Heute in den Feuilletons

Sinnlose Gründe

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2011. Laut Spiegel Online entschuldigt sich Tom Segev bei Günter Grass für eine falsche Zahl in seinem Haaretz-Interview, die auch Segev nicht erkannte und korrigierte. In Slate fragt Anne Applebaum zehn Jahre nach dem 11. September: War der Aufstieg Chinas und Russlands der Preis für den Krieg gegen den Terror? In der Welt wehrt sich der britische Kolumnist Charles Moore gegen die Umarmung Frank Schirrmachers. Die SZ bringt einen Vortrag Elias Khourys, der die Rolle der Islamisten in den demokratisierten Ländern Arabiens nicht so dramatisch sieht.

Spiegel Online, 05.09.2011

Tom Segev entschuldigt sich laut Stefan Kuzmany im Spiegel bei Günter Grass dafür, dass er ihm eine falsche Zahl in seinem Haaretz-Interview nicht korrigiert hat. Grass hatte dort behauptet, sechs Millionen deutsche Kriegsgefangene seien "liquidiert" worden - in Wahrheit sind in der Sowjetunion eine Million Kriegsgefangene gestorben. Segev sagt: "Er hat eben eine falsche Zahl genannt. Hätte ich es bemerkt, hätte ich ihn darauf hingewiesen, dann hätte er sich sofort korrigiert. Dieser Irrtum ist vollkommen unwesentlich für den Charakter des Gesprächs. Ich glaube, dass man ihm Unrecht tut, wenn man ihm dieses Versehen nun vorwirft."

TAZ, 05.09.2011

Einen buddistischen "Mut zur Stille" erlebte Regine Müller bei Luk Percevals Gladbecker "Macbeth"-Inszenierung bei der Ruhrtriennale. Maik Schlüter findet in Daniel Richters Schau "10001nacht" in der Kestnergesellschaft in Hannover sehr schlüssig belegt, "dass Exotismus und Rassismus, Klischee und Unkenntnis Hand in Hand gehen". Cristina Nord, die aus Venedig über eine Begegnung mit Chantal Akerman berichtet, sollte die taz heute ignorieren. Laut einer Umfrage auf taz.de finden nämlich nur 11 Prozent der Leser Filmfestivals "interessant und lesen die Kritiken".

Und Tom.

NZZ, 05.09.2011

Mitten im Nirgendwo liegt das verborgene Machtzentrum der USA. Der deutsche Schriftsteller Gregor Hens lebt seit mehreren Jahren im "Heartland" in Ohio und weiß, dass der Mittlere Westen unterschätzt wird - kulturell wie politisch: "As Ohio goes, so goes the nation, heißt es, besonders schmerzlich hat dies Al Gore im Jahr 2000 erfahren. Hätte er seine Wahlkämpfer nicht vor der Entscheidung aus Ohio abgezogen, wäre der Welt das unsägliche Gerangel um die Stimmzettel in Florida wohl erspart geblieben. Denn seit Kennedy hat niemand mehr die Präsidentschaft gewonnen, der Ohio nicht in seiner Siegkolumne führen konnte."

Weitere Artikel: Monika Carbe erinnert an die Ankunft türkischer "Gastarbeiter" vor 50 Jahren. Susanne Ostwald berichtet von den Filmfestspielen in Venedig. Besprochen wird ein Zürcher Ballettabend mit Choreopgrafien von William Forsythe, George Balanchine, Jiri Kylian und einem neuen Werk von Heinz Spoerli.

Aus den Blogs, 05.09.2011

In Slate bilanziert die Historikerin Anne Applebaum recht ernüchtert den Krieg gegen den Terror: Zwar sei al Qaida zerschlagen, verpasst haben die USA aber unter anderem Chinas Aufstieg und Russlands Wandlung in eine feindselige Nation: "Let me repeat: The U-turn that American foreign policy made after Sept. 11 was not a failure. But under President Bush, we narrowed our horizons, stopped thinking in broader strategic terms, and paid little attention to future competitors and even less attention to our own domestic weaknesses. President Obama, dealt a bad hand from the beginning, hasn't had the energy, the resources, or the willpower to do much better. Ten years after the events, I now find myself asking: Could it be that the planes that hit New York and Washington did less damage to the nation than the cascade of bad decisions that followed?"

Open Culture hat eine Reihe mit den besten Beatles-Coverversionen der Muppet Show zusammengestellt. Hier "Blackbird":

Welt, 05.09.2011

Im Interview mit Thomas Kielinger bestreitet der britische Kolumnist Charles Moore, der neulich von Frank Schirrmacher in einem viel beachteten Artikel zitiert wurde, dass er unter die Linken gegangen sei. Vielmehr wolle er Tendenzen des Marktes mit einem Argument Adam Smiths kritisieren: "Er prägte den berühmten Satz: Keine zwei oder drei Menschen aus dem gleichen Gewerbe treffen je zusammen es sei denn, um gegen die Öffentlichkeit zu konspirieren. So trachtet beispielsweise jemand, der Silber verkauft, danach, den Silber-Markt zu monopolisieren. Und so hat auch das Bankgewerbe, das dazu da ist, an Einzelpersonen, an Unternehmen und an Regierungen Geld zu leihen, ein System entwickelt, die Banker selber gewaltig zu bereichern." Hier Moores Artikel, der die ganze Debatte auslöste und hier ein zweiter Artikel, in dem Moore nuanciert.

Weitere Artikel: Manuel Brug kann den Umzug der einst so prächtigen und mächtigen Deutschen Grammophon in die "pampaähnliche Investitionsprojektbrache Mediaspree" nur noch mit Sarkasmus begrüßten. Kai Luehrs-Kaiser gratuliert den King's Singers zum Vierzigsten.

Hier bringen sie sich selbst ein Ständchen:



Besprochen wird Luk Percevals "Macbeth"-Inszenierung bei der Ruhrtriennale.

FR/Berliner, 05.09.2011

Schnell, einfallsreich und komisch fand Frauke Hartmann die Inszenierung des Tankred-Dorst-Stücks "Merlin" durch den 27-jährigen Antu Romero Nunes am Hamburger Thalia Theater: "Der Merlin von Jörg Pohl wird immer jünger, bis er in Jeans und T-Shirt da steht und sagt: 'Ich bin Künstler, was kann ich dafür?' ... Die Artusrunde hingegen tritt gar nicht erst auf. Schon beim Versuch, die Tafel dafür bauen zu lassen, scheitert Artus in einer hanebüchenen Slapstickszene. Daniel Lommatzsch als Lancelot wird wie ein Popstar aus dem Publikum geholt, seinen Ehebruch mit der leicht unterkühlten Königin von Franziska Hartmann zeigt Nunes als kleine Performance."

Missgelaut berichtet Patrick Heidmann von einem Auftritt Lars von Triers, der im Berliner Arsenal Kino keine kritischen Fragen fürchten musste: "Als irgendwann dann doch noch jemand wagt, die Skandal-umwitterten Nazi-Aussagen aus Cannes anzusprechen, übertönen die gellenden Buhrufe fast von Triers bereits hinlänglich bekannte Rechtfertigung. In Berlin, so viel steht nach diesem Abend fest, ist er eben alles andere als eine persona non grata."

Weitere Artikel: Spannender als die neuen Filme von Al Pacino, Steven Soderbergh und Marjane Satrapi am Lido fand Anke Westphal Christian Marclays 24-Stunden-Montage "The Clock" auf der Kunstbiennale im Arsenale. Jens Balzer erinnert daran, dass vor fünfzig Jahren das erste Perry-Rhodan-Heft erschien, momentan steht die Reihe bei Band Nummer 2.611 (in Mannheim tagt ab 30. September die Perry Rhodan Weltcon 2011).

Besprochen werden Luk Percevals "Macbeth"-Inszenierung in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck, zwei neue Bücher zu Stuttgart 21 und Bürgerbeteiligung: Roland Roths "Bürgermacht" und Claus Leggewies "Mut statt Wut" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 05.09.2011

Die Ereignisse am 11. Februar 2011 in Ägypten waren eine Antwort auf den 11. September 2001 in New York, erklärt der Schriftsteller Elias Khoury in einem Vortrag für das Projekt "10 Jahre 9/11" im Berliner Haus der Kulturen der Welt. Damit ende ein Jahrzehnt der Missverständnisse, deren Ursachen für Khoury im übrigen ausgemachte Sache sind: Es seien dies zum einen die "Angst vor dem Islam", zum anderen die Furcht Israels vor Veränderungen in der arabischen Welt. Ansonsten viel Gelassenheit: "Islamistische Kräfte werden bei jedem demokratischen Wandel Teil der politischen Landschaft sein, aber das bedeutet nicht notwendigerweise, dass der Fundamentalismus siegen wird." Wenigstens ein Trost!

Mit der Meinungsfreiheit im Netz scheint es in Ägypten derzeit nicht weit her zu sein: Alex Rühle stellt den Fall des kritischen (und nicht israelfeindlichen!) ägyptischen Bloggers Maikel Nabil Sanad vor, der sich gerade im Hungerstreik befindet. Dem war seine Verhaftung am 28. März und eine alles andere als faire Verurteilung im Mai vorausgegangen (mehr dazu hier und hier). Pikant sind die Rahmenbedingungen: "Maikel Nabil Sanad bloggt bereits seit 2005. Das heißt, er konnte mehrere Jahre lang unter Mubarak kritische Dinge im Netz äußern. Die Militärregierung, die ja angeblich den Weg freimachen möchte für demokratische Wahlen, hat ihn wenige Wochen nach ihrer Machtübernahme zu drei Jahren Haft verurteilt."

Weitere Artikel: Niklas Hofmann berichtet über "Understanding 9/11", ein Projekt des Internet Archive, das den Onlinezugriff auf über 3000 Stunden archivierte TV-Berichterstattung vom 11. September ermöglicht. Tobias Kniebe hat bei den 68. Filmfestspielen Venedig neue Filme von Michael Glawogger, Steven Soderbergh, Yorgos Lanthimos und Marjane Satrapi gesehen. Ehrfürchtig hält Burkhard Müller im Berliner Museum für Kommunikation vor den dort gerade für drei Wochen versammelten seltensten Briefmarken der Welt Andacht. Michael Frank berichtet vom Stand der Dinge beim Vorhaben, in Bozen die größte Baustelle Europas zum Zwecke der "völligen Neugestaltung des kolossalen Bozener Bahnhofs-Areals" nach den Entwürfen von Boris Podrecca entstehen zu lassen.

Besprochen werden eine Aufführung von Rossinis "Kleiner Messe" durch die Theatergruppe Nico & The Navigators, Aufführungen von "The Day Before the Last Day" von Yael Ronen an der Schaubühne Berlin, "Merlin" von Tankred Dorst (mehr) und "Macbeth" in der Inszenierung von Luk Perceval (mehr) im Thalia Theater Hamburg, zahlreiche neue DVDs, sowie Bücher, darunter "Die Kultur der Ambiguität" von Thomas Bauer, eine Kulturgeschichte des Islam bis zum 19. Jahrhundert, die laut Stefan Weidner das Zeug zum "kulturwissenschaftlichen Klassiker" hat (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 05.09.2011

Eine äußerst fröhliche Einweihungsparty für das Musiikkitalo, das neue Konzerthaus in Helsinki, erlebte Jan Brachmann. Erst gab's ein Konzert, dann Freichampagner für alle. "Und hinterher wurde im ganzen Haus getanzt. Sakari Oramo, Chefdirigent des Finnischen Radio-Sinfonieorchesters, fiel beim Schlussapplaus im Konzertsaal zunächst dem japanischen Akustiker Yasushia Toyota und dann dem Architekten Marko Kivistö stürmisch um den Hals. Ja, der Saal klingt! Das war nämlich die größte Sorge aller. Denn in der vierzig Jahre alten Finlandia-Halle von Alvar Aalto klang jede Musik wie in einen Bootsrumpf geröhrt."

Weitere Artikel: Hubert Spiegel beobachtete Geert Wilders' Auftritt im Berliner Wahkampf - nicht gegen den Islam, sondern gegen "Europa" richteten sich seine Invektiven, und Spiegel notiert eine enge Überschneidung zwischen Wilders' und Breiviks Weltbild. Allerlei Freudianisches sieht Dietmar Dath in Venedig. Joachim Willeitner sieht das bedeutendste archäologische Museum Libyens in Gefahr, falls Diktator Gaddafi tatsächlich in Bani aufgespürt werden sollte, wo das Museum liegt. Joseph Croitoru glossiert Tom Segevs Entschuldigung für die Wellen, die Grass' falsche Zahlen im Interview schlugen. Werner Spies berichtet von der Wiedereröffnung des Musee Courbet in Ornans. In seiner "Klarer Denken"-Kolumne erklärt Rolf Dobelli, dass "sinnlose Gründe" oft gut genug sind.

Besprochen werden eine Inszenierung von Tankred Dorsts "Merlin" im Hamburger Thalia-Theater, Luk Percevals "Macbeth"-Inszenierung bei der Ruhrtriennale, und Bücher, darunter Peter Bieris Untersuchung zur Frage "Wie wollen wir leben?" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).