Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2001. Ist der Fundamentalismus ein Totalitarimus? Die taz bringt ein ausführliches Hintergrundgespräch mit Navid Kermani. In der FAZ liefert Volker Braun ein Gedicht auf die Weltlage: "Der verschollene Ruhm einer Riesenstadt/Der Terror im Text Der Text der Terror". In allen Zeitungen (außer der NZZ) wird das neue Dokumentationszentrum zum Reichsparteitagsgelände in Nürnberg vorgestellt. Die NZZ feiert Vincenzo Bellini.

FAZ, 03.11.2001

Im Aufmacher liefert Volker Braun ein Gedicht auf die Weltlage. Hier der Schluss:

"Ich seh das Weltende wie gewöhnlich Der Quotenbringer
Die Sonnenfinsternis über Reims Oder die Superbombe
Der Anflug auf die Türme des World Trade Center
Der verschollene Ruhm einer Riesenstadt
Der Terror im Text Der Text der Terror
I WASTED TIME AND NOW DOTH TIME WASTE ME
Mensch ohne Macht der unfreiwillige Aussteiger
Im abgenutzten Weltall sieht verblüfft
Daß er noch lebt Luft atmet Boden tritt
Auf sanften Sohlen nach mir
Im leichten Regen mein leichtes Grab"

(Der Zeilenfall des Gedichts ist im Internet verhunzt ? wir empfehlen die Papierausgabe.)

Hans-Ulrich Gumbrecht ist nach New York gefahren und hat sich von einem Taxifahrer aus El Salvador in die Nähe von Ground Zero bringen lassen: "Eine halbe Meile entfernt von dieser neuen Mitte der Stadt, die die Sogkraft eines physikalischen Vakuums hat, eine halbe Meile von dem Krater, an den alle denken und von dem man in New York doch so wenig redet wie von einer kollektiven Schande, eine halbe Meile weiter stößt man auf die fast säuberlich gestapelten Trümmer der verglühten Gebäude. Weil sie aschweiß sind wie soeben verglühtes Metall, könnten es auch Knochen sein, von riesigen Insekten zum Beispiel oder von Dinosauriern."

Weiteres: Auf der Medienseite berichtet Katja Gelinsky über die Informationspolitik des amerikanischen Militärs, die noch weitgehend unklar zu sein scheint: "Die amerikanischen Medien sind zusätzlich zur Informationskontrolle im eigenen Land mehr als bei früheren Kriegen mit Desinformation, Propaganda und patriotischen Werbefeldzügen konfrontiert. Welche Spielregeln Regierung und Presse in dieser neuen Situation entwickeln, ist noch ungewiss." Auf der letzten Seite schickt Christian Geinitz einer Reportage aus Nicaragua, wo morgen gewählt wird.

Ferner stellt Dieter Bartetzko das Informationszentrum auf dem Reichsparteitagsgelände vor. Holger Noltze resümiert ein Symposion der Robert-Walser-Gesellschaft in Herisau. Joseph Croitoru liest osteuropäische Zeitschriften. Jörg Thomann meint, dass es für Sat 1 nun drauf ankommt ? wenn das "Event-Movie" "Der Tanz mit dem Teufel" morgen und übermorgen nicht ankommt, dann wird der Sender von Kirch an die Leine genommen. Und Michael Hanfeld schildert den Kampf von CNN und des arabischen Senders Al Dschazira um Bilder. Gerhard R. Koch gratuliert Monica Vitti zum Siebzigsten. (Hier ein originelles Foto der Göttlichen.) Michael Allmaier gratuliert Charles Bronson zum Achtzigsten. Robert Jütte gratuliert Stefan Winkle zum Neunzigsten.

Besprochen werden Kristof Magnussons Farce "Totaler Kick" in Dresden, Händels Oper "Semele" in Köln, eine Ausstellung des Nationalmuseums Tokyo über Kinder in der japanischen Kunst, ein Auftritt der Prinzen, eine Franz-Erhard-Walther-Ausstellung im Lehmbruck-Museum, eine Ausstellung über moderne Landschaftskunst in Essen, die Gruppe The Fall auf Deutschlandtournee und Sachbücher, darunter Beate Rösslers Band "Der Wert des Privaten".

In Bilder und Zeiten gedenkt Henning Ritter Andre Malraux', der heute 100 Jahre alte geworden wäre. Martin Kämpchen begibt sich auf eine Nepal-Reise zum Kailasch, dem heiligen Berg Tibets. Michael Angele schreibt einen Nachruf auf das Berner Wankdorf-Stadion (wo Deutschland 1954 Weltmeister wurde). Jürgen Kesting schreibt zum 200. Geburtstag Vicenzo Bellinis. Und Thomas Martin betrachtet Arno Fischers Berlin-Fotografien aus den fünfziger Jahren.

In der Frankfurter Anthologie stellt Henning Heske ein Gedicht von Johann Wolfgang Goethe vor ? "Auf dem See":

Und frische Nahrung, neues Blut
Saug' ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold un gut
Die mich am Busen hält!..."

NZZ, 03.11.2001

Tadao Ando (mehr hier) wird das größte französische Privatmuseum für die Kunstsammlung des Milliardärs Francois Pinault auf einer Seine-Insel Ile Seguin bei Paris bauen. Begeistert ist Marc Zitzmann nicht: "In architektonischer Hinsicht wirkt das Wenige, was man über die unterlegenen Entwürfe von Koolhaas und MVRDV weiß, weit aufregender als das letzte Woche mit großem Trara vorgestellte Modell von Ando. Der Pritzkerpreisträger bewegte sich mit seinen Bauten und Projekten in den letzten Jahren ohnehin oft am Rande des minimalistischen Edelkitsches. Planten die Niederländer, mit dem Museum die Dichotomien zwischen Tag und Nacht sowie zwischen Ausstellungsfläche und Reserve auszureizen (Koolhaas) beziehungsweise es als einen die Symbiose von Dienstleistungs- und Ausstellungsbetrieb vollziehenden urbanen Kunst-Raum auf seine Umwelt hin zu öffnen (MVRDV), so liefert der Japaner einen klassisch-musealen Bau."

Weiteres: Peter Hagmann hat sich das Eröffnungskonzert unter Pierre Boulez in der neuen Basler Paul-Sacher-Halle angehört. Matthias Vogel bespricht eine Anselm-Kiefer-Ausstellung in der Fondation Beyeler ebendort. Michael Mayer schreibt zum Tod des Soziologen Dietmar Kamper. Und Roman Bucheli resümiert Poetikvorträge in Bern und hatte das Vergnügen, Dicherlesungen von Christian Kracht und Joachim Bessing beizuwohnen.

In Literatur und Kunst schreibt Anselm Gerhard zum 200. Geburtstag Vincenzo Bellinis: "Stellt man Bellinis Opern neben die seiner Zeitgenossen Meyerbeer oder Donizetti, fällt eine vornehme Zurückhaltung in den fast immer melancholisch eingefärbten Melodien auf. In Opern wie 'La straniera' oder 'Norma' mutet es an, als seien es gerade die vordergründigen Knalleffekte des Dramas, die der Musik Raum geben zum selbstvergessenen Hingleiten in narkotisierenden Melodien, in denen die Zeit stillzustehen scheint." Michael Sawall weist in einem zweiten Artikel zum Thema darauf hin, dass Bellini, und nicht Verdi die Hymne des Risorgimento geschrieben hat: "Der martialische Chor 'Guerra, guerra' aus seiner 'Norma' wird gewissermaßen zur 'italienischen Marseillaise'. Bei Aufführungen der Oper in Venedig, Mailand und Triest im Jahr 1859 löst der Chor 'Stürme von nationalen Wirkungen' (Karl Gutzkow) aus."

Weitere Artikel: Peter Hagmann unterhält sich mit dem Schweizer Komponisten Klaus Huber (mehr hier), dessen neueste Oper "Schwarzerde" das Schicksal Ossip Mandelstams aufgreift. Martin Meyer schreibt zum 100. Geburtstag Andre Malraux'. Marc Zitzmann stellt das Werk der Schweizer Autorin Agota Kristof vor. Besprochen werden der Roman "Harmonia caelestis" von Peter Eszterhazy, Serena Vitales Erzählungen über russische Außenseiter des 19. Jahrhunderts und ein Roman von Anatoli Kusnezow über das Massaker von Babij Jar. (Siehe unsere Bücherschau morgen ab 11 Uhr.)

SZ, 03.11.2001

Sonja Zekri und Gerhard Matzig haben sich auf dem Gelände des neuen Dokumentationszentrums auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände umgesehen. Während Zekri in ihrem Beitrag der zum Komplex gehörigen Ausstellung vorwirft, es versäumt zu haben, "ein Spiegel für die eigene Manipulierbarkeit zu sein" ("sie ist bunt und blind wie eine Leinwand"), ohne jedoch die Bedeutung des Ganzen dadurch geschmälert zu sehen, hört Matzig die Relikte des nazistischen Monumentalbaus unter dem "dekonstruktiven Gestus" der 22 Millionen Mark teuren Architektur des Dokumentationszentrums "weinen". Einen Überfall der Architektur auf die Architektur nennt Matzig Günther Domenigs pfeilförmige Glas- und Stahlkonstruktion, der seiner Meinung nach etwas wie "Nürnberger Erkenntnisprozesse" in Gang setzen könnte.

Weiteres: Reinhard J. Brembeck besucht das Opernfestival im irischen Wexford, das heuer sein fünfzigjähriges Jubiläum feiert, Harry Lachner leidet unter der "verkrampften Gutlaunigkeit" der diesjährigen "Worldwide Music Expo" Berlin, Willi Winkler erinnert an den Filmemacher Jean Eustache, der vor zwanzig Jahren starb. Und Susan Vahabzadeh gratuliert Charles "Il Brutto" Bronson zum 80.

Besprochen werden u.a. Thomas Arslans Film "Der schöne Tag", Josef Winklers "Tintentod" beim Grazer Steirischen Herbst, die Karlsruher Landesausstellung "Spätmittelalter am Oberrhein" und Bücher, darunter Oliver Maria Schmitts Buch über die Neue Frankfurter Schule ? in Wort und Strich und Bild (siehe auch unsere Bücherschau Sonntag ab 11).

Und in der Wochenendbeilage der SZ porträtiert Peter Münder Harry St. John Philby, der den USA das saudische Öl erschloss, Henning Klüver bilanziert die 49. Biennale in Venedig, Brigitte Rossbeck schreibt über die vor 100 Jahren ins Leben gerufene Wandervogel-Bewegung. Und Wolf Lepenies erinnert an den "Schriftsteller, Schaumschläger, Soldat und Politiker" Andre Malraux, der 1924 wegen Kunstraubs und Betrugs in Pnom Penh zu drei Jahren Kerker verurteilt wurde, nachdem er wertvolle Khmer-Reliefs aus den Tempeln nahe Angkor geklaut hatte ? alles mit einem Stipendium des Kolonialministeriums in Paris in der Tasche ?, und der später im spanischen Bürgerkrieg kämpfte, in maßgeschneiderter Uniform und Krawatte.

FR, 03.11.2001

Die FR hat heute morgen noch ihre gestrige Ausgabe im Netz. Darum hier nur eine sehr kurze Zusammenfassung:

Ursula März behauptet, dass sich Angela Merkel und Edmund Stoiber immer mehr ähneln. Stoiber werde nämlich immer weniger bissig und bayerisch, während Merkel nicht mehr mädchenhaft sei, sondern langsam in eine "bockige Maschinenhaftigkeit" hineinwachse.

Weitere Artikel: Sacha Verna erinnert an Andre Malraux, der vor 100 Jahren geboren wurde. Ulrike Brunotte widmet eine ganze Seite Hans Blüher und seiner Wandervogel-Bewegung. Und Klaus Siblewski gratuliert Ilse Aichinger zum Achtzigsten.

Besprochen werden die Kasper-König-Ausstellung im Kölner Museum Ludwig, der Film "Corellis Mandoline" und Bücher, darunter ein Band mit Beiträgen zur Philosophie Richard Rortys.

TAZ, 03.11.2001

In einem langen Interview auf den Tagesthemenseiten erklärt Navid Kermani den islamischen Fundamentalismus als antimoderne Bewegung, die selbst ein Produkt der Moderne ist: "Er verweist nicht auf das Mittelalter - dort gibt es auch keine direkten Vorläufer, auf die er sich berufen kann. Der Rückzug auf das Religiöse war eine Art Rückspiegelung der Wahrnehmung des Westens. Die Botschaft des Westens lautete damals: Ihr seid rückständig, weil ihr Muslime seid. Der Islamismus entsprang dem Umkehrschluss. Er sagte: Nicht der Islam ist verantwortlich für unsere Krise, sondern dass wir vergessen haben, ihn seiner Urform zu leben ... Insofern spielt da ein westlicher Diskurs, der die arabische Welt ausschließlich durch ihre Religion definiert, einem fundamentalistischen Diskurs, der ebenso verfährt, in die Hände." Kermani sieht im Fundamentalismus eine Form des Faschismus und verweist darauf, "dass Hannah Arendt zu den meistgelesenen und -übersetzten Autoren in Iran gehören: nicht, weil man in ihren Büchern etwas über Deutschland erfahren will, sondern weil man es auf den Iran übertragen kann." Ein eindrucksvolles Bekenntnis zu einer neuen Kultur des Erinnerns sieht Ira Mazzoni im neuen Dokumentationszentrum auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Anschaulicher als Gerhard Matzig in der SZ erklärt sie Günther Domenigs Eingriff in die "maßlose Überwältigungsarchitektur": "Die Aufklärungsarchitektur aus Stahl, Glas und lichtgrauem Beton bohrt sich durch die steinernen Massen, durchdringt wie ein klarer Gedanke die Materie, überbrückt Abgründe, quert Höfe und Hallen, führt an mächtige Marmorstürze heran, bietet Überblick über das Gesamtareal und wagt den Sprung ins ungewisse Jetzt. Dabei trumpft der Grazer Architekt nicht auf: Der schieren Monumentalität setzt er die leichte Form entgegen, dem mit grauem Granit ummantelten Ziegelmauerwerk begegnet er mit Minimalismus, die Diktatur des rechten Winkels bricht er mit Diagonalen."

Weitere Artikel: Rudolf Walther über die peinliche Niederlage der wissenschaftlich kostümierten Haffner-Kopfjäger Jürgen Paul und Henning Köhler, David Lauer berichtet von der "Welt der Enzyklopädie"-Releaseparty in Potsdam, Frithjof Hager verfasst einen Nachruf auf den Philosophen Dietmar Kamper.

Im tazmag zu lesen: ein Interview mit dem ehemaligen Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, Gerhart Riegner, der im Juli 1942 als Erster Belege für den geplanten Mord an den Juden Europas besaß, doch auf taube Ohren stieß. Georg Blume staunt, wie China und Vietnam mit einem sozialrevolutionären Kapitalismus die Armut und den Terrorismus kleinkriegen, Dirk Knipphals erklärt, warum es Schwule leichter haben. Und Judith Luig stellt fest: Wissen ist wieder gefragt. Das jedenfalls suggeriert eine ganze Industrie, mit Quizshows, Büchern, Spielen und Sites.

Und hier der Tom.