Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2001.

Zeit, 16.08.2001

Nun beginnt wieder die Entertainment-Messe Popkomm. Für die Zeit streiten sich, moderiert von Thomas Groß, Achim Bergmann vom Independent-Label Trikont und der Global Player Tim Renner von Vivendi-Universal, über den lamentablen Zustand der Musikindustrie. Bergmann wird gar nicht hingehen: "Die Popkomm ist eine Selbstdarstellungsorgie, die zunehmend von den Selbstdarstellungsratlosigkeiten der großen Firmen dominiert wird. Sie bauen Riesenstände auf, lassen die schönsten Mädchen rumlaufen, machen die lauteste Musik. Es bleibt aber der Eindruck von Leuten, die sich ängstlich vor einer Gewitterfront zusammenducken und dabei hoffen, dass das glamourös wird." Renner dagegen findet die Popkomm ganz toll: "Es geht um Kommunikation... Die Leute treffen sich dort und tauschen sich aus, die entweder ein kreatives Produkt miteinander herstellen oder darüber kommunizieren." Klingt spannend.

Micha Brumlik entwickelt in einem ganzseitigen Beitrag zur Gendebatte eine neomarxistische Rhetorik:" Die Meinungen, die die künftige Zweiklassenmedizin ebenso legitimieren wie die Profite des gentechnisch-industriellen Komplexes, erweisen sich am Ende nicht als Philosophie der Freiheit, sondern als botmäßiges Denken..."

Thomas E. Schmidt kommentiert in der Leitglosse das Selbstinterview, das Martin Walser im Spiegel veröffentlichte, nachdem er seinen Interviewer allzu frech fand: "'Das ist das schlechthin Furchtbare', meint der Gekränkte mit Augenzwinkern, 'dass man auch auf etwas reagiert, das keine Reaktion wert ist.' Wie Recht er hat."

Weitere Artikel: Wolfram Goertz hat beobachtet, wie der finnische Dirigent Jorma Panudas beim Schleswig-Holstein-Musikfestival dirigieren lehrte. Thomas Sparr schreibt über die Entdeckung, dass der Rabbiner Leo Baeck seine Schrift über die Rechtstellung der Juden 1942 für die Gestapo schrieb und lässt offen, ob dies nun den Vorwurf der Kollaboration rechtfertigt, den Hannah Arendt den Juden damals machte. Christof Siemes stellt in der Reihe "Richtung Europa" das Medienzentrum C3 in Ungarn vor.

Besprochen werden der Film "Die fabelhafte Welt der Amelie" ("Zum Abspann sagt man Uff!", schreibt Merten Worthmann), die Ausstellung "Das flache Land" in den Brandenburgischen Kunstsammlungen in Cottbus und Manu Chao auf Deutschlandtournee. Außerdem stellt Hanno Rauterberg einige Wohnbauten der Architekten B+K und BKK3 vor.

Aufmacher der Literaturbeilage ist Ursula März' Besprechung von Boris Pahors Erinnerungen an die deutschen Konzentrationslager (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Leben findet sich außerdem ein Porträt des irischen Autors Eoin Colfer, dessen "Artemis Fowl" bekanntlich als Konkurrent Harry Potters gehandelt wird.

TAZ, 16.08.2001

Im Interview mit Katja Nicodemus nimmt Jean-Pierre Jeunet zu den Vorwürfen Stellung, er habe in seinem Film "Amelie" ein ausländer- und homosexuellenfreies Kitsch-Paris geschaffen. " Die Nostalgie hat einen ganz bestimmten Grund. Ich habe nämlich 20 Monate in Los Angeles verbracht, um dort 'Alien 4' zu drehen. Wenn Sie die Stadt kennen, dann wissen Sie, dass es dort schön ist, weil der Himmel immer blau ist. Aber es ist eigentlich keine Stadt, sondern ein Ort, an dem man nie zu Fuß läuft, ein Ort, an dem es keine Kultur gibt und dessen Einwohner sich sehr merkwürdig verhalten. Als ich dort war, habe ich mich nach dem Paris gesehnt, dem ich als Jugendlicher begegnet bin. In meinem Kopf habe ich die Stadt völlig idealisiert. Und im Film ist dieses Paris ein völlig künstliches, dahingetrickstes, verwandeltes geworden. Wir haben die Plakate geändert und die Autos entfernt, die Hauswände gestrichen und ein Postkartenparis geschaffen, in dem Jacques Tati jeden Augenblick um die Ecke biegen könnte. Diese "Falschheit" war von Anfang an gewollt. Dass man mich nun als Faschisten bezeichnet, weil es in dieser künstlichen Stadt keine Pakistaner, keine Homosexuellen und keine Araber gibt, finde ich absurd."

Anke Leweke mag den Film: "Überzogen formuliert ist Amelie so etwas wie eine Heilige des modernen Lebens." Ferner stellt Christiane Kühl die Londoner Theatergruppe Primitive Science vor. Und Andreas Busche bespricht den Film "Get Carter".

Schließlich Tom.

FAZ, 16.08.2001

In der FAZ kommentiert Michael Krüger von Hanser höchstselbst den angekündigten Tod des Literarischen Quartetts und macht einen Vorschlag, der eine weitere Schlappe für Sat 1 bedeuten könnte: "Ich meine, Harald Schmidt sollte es aufgeben, irgendwelche unbegabten kichernden Sternchen zu befragen, und statt dessen ein 'Literarisches Cafe' aufmachen. Dort dürften dann auch Dichter verkehren, Essayisten, Historiker und andere Geistesmenschen - und selbstverständlch auch die Mitglieder des Literarischen Quartetts."

In einem nebenstehenden Artikel erzählt uns Jörg Thomann, dass Marcel Reich-Ranicki eine eigene Sendung bekommen soll - Arbeitstitel "Reich-Ranicki pur" - und dass uns statt des Literarischen ein Philosophisches Quartett mit Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski ins Haus steht.

Andreas Kilb gehört zu den seltenen Kritikern, die "Die fabelhafte Welt der Amelie" nicht mögen: "Jeunet hasst das Unperfekte, das naive Spiel mit dem Glauben an die Bilder. Deshalb wirkt sein Film bei aller Märchenhaftigkeit so abgebrüht, so traumlos virtuos."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube denkt über die Vorschläge des selbst gern mit Schwarzgeldern operierenden Politikers Roland Koch nach, wie man die Sozialhilfeempfänger zum Arbeiten bringen kann. Michael Jeismann ist nach Bosnien gereist und fand ein Land des "erkalteten Krieges". Eberhard Rathgeb erzählt von den Fortschritten bei der Sanierung des Badeorts Heiligendamm, der eine Sommerfrische für die Reichen und Schönen aus Berlin werden soll (die sich dann allerdings erst mal in Berlin ansiedeln müssten). Alexander Kuba erzählt die Geschichte des russischen Hackers Dmitry Sklyarov, der eine E-Book-Software von Adobe knackte und darum zum Präzedenzfall für den neuen "Digital Millennium Copyright Act" werden könnte, der das Knacken von Kopierschutzeinrichtungen verbietet.

Ferner versucht der jesuitische Philosoph Giovanni B. Sala folgenden Satz darzulegen: "Wenn die Menschenwürde absolut ist, hat sie keinen Grund in der Welt, sondern muss von Gott kommen", wobei wir ihn nicht stören wollen. Dirk Schümer porträtiert in seiner Venedig-Kolumne die beiden letzten Ruderlehrer fürs Gondelwesen. Andreas Platthaus berichtet über Kritik der Musiker des Buena Vista Social Club, dass sie an den Einnahmen aus dem Film nicht beteiligt worden sind (als hätte sie Wenders durch den Film nicht reich gemacht!) Der selbe Andreas Platthaus hält Rückblick auf den Bayer-Konzern, den letzten Mischkonzern unter Deutschlands Chemieriesen, der nun durch die Katastrophe um das Medikament Lipobay angschlagen ist.

Besprochen werden eine Austellung über Kathdralen in Reims, der Film "Get Carter" und eine Ausstellung des koreanischen Malers Lee Ufan im Kunstmuseum Bonn.

Auf der Bücher-und-Themen-Seite schreibt Ingeborg Harms über Wilhelm Raabe. Außerdem erfahren wir, dass Goethe den Franzosen bis heute nicht sympathisch ist.

FR, 16.08.2001

Ein bitteres Resümee der Lage in Israel zieht Natan Sznaider: "Jedes Treffen im Cafe kann das letzte sein, jede Fahrt zur Arbeit wird zum Abenteuer. Soll man rechts abbiegen, wenn plötzlich ein Bus im Rückfenster erscheint? Wo soll man sich mit Freunden und Kollegen treffen? Kann man die Kinder überhaupt noch auf einen Ausflug lassen? Tanzen gehen wird zum russischen Roulette. So wird der Terrorismus zum Terror und bestimmt den Alltag. Die normale Zivilgesellschaft bricht zusammen und der Terror, der gar nicht zuschlagen muss, sondern einfach nur in der Luft hängt, wird zur alltagsbeherrschenden Erfahrung. So haben es die palästinensischen Terroristen geschafft, den israelischen Alltag zu zerstören, wie es israelische Besatzung und arabische Politik es schafften, dass der palästinensische Alltag noch nicht anfing zu existieren."

Elke Buhr liefert die Fortsetzung des Hintergrunds zur Popkomm. Schuld an der Misere der Musikindustrie, "so meint die Branche, sind nicht die miesen Bands, sondern die 'Schulhofpiraterie': Die schlechte Angewohnheit junger Menschen, sich CDs nicht zu kaufen, sondern lieber vom Freund am heimischen PC brennen zu lassen. Insbesondere Hit-Compilations wie Bravo Hits oder Kuschel Rock werden in großen Mengen kopiert und über besagte Schulhöfen in die gierigen Märkte eingeschleust; insgesamt 133 Millionen CDs sollen im vergangenen Jahr mit Musik bespielt worden sein, an denen die Musikindustrie natürlich lieber ihren Umsatzwert von 3,3 Milliarden Mark verdient hätte."

Weitere Artikel: Marcia Pally liefert die zweite Folge ihrer "Flatiron Letters" ? es geht darum, dass amerikanische Krankenhäuser nur durch ausländische Patienten überleben, denn nur sie sind versichert und zahlen ihre Rechnungen! Helmut Höge erzählt Geschichten aus dem sorbischen Dorf Horno, das sich gegen den Braunkohleabbau wehrt. Hans Wolfgang Hoffmann setzt die Serie über den neuen Traditionalismus in der Architektur mit dem AXA-Haus am Berliner Gendarmenmarkt fort (warum stehen all diese Scheußlichkeiten eigentlich immer in Berlin?)

Besprechungen widmen sich den 4. Stockhausen-Kursen in Kürten, Porträts von Giacometti im Kunsthaus Apolda Avantgarde, Jean-Pierre Jeunets Film "Die fabelhafte Welt der Amelie" und Bücher, darunter Christian Osters Roman "Meine große Wohnung" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr)

NZZ, 16.08.2001

Einen interessanten Artikel über Musik im Internet - auch über die Möglichkeiten und Grenzen kleiner Labels im Netz - legt Peter Durtschi vor. Nebenbei erinnert er an ein Faktum, das den Großen der Industrie so oder so nicht schmecken wird: "Fest steht, dass die Musikindustrie nicht das arglose Opfer war, als das sie sich angesichts der Napster-Bedrohung gerne darstellt. Jahrelang diktierte sie die Bedingungen, zu denen Musik erhältlich war. Beispielsweise, indem wir eine ganze CD kaufen mussten und müssen, obwohl uns vielleicht nur drei Titel zusagen. Dieser Anachronismus - wer ersteht schon einen abgepackten Sack Pfirsiche mit prallen und faulen Früchten? - wird in Zeiten des internetbasierten Vertriebs der Vergangenheit angehören."

Weitere Artikel: Kurt Malisch schreibt zum 100. Geburtstag des Prinzregententheaters in München. Besprochen werden die Retrospektive des Architekten J. J. P. Oud in Rotterdam und einige Bücher, darunter Eduardo Piglias Roman "Brennender Zaster" und David Foster Wallace' "Kleines Mädchen mit komischen Haaren".

SZ, 16.08.2001

Skandal! Das Literarische Quartett wird zum Ende des Jahres eingestellt, nur weil Marcel Reich-Ranicki keine Lust mehr hat. Johannes Willms (der übrigens die Sendung erfand, bevor er zur SZ ging) findet, dass sich die Sendung überlebt hat: Das Geheimnis ihrer Langlebigkeit verdankte das Quartett seiner Meinung nach "vor allem dem Behauptungswillen des Prim-Geigers Marcel Reich-Ranicki, mit dessen Temperament und literarischer Leidenschaft diese Sendung von Anfang an stand und fiel." Aber ist das wirklich so? Mag ja sein, das MRR unnachahmlich ist, aber ist er unersetzlich? Sollten sich in dieser Republik nicht vier Leute finden lassen, die leidenschaftlich über Bücher diskutieren? Wir finden: Die Kulturwelt sollte den Sendeplatz für Bücher im Hauptprogramm der Volksmusiksender verdammt noch mal verteidigen!

Oliver Fuchs liefert den trüben Hintergrund zur diesjährigen Popkomm: "Speziell die deutsche Musikindustrie, die im Moment stark zum Personalabbau neigt, hat wenig Grund, in Köln allzu große Zuversicht zu demonstrieren. Der deutsche Musikmarkt, der drittgrößte weltweit, schrumpft jetzt schon im vierten Jahr. Umsatzeinbrüche zwischen 10 und 20 Prozent im ersten Halbjahr 2001 ? einen ähnlichen Absturz gab es zum letzten Mal vor zwei Jahrzehnten."

Harald Staun stellt in der Rubrik "Linksverkehr" unter anderem die Internetadresse Futurefeedforward vor, "die im nüchternen Ton zeitgenössischer Berichterstattung ihre 'Future News' veröffentlicht. 'Embryonale Stammzellen wählen Bush mit Rekordergebnis', lautet eine Schlagzeile der vergangenen Woche."

Weitere Artikel: Jost Kaiser macht sich Gedanken über die Frage, was Gerhard Schröder mit der "ruhigen Hand" meinen könnte. Cornelia Vismann setzt die Serie zum 50. Geburtstag von Adornos "Minima Moralia" fort.

Besprochen werden Inszenierungen von Luca Ronconi und Dario Fo beim Rossini-Festival von Pesaro, die Retrospektive des Barockmalers Luca Giordano im Wiener Kunsthistorischen Museum und Tschechows "Möwe", besetzt mit Hollywoodstars, auf der Bühne des Delacorte Theatre im New Yorker Central Park.

Auf der Filmseite bespricht Susan Vahabzadeh "Die fabelhafte Welt der Amelie" (auch ein Interview mit dem Regisseur Jean-Pierre Jeunet hat sie dazu geführt. Weitere Besprechungen widmen sich dem Film "Get Carter" mit Sylvester Stallone und der Retrospektive beim Filmfestival in Locarno.