Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2001.

NZZ, 23.05.2001

"Die nasale, ammoniakscharfe Stimme, der lakonische, unsentimentale Ton, der ungelenke und doch expressive Personalstil auf Gitarre und Mundharmonika" ? in der NZZ gedenkt Manfred Papst des großen Bob.

Zwiespältig beurteilt Joachim Güntner die von Kanzler Schröder geschaffene Institution eines Ethikrats: "Innerhalb des von der Institution 'Ethikrat' gestifteten Diskussionsrahmens ist der Austausch qualifizierter guter Gründe, ist eine Versachlichung der Auseinandersetzung durchaus möglich. Fraglich bleibt allerdings, ob wir anderen, die Gesellschaft der Laien, diese Versachlichung überhaupt wünschen. Was wird sie leisten? Bloss eine Verflüssigung unserer Hemmungen? Eine Ersetzung unserer grundlegenden moralischen Intuitionen durch Argumentegläubigkeit?"

Weitere Artikel: Christine Wolter hält Rückblick auf die Turiner Buchmesse. Timo John stellt die neue Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall vor (hier ein paar Bilder). Besprochen werden die "Pique Dame" in München und einige Bücher, darunter eine neue Caesar-Biografie von Luciano Canfora. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).
Stichwörter: München, Pique Dame, Gitarre, Ethikrat

FR, 23.05.2001

Ursula März sieht Bob Dylan aus Frauensicht ? kritisch: "Kaum ein Künstler des 20. Jahrhunderts wirkte so geschlechterseparierend wie Bob Dylan. Bei der Verehrung keines anderen hatten Männer so sehr das Bedürfnis nach Abgrenzung; heimlich überzeugt davon, dass Bob Dylan über alles Musikalische hinaus eine Botschaft bereithielt, die nur für sie bestimmt, deren Kern nur durch sie entschlüsselbar war und deren Berührung durch Frauen verhindert werden musste, da sie eine Beleidigung des Werks darstellte."

"Sollte der Himmel leer sein, tröstet uns der Fußball." Dieser Satz wäre nicht weiter bemerkenswert, hätte ihn nicht ein Pfarrer geschrieben. Er steht in einer "Hommage an die letzte Religion, eine Suada gegen ihre Kommerzialisierung und ein Gesang von ihrer Wiederauferstehung". Womit der Fußball gemeint ist. Der Autor ist Jochen Wagner, "Pfarrer und Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing".

Christian Schlüter vermisst ein Einschreiten des Kulturministers gegen die bioethischen Positionen seines Kanzlers. Denn "Schröder vertritt nicht einfach einen pragmatischen, technologiefreundlichen oder gar 'ideologiefreien' Standpunkt, sondern eine ethisch-moralische Position, die sein Kulturstaatsminister Julia Nida-Rümelin von seinem Selbstverständnis als Philosoph her zurückweisen müsste." Soll er kündigen?

Weitere Artikel: Christian Thomas stellt Günter Behnischs Bau für Lothar-Günther Buchheims Museum der Phantasie vor. Wladimir Kaminer liefert die 17. Folge seiner Notizen aus der Schönhauser Allee. Besprochen werden David Mirkins Film "Heartbreakers", Jackie Kennedys Kostüme im Metropolitan Museum of Art, Reinhard Febels Oper "Besuchszeit" und Artaud in Wien.

Zeit, 23.05.2001

Viel Theaterkrisendebatte heute in der Zeit, aber mit Karacho.

Die Verlegerin Ute Nyssen vom Theaterverlag Nyssen & Bansemer benennt das schwächste Glied im Machtgefüge unserer Regie- und Stadttheater: den Autor. "Die Misere, der Publikumsschwund, hat in der Vernachlässigung der Inhaltlichkeit des Theaters eine Hauptursache. Inhaltlichkeit aber wird zuallererst durch den Text vermittelt, und zwar für ein heutiges Publikum am besten durch einen heutigen Text." Dann erklärt Nyssen, warum die "heutigen Texte" nicht so recht Eingang finden in die Theater: Die Regisseure und Dramaturgen setzen lieber eigene Bearbeitungen oder Übersetzungen von Klassikern aufs Programm, um dafür Tantiemen einzustreichen. Schuld ist für Nyssen der Bruch zum Regiethater der 68er-Zeit. Der Regisseur setzte sich als neuer Machthaber fest: "Schnell bekam der Regisseur immer mehr Macht und Geld; Gagen von 100.000 Mark für eine Inszenierung waren keine Seltenheit... Der Autor mit dem neuen Stück war schnell in die Ecke gedrängt, denn nun wurde er zum Konkurrenten für den Regisseur." Hoch anrechnen muss man den Regisseuren bei all dem aber doch, dass sie stets gesellschaftkritisch blieben!

Auch Jens Jessen kommentiert die Theaterkrise und sieht im Riesenerfolg der "Faust"-Inszenierung im Nur-Text-Format durch Peter Stein eine Demonstration des Publikums: "für den Autor und gegen das Theater."

Auf die Theaterkrise kommen auch Merten Worthmann und Claus Spahn in einem sehr schönen Interview zu sprechen, das sie mit Patrice Chereau geführt haben. Der Regisseur, dessen Film "Intimacy" in Deutschland anläuft, erklärt, warum er keine Lust mehr hat, Theaterregie zu führen: "Die Situation in Fankreich jedenfalls gibt mir nicht sehr viele Gründe, noch mal Theater zu machen. Die Regisseure verlieren die Verbindung zum Publikum. Im Theater geht das sehr schnell. Im Kino ist das anders."

Thomas Groß charakterisiert zum 60. Geburtstag des Meisters Bob Dylan heute: "Niemals Talkshows besuchen, selten Interviews geben, dem Big Brother keinerlei Flanke bieten, stattdessen als leicht jesusmäßiges Enigma dahinwandeln, so könnte man das Dylansche Spätprogramm umreißen."
Bob Dylan widmen wir heute auch unseren Link des Tages.
Weitere Artikel: Merten Worthmann resümiert das Festival von Cannes (und nennt Godards "Eloge de l'amour" eine "intellektuelle Gerölllawine"). Gustav Seibt schreibt zum Tod von Hans Mayer. Und auch Fritz J. Raddatz macht sich zu diesem Anlass Gedanken. Ludger Lütkehaus hat bei Heidegger bedenkliche, die Euthanasie befürwortende Passagen gefunden. Hanno Rauterberg stellt Günter Behnischs Bau für Lothar-Günther Buchheims Museum am Starnberger See vor. Besprochen werden die Böcklin-Retrospektive im Kunstmuseum Basel und Klaus Michael Grübers Inszenierung von Koltes' "Roberto Zucco" in Wien.

Im Aufmacher des Literaturteils fragt Michael Lützeler: "Er hat den Rang von James Joyce und Robert Musil... Aber wer liest Herrmann Broch?" Besprochen werden neben dem Briefwechsel Brochs mit seiner Frau Annemarie Meier-Graefe u.a. Bücher über Miles Davis und Bob Dylan (siehe auch unsere Bücherschau der Woche heute ab 14 Uhr).

TAZ, 23.05.2001

Gerade aus Cannes zurück wartet Katja Nicodemus schon wieder mit einer großen Kritik auf. Sie bespricht Andreas Veiels Dokumentarfilm "Blackbox BRD" über den Bankier Alfred Herrhausen und den Terroristen Wolfgang Grams ? zwei deutsche Karrieren: "Obwohl 'Blackbox BRD' den Familien, Freunden und Mitstreitern von Grams und Herrhausen gleichberechtigt das Wort erteilt, hakt sich die Trauer von Traudl Herrhausen am stärksten im Gedächtnis fest. Vielleicht, weil der Schmerz in den Pausen liegt, im Zögern, mühsamen Durchringen und im Kampf mit der immer wieder wegbrechenden Stimme. Es ist die Haltung einer Frau, die gelernt hat, sich zusammenzureißen."

"Es geht nicht darum, Täter und Opfer gegenüberzustellen", sagt Veiel im Interview mit Dietrich Kuhlbrodt. "Das war von Anfang an genau nicht mein Interesse, zwei Linien aufeinander zulaufen zu lassen. Mich hat interessiert, was Wolfgang Grams dazu gebracht hat, im Gegensatz zu vielen aus meiner Altersgruppe - er ist sechs, sieben Jahre älter als ich -, anders zu denken, den Staat anders wahrzunehmen und noch 1984 in diesen Verein mit den drei Buchstaben einzutreten, der sich von den Jugendorganisationen der Kleintierzüchter oder der Kaninchenzüchter dadurch unterschieden hat, dass er Todesurteile fällte."

Besprochen wird außerdem Alfredo Jaars Ruanda-Installation im Badischen Kunstverein.

Das Dylan-Dossier befindet sich auf den Tagesthemen-Seiten. Matti Lieske präsentiert ein fiktives Interview mit Songzitaten. Falko Hennig hat ein reales Interview mit Liedermacher Manfred Maurenbrecher geführt, der Dylans Mut zur Peinlichkeit bewundert. Ferner gibt noch eine Dylan-Kurzgeschichte von Frank Goosen. Und Max Dax beschreibt wie Dylans heutige Konzerte (von denen er 140 im Jahr gibt) ablaufen.

Schließlich Tom.

FAZ, 23.05.2001

Bob Dylan wird definitiv sechzig ? auch die FAZ ruht sich einen Tag lang von der Bioethik aus und widmet Dylan eine Seite. Ihre Idee: Vier deutsche Dichter ? Benjamin Lebert, Raoul Schrott, Wolf Wondratschek und Hans-Magnuns Enzensberger ? übersetzen Songs von Dylan, Klassiker aus dem Jahr 65 wie "Highway 61 Revisited", "I and I" und "It's All Over Now Baby". An "All Along the Watchtower" und "Blowin' in the Wind" hat sich allerdings keiner herangewagt. Einer der Übersetzer hat sich übrigens beschwert, wie man im Vorspann zur Seite erfährt: "Dylan schreibt einfach schlampig. Er wischt über alles nur so drüber, und er vermischt Metaphern, als wär's alles eins. Das funktioniert in einem Lied, aber im Text?" Und im Deutschen?

Auch Jordan Mejias hat die Konjunktur des Zweiten Weltkriegs in den USA bemerkt und bespricht eine Anne-Frank-Verfilmung, die in diesen Tagen im US-Fernsehen läuft: "'Anne Frank' ist ein gut gemachter, gutaussehender Film konventionellen, nicht gar zu melodramatischen Zuschnitts, mit Schauspielern, die oft mehr als gut spielen. Die junge Hannah Taylor Gordon braucht nicht vier Stunden lang die heilige Anne zu geben, sondern darf auch ihre eitlen und aufmüpfigen Seiten zeigen. Das gibt der Ikone ihre menschliche Dimension zurück."

Oliver Elser hat den Leipziger Platz in Berlin besucht, der, direkt neben dem Potsdamer Platz, das alte Achteck des Platzes wiederherstellen wird. Die Bauten scheinen mit einer Ausnahme (für die die Kanzleramtsarchitekten Schultes und Frank verantwortlich zeichnen) absolut deprimierend zu sein: "gestalt gewordenes Scheitern", "eher Bunker denn Büro".

Ingeborg Harms denkt noch mal über die Defilees im März nach und trifft folgende Diagnose über den heutigen Zustand der Mode: "Zum Jahrhundertwechsel hat die Mode abermals einen Höchstgrad der Entfesselung erreicht, die nicht so sehr durch hemmungslosen Überfluss, als durch Orientierungslosigkeit charakterisiert ist. Die Modemacher scheinen sich der Überfälligkeit eines Richtungswechsels bewusst zu sein, denn die Frühlingsdefilees gestalteten sich als erbitterter Kampf zwischen dekadentem Laissez-faire und puritanischer Askese."

Weitere Artikel: Renate Schostak hat Lothar-Günther Buchheims Museum besucht und festgestellt, dass die Hälfte der Ausstellung "Exotica und Curiosa" zugestanden sind, darunter "Blätterbildern" seiner Frau, "deren Übergang zum Feierabendhobby, zur Kindergartenbastelei fließend ist". Gerd Roellecke fragt, wodurch der durch Schröder eingesetzte Bioethikrat eigentlich legitimiert ist. Joseph Croitoru schildert einen Streit um eine geplante Graböffnung in Jedwabne, mit der man die Opferzahl des polnischen Massakers von 1941 feststellen will.

Besprochen werden der Film "Die Hochzeitsgesellschaft", das Bremer Lyrikfestival, Manuel Hidalgos Oper "Bacon 1561 ? 1992" in Schwetzingen, ein Konzert von Lionel Richie, "Giant Empty" am Frankfurter Ballett, Tschaikowskys "Pique Dame" in München, eine Ausstellung des katalanischen Malers Ramon Casas in Madrid, ein dem Thema "Heimat" gewidmetes Theaterfestival in Leipzig und die Ausstellung "Lego Welt" im Spielzeugmuseum in Troisdorf.

SZ, 23.05.2001

Aufgemacht ist die erste Seite des Feuilletons mit einem dreißig Jahre alten Charlie-Brown-Cartoon: "Bob Dylan will be thirty years old this month", sagt Linus. "That's the most depressing thing I've ever heard", antwortet Charlie Brown.

Karl Bruckmaier aber verteidigt den späten Dylan: "Bob Dylans dreißigster Geburtstag war kein Anlass zur Trauer. Er war nur der Vorwand für eine nun drei weitere Jahrzehnte andauernde Hetzjagd auf einen Mann, dessen ebenso komplexes wie allgemein zugängliches Werk sich von der eigenen Jugendlichkeit emanzipierte. Wohl war die Zeit der sicheren Hits vorbei, die Zeit der ideologischen Gewissheiten und der Lagerfeuer-Kompatibilität ? genug, um einem Idol gram zu sein -, aber der spannende und keineswegs abgeschlossene Prozess der Mensch-Werdung eines Popstars begann erst."

Einen zweiten Artikel zu Dylan hat Lutz Hagestedt verfasst ? er betrachtet Dylan als Dichter und weist auf den Impuls hin, "der von diesem Lyriker an die deutsche Literatur weitergegeben ist".

Bernd Graff erinnert in der mit so hehren Prinzipien geführten Bioethik-Debatte an eine banale Tatsache: "Schon jetzt (entsteht) bei den Verfahren zur künstlichen Befruchtung, bei der In-vitro-Fertilisation, eine Überzahl von befruchteten Eizellen, die nicht in den Uterus eingepflanzt werden, die also derzeit noch unhinterfragt in irgendwelchen Labor-Ausgüssen entsorgt werden."

Weitere Artikel: Joachim Kaiser bespricht in den höchsten Tönen ein Konzert Alfred Brendels mit Beethovens Diabelli-Variationen. Andreas Bernard trauert in der Rubrik "Verblasste Mythen" dem "Spielball" nach (heute gibt es das nicht mehr: wird ein Fußball in die Tribüne geschossen, wird gleich ein Ersatzball ins Feld geworfen). Besprochen werden "Giant Empty" von Jon Jasperse am Frankfurter Schauspiel und einige CDs, unter anderem von Blumfeld, von Air, von "Vert" und von House-Musiker Herbert.