Heute in den Feuilletons

Kometen des Weltgeists

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2011. In der taz erzählt Nancy Kienholz von den bitteren Lektionen, die sie in Berlin erfahren hat. In der NZZ besingt Hans Pleschinski seine Stadt München. Die Welt erfährt aus dem Briefwechsel der Heisenbergs Neues über den Plutoniumforscher Carl Friedrich von Weizsäcker. Die New York Times besucht Haruki Murakami in Japan. Die SZ kann von der Wall Street melden: Selbst die Protestler legen hier zu. Außerdem verehren die Zeitungen heute alle den maßlosen Franz Liszt, der vor zweihundert Jahren geboren wurde.

TAZ, 22.10.2011

Anlässlich der großen Kienholz-Retrospektive in der Frankfurter Schirn unterhält sich Ulf Erdmann Ziegler mit Nancy Kienholz über die Arbeit mit ihrem Mann Ed Kienholz, das Künstlerkollektiv von Idaho und ihr Leben in Berlin: "Es war keine Kleinigkeit, der Umgang mit den Berlinern. Mein erster deutscher Satz lautete: 'Ich bin Erster.' Denn wenn man sich anstellte und nach vorn zehn Zentimeter Platz ließ, drängelte sich jemand rein! Es war echt grob, ich meine, die schoben einen vom Bürgersteig herunter - kein Witz. Mein Güte, wo ich aufgewachsen bin, in Kalifornien, da hatte man 'höflich" zu sein, den anderen 'zugewandt'. Die Berliner Lektion war: Wer zuerst kiebig wird, gewinnt. Ganz anders, wenn die Sonne herauskam, dann lächelten dich plötzlich dieselben Leute an, die dich den Tag zuvor noch bekämpft hatten."

Felix Dachsel weiß immer noch nicht, was die unpolitische Occupy-Bewegung eigentlich will und warum sie keine Forderungen erhebt: "Sie bleibt eine ewige Kundgebung. Occupy will in Ruhe zelten. Die Politik soll draußen bleiben. Aber so funktioniert das nicht."

Besprochen werden neue Alben der britischen Elektronikproduzenten Scuba und Rustie, Jeffrey Eugenides' Roman "Die Liebeshandlung", Umberto Ecos Roman "Der Friedhof in Prag" und Antje Strubels Roman "Sturz der Tage in die Nacht" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

NZZ, 22.10.2011

Literatur und Kunst ist zum 200. Geburtstag ganz Franz Liszt gewidmet. Nike Wagner diagnostiziert mangelnde Dankbarkeit für den großen Wagner-Förderer in der jetzt regierenden Fraktion des Clans: "Nicht einmal zur Feier seines 200. Geburtstages gibt es ein Festkonzert für Franz Liszt im Bayreuther Festspielhaus." Anselm Gerhard schreibt über Liszt und die Schweizer Alpen. Martin Meyer hört sich Liszt-Spieler an. Tatjana Rexroth folgt den Moskauer Spuren Liszts. Und Roland Moser zeigt sehr schön, wie Liszt in der Tondichtung "Orpheus" aus einem einzigen Ton die ganze Musik holt.

Hier bitte:



Fürs Feuilleton bringt Hans Pleschinski der Stadt München eine kleine Hommage dar: "Ich habe mich nie in München gelangweilt. Von Rainer Werner Fassbinder bis Hans Magnus Enzensberger, von Joseph Ratzinger bis zu den Kessler-Zwillingen lernte ich hier interessante Kometen des Weltgeists kennen." Und Philipp Blom erzählt in der Kolumne "When the Music's Over", wie ihm in Paris mal seine Geige gestohlen wurde.

Welt, 22.10.2011

Der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer bespricht für die Literarische Welt den Briefwechsel der Heisenbergs. Auffällig eine Passage über den in der Bundesrepublik einst als moralische Autorität angestaunten Carl Friedrich von Weizsäcker, "von dem inzwischen bekannt ist, wie dreist er die Nachwelt belogen hat. Weizsäcker hat uns vorgeschwindelt, in Deutschland habe man sich in den Kriegsjahren nur mit 'wärmeliefernden Maschinen' beschäftigt, während man inzwischen weiß, dass er mehrere Patente auf Plutoniumbomben erworben hat."

Außerdem in der Literarischen Welt: Fritz J. Raddatz liest Wilfried F. Schoellers Döblin-Biografie. Siggi Seuß unterhält sich mit dem Kinderbuchautor Sven Nordqvist. Auf zwei Seiten wird eine Erzählung Jonathan Franzens abgedruckt: "Ambitionen". Besprochen werden außerdem eine Heydrich-Biografie und ein Buch über den Küchengarten Ludwigs XIV.

Im Feuilleton fühlt sich Alan Posener durch den Tod Gaddafis an Shakespeare und Schiller erinnert. Uwe Schmitt konstatiert in der Leitglosse, dass es in den USA neuerdings möglich ist, Komödien über Krebs zu machen. Ekkehard Kern berichtet über die Münchner Medientage, wo offenbar verdrossene Stimmung herrschte. Manuel Brug hört sich neue Liszt-Platten an, darunter Leslie Howards pianistische Gesamteinspielung auf 99 CDs. Mara Delius geht mit dem Publizisten Richard David Precht essen. Und Marc Reichwein denkt in seiner Feuilletonkolumne über Architekturkritik nach.

Weitere Medien, 22.10.2011

Sam Anderson legt für die New York Times ein großes Haruki Murakami-Porträt vor. Dafür fuhr er zum ersten Mal nach Japan fahren und musste feststellen: "Japan - real, actual, visitable Japan - turned out to be intensely, inflexibly, unapologetically Japanese."

Aus den Blogs, 22.10.2011

Kenan Malik kommentiert in seinem Blog das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gegen die Patentierung von Forschungsergebnissen, die auf der Arbeit mit embryonalen Stammzellen beruhen: "Not only is it absurd to imagine that a barely-visible bundle of cells is a human being, but there is nothing new in creating and disposing of embryos. It happens routinely, for instance, in In Vitro Fertilization treatment - and medical researchers often obtain their stem cells from surplus IVF embryos. If it is acceptable to destroy embryos in creating life, why not in saving life too?"

FAZ, 22.10.2011

Im Feuilleton hält Valentin Frimmer die zur Buchmesse ringsum ausgewertete Pressemitteilung über eine Studie, die besagt, es gebe zwischen Papier- und eBook-Lektüre keinen nennenswerten qualitativen Unterschied, nach eingehender Beschäftigung für wissenschaftlich unlauter. In einer seitenlangen Reportage aus einer Fabrik für Polizeidrohnen wundert sich Fabian Granzeuer über das verdächtige Verhalten all derjenigen, die mit Drohnen zu tun haben. Patrick Bahners hat sich Martin Walsers Bearbeitung von Ludwig Tiecks "Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence" in Coburg angesehen. Im Kunstmarkt gibt es Vorschauen auf die Messen Liber Berlin und Karl & Faber (München), sowie Berichte von diversen Kunstmessen aus Paris, München und London.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von W. Eugene Smith im Martin-Gropius-Bau in Berlin und Bücher, darunter Julia Francks DDR-Roman "Rücken an Rücken" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Für Bilder und Zeiten ist Andreas Platthaus nach Paris gefahren und hat dort den zurückgezogen lebenden Zeichner Sempe auf ein sehr schönes, zweiseitiges Gespräch getroffen. Vorab gedruckt wird ein Auszug aus Mathias Döpfners neuem Buch "Die Freiheitsfalle", in dem die Begegnung mit dem Ex-Gulaggefangenen Nathan Scharansky in Jerusalem zu einer Reflexion über Freiheit und Freiheitsvergessenheit in Europa anregt. Eine ganze Seite lang unterhält sich Rüdiger Suchsland mit Madame Isabelle Huppert über deren Karriere. Eleonore Büning hört sich durch viele neue Liszt-Aufnahmen durch.

In der "Frankfurter Anthologie" lässt ein Gedicht von Theoder Kramer Peter Härtling an Schuberts "Winterreise" denken:

"Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe
und fürs Bittre bin ich da;
schlag, ihr Leute, nicht die Harfe,
spiel die Ziehharmonika.
..."

SZ, 22.10.2011

Im Feuilleton schwärmt Jörg Häntzschel von der Occupy-Bewegung, von der er sich aber nicht ganz sicher ist, ob er sie jetzt in der Tradition der Protestbewegungen verorten soll oder nicht: "Avantgardisten wie Guy Debord und seine Situationistische Internationale, für die Leben Kunst war und Kunst Politik, würden jubeln, sähen sie diesen nun schon einen Monat lang dauernden Potlatch (so der Titel ihrer Zeitschrift), zu dem Boten ständig neue Pizzas und Pastrami-Sandwiches liefern, die irgendwer in San Francisco per Kreditkarte bestellt hat ('Ich bin zwölf Tage hier und habe schon fünf Pfund zugelegt', meint der arbeitslose Müllmann Ellis Roberts)."

Reinhard J. Brembeck würdigt den vor 200 Jahren geborenen Franz Liszt als den Komponisten, der einfach immer zu viel wollte: "Was Liszt aber so gar nicht beherrschte, war die Kunst der Selbstbeschränkung, die sonst alle Komponisten pflegten, sogar seine geradezu wahnwitzig selbstbesessenen Freunde Berlioz und Wagner. Liszt dagegen war völlig maßlos und ließ deshalb auch in seiner Musik nichts aus."

Weiteres: Marian Brehmer unterhält sich mit dem iranischen Sänger Mohammed Reza Shajarian, der gerade auf Tournee durch Europa reist. Catrin Lorch berichtet von der Pariser Kunstmesse Fiac. Einer "reifen Leistung" hat Harald Eggebrecht beim Liszt- und Beethoven-Konzert von Florian Uhlig beigewohnt. Enttäuscht ging Peter Laudenbach von Stephan Kimmigs "Trauer muss Elektra tragen" am Deutschen Theater Berlin nach Hause. Dirk Wagner unterhält sich mit Peter Murphy, dem ehemaligen Frontman von Bauhaus, über dessen neues Album "Ninth".

Besprochen werden unter anderem auch eine Ausstellung über "Das Tier und der Mensch" ausgerechnet in Schweinfurt, das Pfaffenhofener Island-Festival, eine Ausstellung mit Arbeiten von David Bennett in Passau, das neue Coldplay-Album und Bücher, darunter Jeffrey Eugenides' "Die Liebeshandlung" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende ist Petra Steinberger nach einer Begegnung auf der Buchmesse ganz angetan von der afghanischen Politikerin Fausia Kufi, die für das Präsidentschaftsamt kandidieren will. Schon 1650 wurde die Wall Street besetzt, erzählt Marc Beise in einem Überblick über die Geschichte der Straße. Und Dirk Peitz unterhält sich mit Noel Gallagher über Größenwahn beziehungsweise über Gallaghers genügsamen Lebenswandel: "Ich mache mir eigentlich nicht so viel aus Besitz. Ich habe ein schönes Haus, ich habe schöne Gitarren, ich schicke meine Kinder auf unsittlich teure Privatschulen, aber das ist es eigentlich auch schon." Dazu sein aktuelles Video: