Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.05.2001.

FR, 25.05.2001

Roderich Reifenrath (Chefredakteur der FR) beklagt die "politische Unterspülung des Parlamentarismus" und nimmt die vom Kanzler geschaffenen Gremien wie das Bündnis für Arbeit oder den Ethikrat als Beweis für seine These ? "Instanzen als vorgelagerte Gedankenschmiede für politische Entscheidungen, die durch keinen wie auch immer gearteten Volkswillen berufen sind".

Petra Kohse hat in Berlin Christoph Schlingensiefs "Hamlet"-Inszenierung gesehen und schildert, wie das Publikum auf die ehemaligen Nazis wartete, die da bekanntlich mitspielen: "Es dauert eine Weile bis sie kommen, eine Frau und sechs Männer, sie sagen nur wenige Sätze auf, schwenken Fahnen und sind schon wieder weg. Später aber machen sie Musik. Das melodramatische Geschrummel unter Schlingensiefs Klassikertheaterpersiflage weicht einem klaren Bumm-bumm-Rock. Das Mädchen ist an der Gitarre, der, der singt, muss Jürgen Drenhaus sein, Sänger der Skinheadband Body Checks. Den Text versteht man nicht, nur immer: 'Deutschland'."
Christian Schlüter warnt: "Im Zuge der Entwicklung auf dem Gebiet der Gentechnologie werden auf das Bundesverfassungsgericht schwerwiegende und weitreichende Entscheidungen zukommen. Das höchste Gericht ist wie keine andere Rechtsinstanz gefordert, zwischen Konsens und Kontinuität, Plausibilität und Objektivität der Rechtssprechung zu vermitteln."

Weitere Artikel: Franziska Meier hat eine Tagung der Hans-Seidel-Stiftung über Italien nach den Wahlen zugehört. Besprochen werden Andres Veiels Film "Black Box BRD", die New Art Gallery im britischen Walsall von Adam Caruso und Peter St John, eine Dramatisierung von Italo Svevos "Zeno Cosini" durch den südafrikanischen Künstler und Regisseur William Kentridge und die Handspring Puppet Company in Brüssel, Konstantin Weckers Musical "Schwejk it Easy" in Berlin, Joel Schumachers Film "Tigerland" und die Oper "Bacon 1561-1992" von Manuel Hidalgo in Schwetzingen.

TAZ, 25.05.2001

Cornelius Tittel porträtiert den Londoner Techno-DJ Matthew Herbert, der nicht nur sehr politisch ist, Noam Chomsky liest und die Globalisierung böse findet, sondern offensichtlich auch stilbildende Platten gemacht hat. "Doch nun scheint der Londoner zwei kleine, aber entscheidende Schritte zu weit gegangen zu sein. Nicht nur, dass er es gewagt hat, klassischen Musikunterricht zu nehmen, um dann - perfider Verrat - ein atemberaubend schönes Jazz-Album aufzunehmen. Nein, Herbert geht den ganzen Weg und kratzt am - seiner Meinung nach von Grund auf verfaulten - Fundament der Club Culture: dem Sampling bereits vorhandener Musik." Aber was bleibt denn dann?

Auch Volker Weidermann hat in Berlin Schlingensiefs Nazi-Aussteiger-"Hamlet" gesehen: "Es ist grotesk. Christoph Schlingensief hat sein Randgruppentheater direkt von Behinderten über Asylbewerber auf Nazis übertragen. Hamlet-Darsteller Sebastian Rudolph, der in taz-Kolumnen die Proben begleitet hatte, spricht immer wieder von 'Verstehen', von der Sehnsucht und der Einsamkeit der (Ex)-Nazis und wie nett diese Menschen eigentlich seien. Und dass sich die extreme Linke und die extreme Rechte am Ende beinahe gleichen würden."

Weitere Artikel: Frank Wengel porträtiert den Regisseur und Autor Armin Petras. Besprochen werden Alison Macleans Film "Jesus Son" und die neue Platte von Air.

Schließlich Tom.

NZZ, 25.05.2001

Ein wenig posthumen Klatsch über Hans Mayer erfährt man bei Martin Meyer. Er betrifft Marcel Reich-Ranicki, der in Mayers Memoiren nicht genannt wird, obwohl er offensichtlich ? als Rivale ? eine Rolle in seinem Leben spielte: "Hans Mayers Tod im Alter von 94 Jahren aber gab Reich-Ranicki die Gelegenheit zur letzten Replik. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom vergangenen Montag zeichnete der Übergangene ein lebensvolles und zugleich etwas grelles, ja boshaftes Porträt: Manches trifft ins Schwarze, anderes gleicht dem Spiegel, der die Strahlen zurückwirft. Dabei stößt der Leser auf eine eigentümliche Fehlleistung. Reich-Ranicki zitiert allerdings Hans Mayers Erinnerungen - doch mit dem Titel 'Ein Deutscher auf Abruf'. - Das klänge nun auch demjenigen absonderlich, der nicht von den Bänden gewusst hätte, und weiter bedeutet es ziemlich genau das Gegenteil von 'Ein Deutscher auf Widerruf'."

Weitere Artikel: Claudia Schwartz schreibt über die Finanzkrise in der Berliner Kulturpolitik ? die Zahlen, die sie nennt, 55 Millionen Mark für die Museumsinsel, klingen allerdings angesichts der allerneuesten Meldungen über ein Loch von vier Milliarden Mark bei der Berliner Bankgesellschaft ridikül. Uwe Justus Wenzel liefert Notizen zu einem Symposion über das menschliche Hirn im Collegium Helveticum. Alice Vollenweider schreibt zum 80. Geburtstag des italienischen Lyrikers Giorgio Orelli, von dem man auch ein Gedicht lesen darf.. Und Martin Ebel gratuliert dem deutschen Lyriker Manfred Peter Hein zum Siebzigsten. Besprochen werden Manuel Hidalgos Bacon-Spektakel in Schwetzingen und die Böcklin-Ausstellung zum 100. Todestag im Kunstmuseum Basel.

Interessant ein Artikel auf der Medienseite, in dem man erfährt, dass nicht nur die FAZ, sondern jetzt auch die NZZ eine Sonntagsausgabe plant ("die Werbewirtschaft investiert gerne in den Ruhetag"). Außerdem überlegen Focus und Spiegel, ihren Erscheinungstag vorzuverlegen.

SZ, 25.05.2001

Christine Dössel nimmt die in der Zeit aufgeworfene Debatte über die Autoren im Theater auf. Dort hatte die Verlegerin Ute Nyssen den Mangel an "Inhaltlichkeit" als Grund der Theaterkrise ausgemacht und die Regisseure beschuldigt die Autoren von den Futtertrögen fernzuhalten, um selbst für eigene Klassikerbearbeitungen Tantiemen einzustreichen. Dössel schreibt: "Wer den Regisseuren vorwirft, sie würden durch eigene Projekte und Eingriffe in Stücke gegen die Basis des Theaters arbeiten, gegen den Text, muss sich schon auch fragen, was Theater denn eigentlich ist. Eine Textverwahranstalt? Ein Dichtungs-Tempel? Hörsaal für szenische Lesungen? Oder nicht doch vielmehr eine eigenständige Kunstgattung, in der der Regisseur genauso Künstler sein darf wie der Autor und die Schauspieler; ein Ort, an dem Welt verhandelt, Gegenwart gesucht wird ? von Menschen, die uns ihren Blick auf Texte zeigen."

Dominik Graf, der Filmregisseur, denkt über die Filmmusik von Philippe Sarde für "Cesar und Romalie" von Claude Sautet und über Romy Schneider nach: "Ob Philippe Sarde an Romy Schneider dachte, als er diese Melodie komponierte? Keine andere Melodie der sehr vielen, sehr schönen Sarde-Melodien in Sautets Filmen scheint mir den Charakter des Gesichts dieser Frau eindrucksvoller zum Ausdruck zu bringen. Romy Schneiders Gesicht! Wenn sie ernst aussieht, dann verschleiert trotzdem eine große Milde das echte Dunkel in ihrer Biografie. Diese Sanftheit nahmen ihr die Frauenrechtlerinnen damals ja auch immer übel. Und wenn sie erst lacht!"

Michael Althen findet, dass sich der Fußball amerikanisiert, das heißt reduziert auf das "Duell Schütze gegen Torhüter, bei dem fallweise eine Mauer dazukommt. Entschied sich die deutsche Meisterschaft am Samstag noch durch einen einzigen Freistoß, so wurde nun der Sieger der Champions League durch insgesamt 17 Elfmeterduelle bestimmt."

Weitere Artikel: Martina Knoben interviewt Andreas Veiel zu seinen Dokumentarfilm über Alfred Herrhausen und Wolfgang Grams. Michael Skasa fragt, was nun "eigentlich dran und drin ist in Buchheims 'Museum der Phantasie'". Alexander Menden war dabei, als der Karlspreis an György Konrad vergeben wurde. Claus Koch denkt in seinen Noten und Notizen über "Big Brother" nach. Besprochen werden der Film "Heartbreakers", die Wittener Kammermusiktage und eine Alberto Giacometti-Retrospektive im Kunsthaus Zürich.

FAZ, 25.05.2001

Aufmacher des FAZ-Feuilletons ist ein bisher unbekanntes Foto von Rimbaud in Aden, das gerade in dem Bildband "Rinbaud a Aden" (Fayard) erschienen ist. Viel zu erkennen ist allerdings nicht. Fünf Männer stehen oder sitzen mit einem Gewehr auf der Treppe vor dem Palast in Sheikh Othman. Die Gesichter sind ziemlich dunkel. Rimbaud ist allerdings der einzige von den sechs, der es schafft, seinen weißen Anzug wie eine Sträflingskluft zu tragen.

Mark Siemons erklärt, warum seiner Ansicht nach der Begriff Menschenwürde politisch und nicht theologisch zu verstehen ist: "Das Minimum, das er verteidigt, ist, wenn man denn so will, in der Tat eine biologistische Kategorie: das pure Leben. Und ebenso ist das Kriterium für jene, die er unter seinen Schutz nimmt, ein biologisches: alle lebendigen Menschen, ungeachtet jeglicher theologischer, ethnischer, medizinischer oder sonstwie rationalistischer Einteilungen. Der politische Begriff der Menschenwürde zieht solchen kasuistischen Ein- und Ausgrenzungen und auch allen politischen Ambitionen seinerseits eine Grenze, indem er das biologische Wesen Mensch, die Gattung, zum Tabu erklärt."

Christian Poplutz berichtet von einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema "Wie christlich ist die CDU". Der Sozialphilosoph Günter Rohrmoser beklagte dort den fehlenden Mut der CDU, für Werte zu kämpfen: "Gerade auf den Feldern des Lebensrechts habe die CDU aber weder in den neunziger Jahren bei der Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts noch in der aktuellen Bioethikdebatte Kampfes- und Siegeswillen gezeigt."

Weitere Artikel: Christian Schwägerl beschreibt die Suche der CDU/CSU-Fraktion nach Experten für ihre eigene Bioethik-Kommission. Katja Gelinsky berichtet von einem umstrittenen Urteil in den USA, wonach Medienunternehmen ungestraft Privatgespräche von öffentlichem Interesse verbreiten dürfen, die Dritte rechtswidrig aufgezeichnet und dann Zeitungen oder Rundfunkanstalten zugespielt haben. Verena Lueken meldet, dass Material von alten Fernsehfilmen mit James Dean aufgetaucht sei, darunter eine Szene in der Dean als jugendlicher Straftäter droht, einen Doktor zu erschießen. Den Doktor spielt Ronald Reagan. Siegfried Stadler stellt den neuen Chef der Stiftung Weimar Klassik, Hellmut Seemann, vor, Birgit Schwarz erklärt, warum der sogenannte Linzer Katalog keine Grundlage für unsere Vorstellungen von Hitlers Führer-Kunstmuseum ist. Phil Plait, FAZ-Mann im All, erzählt von einer unheimlichen Explosion am Himmel, die der Mönch Gervase von Canterbury im 12. Jahrhundert aufgezeichnet hat. Arnold Bartetzky berichtet über eine Leipziger Tagung zur Baukunst der Zeitenwende im Osten Deutschlands. Und Frank Ebbinghaus erzählt anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikation wie sich die Zunft vor einer Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte während des Nationalsozialismus' fürchtet.

Besprochen werden die Ausstellung "From Girls to Grrrlz ? A History of American Women's Comics, from Teens to Zines" im Künstlerhaus in Stuttgart, ein Ballett der Jazz-Choreographin Jane Dudley in München, Alison Macleans Film "Jesus' Son", eine Ausstellung über zweitausend Jahre Sklaverei im Naturkundemuseum in Münster, eine Ausstellung über amerikanischen Volkskunst im Museum of Fine Arts in Boston, neue Sachbücher, darunter Peter Gülkes Beethovenstudie "...immer das Ganze vor Augen" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr) und Andreas Veiels Dokumentarfilm über Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen "Black Box BRD" ("Wie eine Gespensterbahn funktioniert der Film, und in der permanenten Furcht vor dem nächsten Grusel entsteht eine erhöhte Aufmerksamkeit, die jede Bewegung, jedes Detail mit Bedeutung füllen will", schreibt Andreas Platthaus, der zwei Jahre vor dem Attentat eine Lehre bei der Deutschen Bank abgeschlossen hatte.)

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite werden Aufnahmen von Mahlers "Lied der Erde" (mit Boulez und den Wiener Philharmonikern), Ermanno Wolf-Ferraris Oper "Sly" und eine CD der Jazzgitarristen Michael Sagmeister und Pat Martino vorgestellt.