. Ilona Lehnart bringt die frohe Kunde von einem leicht erhöhten Etat der Bundeskulturministerin Christina Weiss. Georg Imdahl bedauert den Niedergang des Museums Abteiberg in Mönchengladbach: "die Sammlungsräume angegraut, im Cafe Grabesruhe". Gemeldet wird, dass die ehemaligen DDR-Verlage Seemann und Henschel gerettet wurden und dass Caroline Link und Aki Kaurismäki den Oscar-Verleihungen fern bleiben.

Auf der letzten Seite druckt die FAZ eine weitere der beeindruckenden Klagereden des uralten demokratischen Senators Byrd (die übrigens noch beeindruckender sind, wenn man sie hört): "Ich habe die Ereignisse der letzten Monate mit schwerem, schwerem Herzen verfolgt. Das Bild Amerikas ist nicht mehr das einer starken, aber wohlwollenden Friedensmacht. Das Bild Amerikas hat sich verändert. Rund um den Erdball begegnen unsere Freunde uns mit Misstrauen, unser Wort und unsere Absichten werden in Zweifel gezogen." Michael Martens porträtiert die serbische Sängerin Ceca, die Witwe des Kriegsverbrechers Arkan, die nun im Gefängnis sitzt. Robert von Lucius stellt den Bericht einer Historikerkommission zum Fall Raoul Wallenberg vor, der hunderttausend ungarische Juden rettete und dann von den Sowjets umgebracht wurde - Schweden muss mit der Erkenntnis leben, nach der Festnahme Wallenbergs zaghaft gehandelt zu haben. Und Jordan Mejias zitiert amerikanische Medien wie die New York Times und Newsweek, die entgegen anderslautenden Meldungen durchaus auch kritische Stimmen zum Krieg zu Wort kommen lassen. Für die Medienseite verfolgte Souad Mekhennet die erste Kriegsnacht im irakischen Fernsehen und auf Al Dschasira. Und Michael Hanfeld sah deutsches Fernsehen.

Besprochen werden Botho Strauß' Stück "Unerwartete Rückkehr" in Oberhausen, der Film "Daredevil", eine Ausstellung des Malers Paul Kleinschmidt im Ulmer Museum und die Uraufführung von Franz Koglmanns Oper "Fear Death By Water" nach T. S. Eliot.

Auf der Seite des FAZ.Net finden wir überdies eine Meldung über die Verleihung des Bücherpreises gestern Abend.