Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.01.2003. Die FAZ ruft eine neue Epoche in der deutschen Malerei aus. Die NZZ kennt die beste und berühmteste Rockband des Irans: O-hum. Die taz fordert einen europäischen Neo-Neutralismus. Die Zeit erinnert sich an Frankreich. Alle gratulieren Susan Sontag zum Siebzigsten - wenn auch nicht gleichermaßen freundlich.

FAZ, 16.01.2003

Seine ganze Seite 3 widmet das Feuilleton den Gemälden einer neuen Künstlergeneration, die in den Frankfurter Ausstellungen "Deutsche Kunst 2003" und "Lieber Maler, male mir" in der Schirn präsentiert werden und die Niklas Maak im Aufmacherartikel des Feuilletons aufgeregt begrüßt. Es handelt sich um einen neuen Realismus, dessen prominenteste Vertreter Norbert Bisky und Neo Rauch sind. Maak schreibt: "Das technische Spektrum der neuen Maler ist breit: Es reicht von der kühlen, fast maschinellen Präzision Tim Eitels (Bilder), dessen Räume so leer und kalt wirken, als sei die Welt mitsamt ihren Bewohnern schockartig plastiniert und unter eine Frischhaltefolie bugsiert worden, bis zu Klaus Hartmanns großartigem, malerisch skizzenhaftem Strich..." Und: "Nirgendwo ist die neue Malerei plakativ politisch, und dennoch steckt ihr das Erbe der totalitären Ideologien und ihrer Bildstrategien in den Gliedern." Schade nur, dass die Bilder im Netz nicht gezeigt werden. Auch die Adresse des Frankfurter Kunstvereins ist eher rudimentär zu nennen.

Zhou Derong beschreibt einen traurigen Vorfall im chinesischen Hefei, der zeigt, "wie leicht das Feuer des sozialen Konflikts heute in China zu entfachen ist". Drei Studentinnen wurden vor der Universität von einem Lastwagen überfahren. Zwei starben, die dritte liegt im Koma. Nachdem die lokalen Ordnungshüter erklärt hatten, "der Lastwagenfahrer trage keine Schuld", kam es zum "größten Studentenprotest seit 1989". 20.000 Studenten demonstrierten und forderten 'Gerechtigkeit für die Opfer' und 'Strafe für den Mörder'. Für Zhou Derong ist der Vorfall jedoch vor allem ein Zeichen für die studentischen Frustrationen über ihren "Statusverlus". Immerhin gehe ein Drittel der Absolventen von der Universität "direkt in die Arbeitslosigkeit. Aber das heutige China ist ein materialistisches Land. Nirgendwo spürt man deutlicher die Ungleichheit zwischen den Reichen und Armen. Der Verkehr hat Regeln, die ganz auf das Auto zugeschnitten sind, auf das Haupt-Statussymbol. Zebrastreifen etwa kümmern die Fahrer notorisch wenig." Um die Studenten zu beruhigen, "soll Hu Jintao, der neue Parteichef, befohlen haben, den 'Mörder', der wahrscheinlich gar keiner ist, 'hart' zu bestrafen. Die Formulierung umschreibt in China meist die Todesstrafe."

Gestern identifizierte sich der siebenundachtzigjährige Berliner Siegfried Lessey in der Bildzeitung als einer jener deutschen Kriegsgefangenen, die auf dem berühmten Foto nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad abgelichtet wurden. In einem kurzen Interview erklärt Lessey, später auch über Stalingrad gelesen zu haben: "Ich habe furchtbar gern Kosalik gelesen. Der war einmalig in seiner Kenntnis der russischen Mentalität. Ich kannte ihn aus Russland, er stand bei meinem Panzer, als ich gerade einen Flieger abgeschossen hatte. Ansonsten merkt man sich ja zum Glück irgendwann nur noch das Schöne - selbst aus Stalingrad."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus warnt vor einer "Gleichsetzung von Terror mit Kriegsandrohung, der nur durch Krieg zu begegnen ist". Burkhard Rauhut und Michael Stückradt, Rektor und Kanzler der RWTH Aachen, plädieren gegen vorschnelle Rückschlüsse von ausländischen auf deutsche Universitäten, um die Ausbildung zu verbessern. Beide sind skeptisch gegenüber Studienzeitverkürzung, gegen eine Kostenreduzierung im höheren Bildungswesen und gegen Studiengebühren. Dafür fordern sie "mehr Autonomie" für die Hochschulen, zum Beispiel, was die Auswahl der Studenten angeht. Nils Minkmar hat in Berlin eine Veranstaltung mit der Ethnologin Mary Douglas besucht. Henning Ritter gratuliert der amerikanischen Literaturkritikerin Susan Sontag zum Siebzigsten. G.R.K. gratuliert dem englischen Komponisten Brian Ferneyhough zum Sechzigsten. Und Walter Vitt schreibt den Nachruf auf den Maler Bruno Erdmann.

Auf der Kinoseite stellt Verena Lueken vor der Oscar-Verleihung neue amerikanische Filme vor, darunter Spike Lees "25th Hour", das Musical "Chicago" mit Renee Zellweger und Catherine Zeta-Jones in den Hauptrollen, Spike Jonzes Filmkomödie "Adaptation" und "The Hours" mit Julianne Moore, Meryl Streep und Nicole Kidman (mit falscher Nase!) als Virginia Woolf. Dirk Schümer betrauert die Schließung des letzten Kinos in Venedig. Und Michael Althen stellt Tatis rekonstruierten Film "Playtime" vor.

Auf der Medienseite erzählt Michael Ludwig von einem Presseskandal in Warschau, wonach der Produzent Lew Rywin verdächtigt wird, "er habe vom Chefredakteur der Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, vor einem halben Jahr 17,5 Millionen Dollar Bestechungsgeld gefordert, damit die geplante Änderung des Rundfunk- und Fernsehgesetzes so erfolge, dass es dem Medienkonzern Agora - der die Gazeta Wyborcza herausgibt - möglich sei, den privaten Sender Polsat zu kaufen."

Besprochen Tomy Wiegands Verfilmung des "Fliegenden Klassenzimmers", Christopher Hamptons Theaterstück "The Talking Cure" über die Psychoanalytiker Freud, Jung und Sabina Spielrein in London und ein Jazzkonzert des Berliner Lisa Bassenge Trios.

Zeit, 16.01.2003

Siehe da, die führenden Transatlantiker der Zeit erinnern sich an das Nachbarland Frankreich, dem sie zum vierzigsten Jahrestag des Elysee-Vertrags einen kleinen, eher routiniert wirkenden Schwerpunkt widmen. Helmut Schmidt beklagt, dass Schröder nicht Schmidt und Chirac nicht Giscard ist. Klaus Harpprecht sieht keine Alternative zur Vernunftehe Deutschland-Frankreich. Im Wissenteil findet sich ein auf französisch (aber auch auf deutsch) abgedrucktes Gespräch mit dem Erziehungsminister Luc Ferry. Im Kulturteil erinnert sich Michael Mönniger an Zeiten, als deutsche Philosophen noch französische lasen und umgekehrt. Tempi passati!

Im Aufmacher des Feuilletons unterhält sich Gisela Dachs mit dem israelischen Autor und Friedensaktivisten Amos Oz über die missliche Lage: "Hier spielen sich zwei Kriege ab", sagt er, "einmal ein palästinensischer Kampf für Unabhängigkeit, Souveränität und Befreiung. Jeder vernünftige Mensch sollte den unterstützen, selbst wenn er die Mittel kritisiert. Es gibt aber zugleich auch einen islamischen Krieg, der Israel zerstören und den Juden genau das verweigern will, was die Palästinenser für sich beanspruchen. Und da sollte jeder auf der Seite Israels sein. Auch in Israel gibt es zwei Kriege: einen für Groß-Israel und das Recht Siedlungen zu bauen, was falsch ist, und einen für das Recht, als Nation zu existieren, was richtig ist."

Weitere Artikel: Abgedruckt wird eine Rede Martin Walsers, wo er als notorisch beleidigte Leberwurst einen alten Zeit-Artikel Thomas Assheuers, der Walsers Hang zum Polytheismus kritisierte, sauer aufstößt. Jörg Lau begrüßt die Sammlung Flick in Berlin. Thomas E. Schmidt begutachtet die Berichterstattung der Bild über Gerhard Schröders Privatleben. Jonathan Fischer konstatiert Tendenzen zur Repolitisierung der amerikanischen HipHop-Szene und zu einer neuen Orientierung an der historischen Bürgerrechtsbewegung.

Besprochen werden neue Stücke von David Gieselmann in Hannover und Rene Pollesch in Berlin, neue britische Filme, der Napoleon-Vierteiler im ZDF, Nicolas Philiberts Dokumentarfilm "Sein und Haben" und Beat Furrers Oper "Begehren" in Graz.

Im Literaturteil bespricht der ehemalige Rowohlt-Verleger Michael Naumann Siri Hustvedts bei Rowohlt erschienenen Roman "Was ich liebe".

FR, 16.01.2003

Petra Kohse hat in Berlin eine Stadtführung zur Geschichte von 1968 mitgemacht und beschreibt, wie sich in der Reisegruppe plötzlich ein ehemaliger Polizist zu erkennen gibt. "Sogar die Stattreisen-Mitarbeiterin kam aus dem Konzept. Nicht weil sie ... einer oppositionellen Zeitzeugenschaft nicht gewachsen gewesen wäre. Sondern weil unklar war, was es bedeutete, dass sich hier einer so beiläufig aus seinem Platz im historischen Feindbild entfernt hatte und nun in aller Ruhe in der Gegenwart der Modernisierungsgewinner herumstand."

Weitere Artikel: Anläßlich einer Ausstellung mit Werken des Farbfotografie-Pioniers Eliot Porter im Amon Carter Museum in Fort Worth, erzählt Jörg-Michael Dettner, dass die Kunstfotografen von einst genau so empört auf das Auftauchen der Farbfotografie reagierten, wie die Kunstfotografen von heute auf das Auftauchen der Digitalfotografie, die Kolumne Times Mager sorgt sich um den Verstand von Willy Winkler, Mark Hertsgaar beschreibt den Wandel des Amerika-Bildes in der Welt seit dem Kalten Krieg, und Andrea Nüsse hat Konstantin Wecker während seiner Konzertreise nach Bagdad beobachtet.

Besprochen werden Mike Leighs neuer Film "All or Nothing", der zehnte Star-Trek-Film "Nemesis" (hier die "Star-Trek" Seite) und Bücher, darunter George Taboris Erinnerungsbuch "Autodafe".


Stichwörter: Berlin, Star Trek, Tabori, George

TAZ, 16.01.2003

Das bringt Abonennten! Auf der Meinungsseite dröhnt der Stahlhammer linker Gesinnung. Micha Brunlik schreibt: "Eine Gerechtigkeit auch nur anstrebende Weltordnung ist bis auf weiteres ohne die Eindämmung der US-amerikanischen Hegemonie nicht denkbar. Dem amerikanischen Neo-Imperialismus wäre daher ein zunächst deutscher, dann hoffentlich europäischer Neo-Neutralismus entgegenzusetzen, an dem neu ist, dass es ihm nicht wie bisher um Äquidistanz zu zwei Großmächten, sondern um die deutliche Distanz zu der einen, verbliebenen Supermacht um des Gemeinwohls der Weltgesellschaft willen geht."

Und im Feuilleton? Detlef Kulhbrodt hat im Berliner Kaffee Burger zugehört, wie die Macher des Verbrecher-Verlags aus Wirtschaftsmagazinen rezitierten. Anke Leweke unterhält sich mit dem fanzösischen Regisseur Nicolas Philibert über seinen Dokumentarfilm "Sein und Haben", der sich mit einer Dorfschule in der französischen Provinz befasst, wo 13 Schüler aus 5 Altersstufen in einem einzigen Klassenraum unterrichtet werden. Auf der Internet-Seite befasst sich Dietmar Kammerer mit dem Regierungsentwurf für ein neues Urheberrecht, der öffentliche Bibliotheken vor schier unlösbare Rechtsprobleme stellt.

Besprochen werden John Malkovichs Regiedebüt "Der Obrist und die Tänzerin", der neue Star-Trek-Film "Nemesis" sowie - vom Filmemacher Harun Farocki - Marina Müllers und Werner Dütschs Max-Ophüls-Dokumentation"Lola Montez - eine Filmgeschichte".

Schließlich Tom.



SZ, 16.01.2003

Die kroatische Schriftstellerin und Journalistin Slavenka Drakulic (mehr hier) berichtet vom Prozess gegen die ehemalige serbischen Politikerin und Nummer zwei von Radovan Karadzics bosnischer "Republika Srpska", Biljana Plavsic, die einst Muslime in Bosnien für einen "genetischen Irrtum im serbischen Körper" hielt, deren Vernichtung ein "natürliches Phänomen" und kein Kriegsverbrechen sei. Nun habe sie sich vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag für schuldig erklärt: "Biljana Plavics jüngster Auftritt vor Gericht ist nicht nur bewundernswert mutig, nicht nur das beeindruckende Zeugnis einer Bereitschaft zum moralischen Wandel - er ist historisch.... niemand ist in seinem Bekenntnis so weit gegangen wie sie. Ihre Worte können daher ernste Konsequenzen in dem Bemühen haben, die große Mehrheit der Serben von ihrem Irrglauben zu heilen, für den Krieg eben nicht verantwortlich zu sein. So wie Biljana Plavsic die Radikalste unter den Kriegshetzern war, so ist sie heute die Radikalste unter den Reumütigen."

Weitere Arikel: Angesichts der Finanznot sieht Jürgen Berger die bundesdeutsche Theatervielfalt gefährdet und die Gefahr eines neuen Zentralismus drohen, auf der Literaturseite gratuliert Ioma Mangold Susan Sontag zum siebzigsten Geburtstag (ihr Verlag widmet ihr eine eigene Homepage: susansontag.com) und Christopf Bartmann berichtet über Björn Lomborg, Professor für Statistik an der Universität Aarhus und Direktor der Dänischen UmweltAgentur, der Unmut erregte, weil er bereits getroffene Umweltschutzmaßnahmen wie Dosenpfand und Tempolimits für unnötig hält. (Eine Menge Links zu Lomborg gibt's übrigens bei Aldaily.)

Besprochen werden: die Ausstellung "deutschemalereizweitausenddrei" im Frankfurter Kunstverein, Thomas Roths Inszenierung von Wladimir Kaminers Bühnenerstling "Marina.Wiedersehen in der Russendisko" am Jungen Theater in Göttingen, Mike Leighs neuer Film "All or Nothing" (hier ein Gespräch mit Leigh, hier die Homepage des Films), Tomy Wigands Neuverfilmung des Kästnerklassikers "Das fliegende Klassenzimmer", die 13. Bamberger Kurzfilmtage, die Ausstellung "Mars" in der Neuen Galerie des Grazer Johanneum über die verlorene Unschuld der Kunst nach dem 20. Jahrhundert, Jacques Doillons neuer Film "Carrement a l'Ouest" und Bücher, darunter die Neuausgabe von Wolfgang Koeppens "Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages)


NZZ, 16.01.2003

Von der "besten und berühmtesten Rockband des Iran erzählt Hartig Vens. O-hum heißen sie und konnten erst einmal in Teheran auftreten - in einer russisch-orthodoxen Kirche. Und die beiden Masterminds sind inzwischen im kanadischen Exil. "Jede Aufnahme muss vor der Veröffentlichung dem Ershad vorgelegt werden, dem Ministerium 'für Kultur und islamische Führung'. Dort wird es von drei Kommissionen auf Korrektheit geprüft - hinsichtlich Text, Musik und Gesang. O-Hum missfiel den Zensoren in jeder Hinsicht: 'Am Anfang waren sie gegen alles: gegen unsere Musik, gegen den Gesang, gegen die Gedichte', erinnert sich O-Hums Bassist Babak Riahipour. 'Nach einem Jahr wurden sie ein bisschen nachsichtiger, es gefiel ihnen aber nicht, dass unser Bekanntheitsgrad wuchs und wuchs. Unsere Musik war im Internet, jeder konnte kostenlos darauf zugreifen.' - Popularität soll im Gottesstaat Iran den Märtyrern und Geistlichen zuteil werden, nicht einer westlich-dekadenten Musikgruppe."

Mit ziemlich giftigen Worten gratuliert Andrea Köhler der amerikanischen Essayistin Susan Sontag zum Siebzigsten: Sontag sei einerseits eine überragende Essayistin und Autorin so durchschlagender Texte wie 'Against Interpretation', schreibt Köhler, "andererseits die seit Jahrzehnten überschätzte amerikanische Intellektuelle, die (zugegeben) ein paar wichtige Essays in den siebziger und achtziger Jahren schrieb und seither durch publicitywirksame Imagepflege, eher mittelmäßige historische Romane und eine gezielt skandalträchtige politische Einmischung das Missverständnis aufrechterhält, sie sei eine maßgebliche Geistesgröße von internationalem Rang."

Joachim Güntner berichtet, dass der frühere Leiter der Goethe-Institute von Ramallah und Damaskus, Manfried Wüst, ins indische Pune strafversetzt wurde, nachdem er erklärt hatte, dass palästinensische Terroristen für ihn "Freiheitskämpfer" seien. Lilo Weber weiß, dass Abba-Shows in London schwer im Kommen sind.

Besprochen werden eine Ausstellung von Markus Raetz und Ikko Narahara in der Pariser Maison Europeenne de la Photographie (MEP), Philippe Gentys surreale Revue "Ligne de fuite" am Theatre de Vidy in Lausanne. Und Bücher, darunter die Neuübersetzung von Andrej Sinjawskis "Das Verfahren läuft", Gedichte von Andrea Zanzotto und Jostein Gaarders neuer Roman "Der Geschichtenverkäufer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).